Epilog

Das Unfallkrankenhaus von Sundvall im Norden Schwedens war offenbar gut gerüstet für Katastrophen jeder Art. In diesen Tagen kämpften die Ärzte auf der Intensivstation um das Leben dreier Menschen. Bei zweien von ihnen waren sie inzwischen optimistisch. Die eine war eine Frau, die im Eis eingebrochen war, auf einem zugefrorenen Fluss. Mit Herzstillstand und schwersten Erfrierungen war sie in die Klinik gekommen, inzwischen schien klar zu sein: Sie würde mehrere Zehen verlieren, aber sie würde leben. Der andere Schwerkranke hatte einen Autounfall gehabt, doppelter Schädelbruch, sein Zustand verbesserte sich von Tag zu Tag. Luca Tretjak erfuhr das, während er im Pflegerzimmer wartete und sich den grünen Schutzkittel überzog. Er nahm die kleinste Größe, aber der Kittel war noch viel zu groß. Er sah sein Spiegelbild in den Glasscheiben, aber nur kurz, dann blickte er weg.
Der dritte Patient machte den Ärzten nach wie vor Sorgen. Der Deutsche mit dem slawisch klingenden Namen. Gabriel Tretjak hatte ebenfalls schwere Erfrierungen, aber schlimmer waren die Schussverletzungen. Er war dazu in schlechter Gesamtverfassung, wirkte schwach, als hätte er vor einiger Zeit eine schwerere Krankheit überstanden. Sie hatten ihn in ein künstliches Koma versetzt. Vor zwei Nächten hatte es ausgesehen, als würde er sterben, er hatte eine Art Kreislaufkollaps erlitten. Sein Herz hatte für einen Moment nicht mehr gewollt. Doch dann hatte es wieder angepackt. »Seine Überlebenschancen liegen bei 50 Prozent, höchstens«, hatte der diensthabende Arzt bei der morgendlichen Lagebesprechung gesagt.
Fünfzig Prozent. Immerhin.
Die Intensivstation ist ein besonderer Ort, der alles auf ein Entweder-oder reduziert, dachte Luca Tretjak. Man lebt, oder man stirbt. Angehörige bangen, oder sie bangen nicht. Freunde sind ehrlich oder falsch. Man spricht, oder man schweigt. Ärzte gewinnen ihren Kampf, oder sie verlieren ihn. Früher waren Intensivstationen abgeschlossene Orte, niemand sollte die Arbeit der Ärzte stören. Bei Gabriels Mutter war das noch so gewesen, Gabriel hatte sie nicht besuchen dürfen, als sie eine Hirnblutung gehabt hatte. Inzwischen hatten sich die Mediziner von dieser Idee verabschiedet. Es hatte sich herausgestellt, dass Besuche von Nahestehenden den Patienten guttaten. Oft verbesserten sich ihre Werte während deren Anwesenheit. Auch Menschen ohne Bewusstsein, im Koma, bekamen sehr wohl mit, wer da vor ihrem Bett stand.
 
Der Besucher, der an diesem Morgen am Bett 05 saß, als Luca Tretjak kam, war Joseph Lichtinger. Gabriels alter Weggefährte, sein Freund, dachte Luca Tretjak, als er ihn dort sitzen sah. Aber er dachte auch: Immer noch Freund, wirklicher Freund? Von Lichtinger hatte Senne die Informationen über Gabriel bekommen, von ihm hatte Senne auch die Informationen über ihn, den Bruder, bekommen.
In der Intensivstation der Unfallklinik Sundvall waren die Wände ab einer Höhe von einem Meter über dem Boden aus Glas. Türen gab es keine. Ärzte und Pfleger konnten von überall die Kurven und Leuchten der Messgeräte sehen. Luca Tretjak wartete stehend an der Schwelle zum Bereich des Bettes 05, neben einem Regal mit Flaschen. Er sah Gabriels Bett, das weiße Kopfkissen, den weißen Bettbezug. Er sah die Schläuche, die piepsenden Maschinen, er hörte das Schnaufen der künstlichen Beatmung. Es brauchte Phantasie, sich vorzustellen, dass der Mensch, von dem nur ein Haarschopf zu sehen war, einen hörte. Lichtinger hatte offenbar diese Phantasie. Er sprach. Betete er für Gabriel? Als er sich einmal umdrehte, begegneten sich ihre Blicke, und Lichtinger stand auf.
»Gabriel, du musst wieder gesund werden. Verstehst du mich? Ich bin in großer Not, ich brauche dich«, hörte Luca Tretjak ihn sagen. Dann standen sie sich kurz gegenüber. »Nur er kann mir helfen«, war alles, was Lichtinger sagte. Und Luca Tretjak war mit seinem Bruder allein.
In seinem Namen war Gabriel in die Falle gegangen, sein Name war benutzt worden, um ihn zu vernichten. Sophia Welterlin hatte ihm die Geschichte auf den Anrufbeantworter gesprochen. Senne hatte es vor seinem Tod eingefädelt, den Brief geschrieben, den Mörder bestellt. Und er hatte auch schon vorher Lucas Telefonnummer in seine wahnsinnige Aufführung eingebaut.
Sophia. Großartige Sophia. Luca Tretjak würde nicht so weit gehen, dass er ihr vertraute, aber lieben, ja, das ohne Zweifel, immer noch, immer wieder. Aber nach Sundvall war er nicht wegen ihr gekommen. Nein. Das hätte keinen Sinn ergeben.
Luca Tretjak stand am Bett seines Bruders und nahm seine Hand, drückte sie ganz fest, lange, sehr lange. Am Ende waren es Stunden. Er wollte etwas von seiner Kraft an den Bruder abgeben, und er wusste, es war nicht wenig, was er da zu geben hatte. Er wollte nicht, dass sein Bruder jetzt starb. So sollte ihre Geschichte nicht enden. So nicht.
Die Stunde des Reglers: Thriller
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