Montag, 9. Oktober
(t0 minus 53)
Gabriel Tretjak wachte ein paar Minuten vor acht Uhr auf, und es hatte funktioniert, wieder einmal; es funktionierte in den letzten Tagen immer öfter. Sein erster Gedanke war: das Meer. Eigentlich war es kein Gedanke, sondern ein Bild im Kopf, aber es war eben doch auch ein Gedanke. Meer bedeutete für ihn, dass man aufbrach, irgendwohin, dass man losfuhr. Sie hatten es in der Therapie besprochen, Therapeut Stefan Treysa und Patient Gabriel Tretjak. Er wollte den Morgen mit etwas Zukunft beginnen. Man musste sich vor dem Einschlafen auf das Meer konzentrieren. Versuchen, egal, was man dachte, das Meer gedanklich darüberzulegen. Und wenn man nachts zwischendrin aufwachte – und Tretjak wachte oft auf –, immer wieder an das Meer denken, blau oder grau, ruhig oder stürmisch, wie man es haben wollte. Immer dieses Bild gegen die anderen Bilder, die ihn monatelang verfolgt hatten, meist der tote Vater. Meer gegen Vater. Irgendwann hatte das Meer gewonnen.
Sein Therapeut hatte gesagt, das Bild könne auch etwas anderes sein, zum Beispiel toller, wilder Sex. Doch sie waren rasch übereingekommen, dass dies angesichts seiner letzten Beziehung keine gute Idee war. Lieber das Meer.
Tretjak ging in Unterhose und T-Shirt nach oben in die Küche und kochte sich einen Kaffee. Er spürte ein Gefühl, das er schon lange Zeit nicht mehr kannte. Er fühlte sich wohl. Klar, er musste immer damit rechnen, wieder in die Dunkelheit gezerrt zu werden, Stefan Treysa hatte das oft genug betont: »Da taucht man nicht so mir nichts, dir nichts auf, aus solchen Seelenkrisen, auch du nicht.« Aber immerhin, jetzt gerade war es anders. Es mochte am Meer liegen oder an der Therapie. Das schöne Wetter konnte es nicht sein, das war nun schon seit Wochen so, und der See hatte genauso blau ausgesehen, wenn er in verheerender Verfassung auf ihn herabgeblickt hatte. Tretjak hatte den Verdacht, dass es vor allem mit dieser Frau Welterlin zu tun hatte, mit ihrer merkwürdigen Geschichte. Die Frau war ihm sympathisch, aber vor allem hatte ihn ihr Besuch in eine andere Welt bugsiert. Da wollte jemand, dass er ihm half. Da wollte jemand, dass er die Wirklichkeit veränderte. Diese Frau wollte, dass er sich ihres Lebens annahm, in ihre Wirklichkeit eindrang. In ihre Wirklichkeit. Nicht in seine. Dieser Unterschied gefiel ihm außerordentlich.
›Ja, du bist der Regler. Gut.‹ So sprach sein Therapeut immer mit ihm. ›Du hast das Leben anderer Leute geregelt, indem du die Kontrolle über ihre Wirklichkeit übernommen hast. Aber du musst begreifen, dass es jetzt ausschließlich um dein Leben geht, und da ist die Sache ein bisschen komplizierter. Und du musst begreifen: Dein Leben ist aus den Fugen geraten.‹
»Ja, du bist der Regler«, hatte sein Therapeut Treysa in einer der letzten Sitzungen gesagt. »Warum also regelst du nicht deine Vergangenheit? Warum gehst du nicht zurück und übernimmst die Kontrolle? Warum hast du gerade davor so große Angst?«
Tretjak trank seine Tasse aus. Er schmeckte den Kaffee. Klang kitschig, aber dieser Geschmack kam ihm wie ein Geschenk vor. Er war sich nach wie vor nicht sicher, ob Treysa recht hatte. Zurück in die Vergangenheit? Musste ein Raketenkonstrukteur wissen, wie die allererste Rakete konstruiert worden war? Oder sollte sich dieser Mann nicht besser mit neuartigen Antriebsmethoden befassen? Kostete der Blick zurück nicht viel zu viel Kraft?
Die Geschichte der Frau Professor. Früher hatte für ihn jeder neue Fall den Blick nach vorne bedeutet. Hinter ihm war nur eine Mauer gewesen. Da gab es nichts mehr zu sehen. Nur die Aufforderung weiterzugehen. Diese Mauer, die ihm so viel Kraft gegeben hatte. Für einen Augenblick spürte er sie wieder.
Die Kirche unten im Dorf schlug neunmal stark und einmal leicht. Es war halb zehn. Auf dem Stück Wiese unter dem Küchenfenster sah Tretjak etwas funkeln, das gestern dort noch nicht gefunkelt hatte. Ein Gegenstand lag dort im Gras. Tretjak musste zwei Steintreppen außen am Haus zur Ebene hinabsteigen, um diesen Teil des Grundstücks zu erreichen. Hier unten waren das Fenster seines Schlafzimmers und der Eingang zu einem kleinen Kriechkeller, der allerlei Gerätschaften beherbergte, eine Häckselmaschine zum Beispiel, einen Maronenofen. Hatte sein Vater Kastanien geröstet? Eine komische Vorstellung, fand Tretjak.
Der funkelnde Gegenstand war eine größere Zange aus Chrom, ein sogenannter Seitenschneider, mit dem man starken Draht durchtrennen konnte. Tretjak entdeckte, dass der Draht, der seinen Schlafzimmerfensterladen von innen arretierte, durchgeschnitten worden war, offensichtlich durch die Ritzen der Holzlatten hindurch. Der Laden schwang auf, als er ihn anfasste, und zeigte deutliche Abschürfungen. Außerdem war in den Maschenzaun, der das Grundstück hier hinter der Hecke begrenzte, ein großes Loch geschnitten. So viel stand fest: Hier war letzte Nacht jemand gewesen – während er vom Meer geträumt hatte. Hatte dieser Jemand ihm dabei zugesehen? Warum hatte er die Zange liegen gelassen? War er gestört worden?
Es gab hier oben viele Tiere, Rehe, Hirsche, Dachse, Füchse, Schlangen. Am frechsten – und wahrscheinlich am gefährlichsten – waren die Wildschweine. Nachts gehörte das Grundstück ihnen, das sah man jeden Morgen an den Spuren, die bis unter die Veranda führten. Hatte ein Wildschwein den nächtlichen Besucher vertrieben? Oder hatte er nur festgestellt, dass hier nichts zu holen war, und aus Frust auch gleich seine Zange liegen gelassen? Tretjak überlegte, ob er die Polizei verständigen sollte. Doch dann sah er sich im Nachbarort Luino im Polizeirevier stehen und später einen Beamten den Berg hinaufschnaufen … Noch nie in seinem Leben hatte sich Tretjak von der Polizei Hilfe versprochen. Er würde lieber heute Nacht etwas weniger aufs Meer hinausschauen und stattdessen das Fenster im Auge behalten.
Tretjak kam gerade aus der Dusche, als sein Handy brummte. Die SMS stammte von Luigi, dem Wirt der Pizzeria unten am See. Luigi war nicht immer Wirt gewesen, und inwieweit er heute noch etwas anderes war, wusste Tretjak nicht. Luigi hatte immer schon ein Doppelleben geführt. Luigi war ein Mann für alle Fälle. Er hatte für die Polizei gearbeitet, für andere staatliche Behörden. Für die Mafia und für ganz andere auch. Man wusste in solchen Dingen oft nicht, wer wer war. Tretjak hatte Luigi mal einen Gefallen getan. Und Luigi hatte sich revanchiert. Tretjak mochte Luigi, und er war sich ziemlich sicher, das galt auch umgekehrt.
Luigi schrieb: Komm mal vorbei. Könnte dringend sein.
Dringend? Tretjak schrieb: Könnte gleich kommen. Okay?
Luigi antwortete: Okay.
Es war kurz vor elf Uhr, als Tretjak das Ristorante »Pescatore« betrat. Eine Kellnerin deckte auf der Terrasse mit weißer Tischwäsche ein. Luigi war mit dem Pizzaofen beschäftigt. Es sah so aus, als würde er ihn allmählich fürs Mittagsgeschäft auf Touren bringen.
Luigi war ein wortkarger Mann. Es war ihm vielleicht einfach zu anstrengend, dauernd auf Worte achten zu müssen. Da sagte er lieber gar nichts. Und inzwischen hatte er es gewissermaßen verlernt, das Reden. Tretjak begrüßte er mit einem Nicken, verschwand kurz und kam wieder mit einem Kuvert und einer englischen Zeitung.
»Das kam heute mit einem Kurier. Ohne Schreiben«, sagte Luigi.
Die Zeitung war aufgeschlagen, die mit Rotstift markierte Überschrift lautete: Mister Big ist tot. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Tretjak den wirklichen Namen las. Der Mann, der »einem tragischen Unglücksfall zum Opfer gefallen war«, wie geschrieben stand, hieß wie er selbst: Gabriel Tretjak. Er schaute sich das Foto des Toten an und sah sofort wieder den Mann vor sich, diesen riesigen Kerl, der ihm damals in einer Anwaltskanzlei gegenübergesessen hatte. Wie viele Jahre war das her?
Luigi sagte nichts weiter. Er stellte keine Fragen. Auch nicht die aus seiner Sicht entscheidende Frage, warum ausgerechnet ihm dieser Artikel geschickt worden war. Wer wusste denn überhaupt, dass sie sich kannten, er und Tretjak?
Gabriel Tretjak sagte, er würde in ein paar Tagen wieder vorbeischauen. Dann verließ er das Lokal. Er ging vor zur Straße, links runter zum Supermarkt. Er kaufte Brot, zwei Flaschen Milch. Beim Zeitungsladen nahm er ein paar deutsche Zeitungen mit.
Fass die Vergangenheit nicht an. Ironie des Schicksals, dass sich der Fall im Kernforschungszentrum um diesen Satz drehte. Tretjak fragte sich, ob Unfalltote in Europa in einer gemeinsamen Datei abgespeichert wurden. Er fragte sich, ob Rainer Gritz auch von dem Tretjak in Penzance in Cornwall erfahren würde. Geburtstag diesmal der 15. August übrigens. Und er fragte sich auf dem steilen Eselsweg nach oben, ob es Zufall sein konnte, dass die beiden Männer in derselben Woche ums Leben gekommen waren. Wenn nicht, musste er anfangen, sich Gedanken zu machen.
Als er oben angekommen war und auf der Veranda stand, tippte er eine SMS in sein Telefon. Sie ging an Sophia Welterlin und lautete: Gern regle ich Ihre Angelegenheit. Tretjak. Und dann stellte er sich noch eine letzte Frage: Konnte es sein, dass man Depressionen loswurde, wenn man einfach keine Zeit für sie erübrigte?