Teil 4
Die Stunde des Reglers
1
Fragen
Er gefiel ihm sehr, mit dieser Frauenstimme zu sprechen. Seine Identität hatte sich aufgelöst, es gab ihn praktisch gar nicht mehr. Passt gut, dachte er, das glauben sowieso alle.
Einige Texte hatte er schon vorher aufgenommen, sie existierten jetzt als kleine Dateien, er sah sie auf dem Laptop vor sich, jede hatte eine Überschrift. Er musste nur draufklicken – und schon begann die Frauenstimme zu sprechen. Der Ton wurde mit einer recht altertümlichen Gegensprechanlage in den anderen Raum übertragen.
Er hatte sich Mühe gegeben mit den Texten, auf manche war er fast ein bisschen stolz. »Muttersöhnchen« zum Beispiel, den würde er Tretjak heute ganz bestimmt vorspielen.
Er konnte aber auch direkt mit ihm sprechen. Dann klickte er »Live« an und sprach in das Mikrophon des Laptops. In diesem Fall kam die Frauenstimme mit einer kleinen Verzögerung. Er hatte das geübt und beherrschte es inzwischen so perfekt, dass beim Übertragen so gut wie nie Fehler passierten. Wichtig war, dass man das Ende eines Satzes deutlich markierte, indem man durch die Betonung quasi einen Punkt machte. Oder ein Fragezeichen, je nachdem.
Der Schreibtisch, an dem er saß, stand in einer Art Besprechungsraum. Drei Stuhlreihen, kleine Schreibpulte an den Lehnen. Whiteboards an den Wänden. Alles war von einer feinen Staubschicht bedeckt. Nur den Schreibtisch hatte er abgewischt und den großen alten Bildschirm, der mit einem schweren Stahlgelenk an der Wand angebracht war. Er hatte den Raum komplett abgedunkelt, alle Rollos waren unten, nur die kleine Schreibtischlampe brannte. Womit sollte er anfangen? Er fuhr mit der Maus über die Dateien, schließlich klickte er eine an und hörte die überaus zuvorkommende Stimme, die seine Worte aussprach.
»Sie helfen einer karrieregeilen Frau, die ihren Professor in den Selbstmord getrieben hat. Sie organisieren, dass das schmutzigste Geld der Welt von seinen widerlichen Besitzern ins Ausland geschafft wird. Sie haben die Existenz Ihres eigenen Vaters vernichtet und Ihren Bruder verstoßen. Die Frau, mit der Sie ins Bett gehen, haben Sie auf intrigante Weise missbraucht. Und wohin hat Sie das gebracht, Herr Tretjak?«
Er drückte die Pausetaste. Weil er wusste, dass Tretjak jetzt Angst vor einem Stromstoß hatte. Wir Menschen sind kleine, armselige, ängstliche Kreaturen, dachte er.
»Es hat Sie zum ersten Mal in eine Situation gebracht, die Sie wirklich verdienen«, diktierte er ins Mikrophon.
Er konnte Tretjak relativ gut sehen auf dem alten Bildschirm. Der Untersuchungsraum, in dem er auf dem Gynäkologenstuhl festgeschnallt war, hatte ursprünglich offenbar zu Unterrichtszwecken gedient. Deshalb war in der oberen Ecke eine Videokamera angebracht, früher sicher ultramodern, heute ein lächerliches Gerät, riesig und schwer. Aber es funktionierte. Das Bild war zwar nur schwarzweiß, aber ziemlich scharf.
»Also, Herr Tretjak: Möchten Sie etwas ändern an Ihrer Biographie? Wie hätten Sie es denn gern? Sollen wir zum Beispiel Ihren Bruder herbringen, damit Sie mit ihm reden? Oder sollen wir ihn ganz ausschalten? Sollen wir Ihnen einen Neuanfang organisieren, anderer Name, andere Welt? Ließe sich doch alles regeln, nicht wahr?«
Er machte eine Pause. Dann schickte er einen Stromstoß durch die Leitung, einen ziemlich starken. Er sah, wie Tretjak zuckte und sich krümmte.
»Eine Antwort, bitte.«
»Ja, lässt sich regeln.«
Die armselige Kreatur Mensch.
In dieser leeren Klinik hier war alles vorhanden gewesen, was er gebraucht hatte. In den Schränken hatten sich noch komplette OP-Bestecke, Verbandszeug und diverse Medikamente gefunden. Es war, als wäre die Klinik über Nacht verlassen worden. Nur die Sache mit den Stromstößen, die hatten ihm zwei Serben installiert, die damit Erfahrung hatten. Er dachte kurz an die Freundin des einen Kattenberg, die hier auch ein paar Tage hatte verbringen dürfen, ehe man sie mit dem zusammen in dem kleinen Flugzeug angezündet hatte. Auch sie hatte erfahren, dass das Ding, das er vor sich auf dem Schreibtisch stehen hatte, gut funktionierte. Es war ein primitiv zusammengeschraubter Holzkasten mit zwei Steuerknöpfen. Der eine ein vormaliger Lichtschalter zum Aus- und Einschalten des Stroms, das andere der Drehknopf eines Radios, der jetzt die Stromstärke bestimmte.
»Wenn Sie Geld investieren sollten in einen Wert, der kein materieller ist, welcher wäre das dann? Treue? Liebe? Nein, nein, natürlich nicht. Skrupellosigkeit, Unmoral – das bringt die größte Rendite, immer und überall, nicht wahr? Wer wüsste das besser als Sie?«
Wieder eine Pause. Er sah, dass Tretjak seine Muskeln anspannte. Aber diesmal ließ er den Stromkasten unberührt, stattdessen öffnete er ein kleines Pillenschächtelchen. Und während er weitersprach, entnahm er ihm sechs kleine Pillen von blassgrüner Farbe.
»Die Unmoralischen«, sagte er, »die kommen immer davon. Und wenn nicht? Auch nicht schlimm. Die alten Massenmörder werden nach Den Haag gebracht, dort sitzen sie an ihrem Lebensende in einer warmen Zelle. Das Essen wird gebracht, die Ärzte sind sehr gut. In normalen Altenheimen ist es nicht so schön.« Er reihte die sechs kleinen Pillen vor sich auf dem Schreibtisch auf.
Dann schaltete er die Sprechanlage aus. Er war müde. Jetzt am Ende war er nur noch müde.