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Die Telefonnummer
Es war der Schmerz, der ihn zu seinem Arzt getrieben hatte, zu Bruno Delgado, der mehr ein Freund als ein Doktor für ihn war. Ein Schmerz, der eine eigene Dimension hatte, den er mit nichts vergleichen konnte, was ihm vorher an Schmerzen begegnet war. Es musste um die Mittagszeit gewesen sein, er war wohl schon eine Stunde wach gewesen, als der Schmerz gekommen war. An den Armen hatte es angefangen, war zu den Beinen hinuntergezogen, wieder hoch, dann war es überall. Ein paar Sekunden nur, dann war es vorbei. Aber es hatte ausgereicht, dass er am Boden lag, gekrümmt. Es hatte sich angefühlt, als wäre heißes Öl durch seinen Körper gelaufen.
»Wie heißes Öl?«, fragte Delgado. »Klingt nicht gut. Du siehst schlecht aus, noch schlechter als sonst.« Normalerweise hätte er gelacht nach einem solchen Satz, doch diesmal sagte er: »Wir nehmen dir Blut ab, dann gehst du einen Stock tiefer zum Röntgen, und wir machen noch ein EKG. Dann setz dich in ein Café, und in zwei Stunden bist du wieder hier, und wir schauen uns zusammen die Ergebnisse an.«
Die kleine Privatklinik lag im Stadtteil Palermo Soho, einer der angesagtesten Gegenden von Buenos Aires. Er kannte die Straßen um die Plaza Serrano wie kein anderer, er kannte jeden Club, jedes Hinterzimmer, jede Sauerei, die hier veranstaltet wurde, und hier wurden verdammt viele Sauereien veranstaltet. Er liebte den Zustand, berauscht, betäubt, bewusstlos durch die Nacht zu ziehen, durch die Nächte, und sich am nächsten Morgen nur an wenige Bilder erinnern zu können. Diesmal tauchte die kleine Blonde vor ihm auf. War sie dreizehn gewesen? Eher jünger.
Er setzte sich in ein Café, erster Stock, mit Blick auf den kleinen Platz, der tagsüber so friedlich aussah. Die Sonne schien. Er bestellte ein Wasser und trank es nicht. Er konnte gar nichts zu sich nehmen. Vorhin auf der Treppe hatte er gedacht: Der Schmerz kommt wieder, es geht wieder los. Die Hand war heiß geworden, doch dann war es gleich wieder vorbei gewesen. Gott sei Dank. Das hatte er tatsächlich gedacht: Gott sei Dank. Wobei Gott für ihn nun wirklich keine relevante Dimension darstellte. Auf was man nicht alles kam, wenn man die Not spürte.
Als er wieder ins Vorzimmer von Bruno Delgado kam, sagte die Sprechstundenhilfe: »Herr Tretjak, Sie können gleich reingehen, der Doktor wartet schon auf Sie!«
Delgado saß hinter seinem Schreibtisch, er setzte sich ihm gegenüber. Er mochte Delgado vor allem deswegen, weil er der einzige Arzt war, den er kannte, der viel trank, viel rauchte und alle Drogen der Welt nahm, immer mit dem Zusatz: »Ich bin Arzt, ich kann das. Man braucht nur das richtige Gegenmittel, und dafür bin ich Arzt geworden.« Delgado redete viel, eigentlich ununterbrochen. Diesmal schwieg er.
»Komm, sag was. Wie ist die Lage?«, fragte der Mann, der hier Tretjak hieß.
»Die Lage ist sehr schlecht. Mehr als das: Sie könnte nicht schlechter sei. Gabriel, ich habe wirklich überlegt, wie ich dir das sagen soll.«
»Was willst du mir sagen?«
»Du wirst sterben. Und zwar unfassbar schnell. Du wirst sterben. Wahrscheinlich heute noch. Gabriel, du lebst nur noch ein paar Stunden.«
Wie bitte? Was hörte er da? Sterben? Er? Er hatte das Gefühl, sich in einen Zuschauer zu verwandeln. So war das also, wenn einem jemand sagte, du stirbst. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Ich. Ich. Wirklich ich. Kein anderer. Dann fragte er: »Was ist das denn für eine Krankheit?«
»Du hast keine Krankheit. Du bist vergiftet worden. Dramatisch vergiftet. Ich schätze vor zehn Stunden etwa, mitten in der Nacht also.«
»Vergiftet?«
»Ich vermute, du hast eine Kapsel geschluckt, in der die andere, die Giftkapsel, drin war. Erinnerst du dich an irgendwas?«
»Bruno, du kennst mich. Gestern war ’ne harte Nacht. Ich habe im Lauf der Stunden bestimmt zehn Pillen eingeworfen. Ich erinnere mich doch nicht mehr an jede einzelne.«
Delgado stand auf. »Das ist kein Partygift, das hier ist nicht zufällig passiert. Du hast ein Höllengift bekommen, ein militärisches Kampfgift. An solches Zeug kommt kein Drogendealer ran. Du weißt, ich habe mich mit so etwas viel beschäftigt. Mit dem Zeug werden Leute gefoltert, bis sie es nicht mehr aushalten und alles verraten. Dafür reichen schon Spuren von diesem Gift aus, und du hast eine Überdosis bekommen. Das ist ein Mordanschlag.«
»Was ist da drin in dem Gift?«, fragte Tretjak.
»Ich verstehe nicht: Was meinst du?«
»Ist das ’ne Art Säure?«
»Ja. Das trifft es ziemlich genau.«
»Ich habe heute Morgen eine SMS bekommen, ich habe sie null verstanden.« Er zog das Handy aus seiner Jeans und gab es dem Arzt. »Da, schau mal.«
Die SMS lautete: Lieber Herr Katt. Das ist die Formel Ihrer Säure. Klingt ganz harmlos, oder? Es folgte eine Kette chemischer Zeichen und Zahlen. Und am Ende stand: Schönen Tag.
Delgado schüttelte nur den Kopf: »Wer macht so was?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Was soll das mit dem Herrn Katt?«
»Erzähl ich dir vielleicht ein anderes Mal. In Wirklichkeit bin ich … O Mann«, er wischte mit den Händen über sein Gesicht. »Wie geht es jetzt weiter, Bruno?«
Delgado setzte sich wieder hin. Er legte einen Revolver auf den Tisch. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, als Freund: Erschieß dich. Und zwar bald. Du hast noch zwei, drei Stunden, dann gehen die Schmerzen richtig los. Wir können kaum was dagegen tun. Morphium zum Beispiel würde die Wirkung der Säure noch verstärken. Nach deinen Blutwerten zu schließen, haben deine Leber und Niere bereits aufgehört zu arbeiten. Du hast nach der Lage gefragt. So ist die Lage.«
Der Mann stand auf, ging zur Tür, den Revolver hatte er eingesteckt.
»Hast du jemanden, den du anrufen kannst?«, fragte Delgado.
Er zuckte mit den Achseln.
»Du kannst auch hierbleiben«, sagte Delgado, »das weißt du.«
Als er auf der Plaza Serrano stand, schossen die Gedanken durch seinen Kopf. Herr Katt. Herr von Kattenberg, sein alter Name. Peter von Kattenberg. Wie lange er diesen Namen nicht mehr an sich herangelassen hatte. Es hatte ihm immer gute Laune gemacht, dass er in Wahrheit sechs Jahre jünger war als in seiner neuen Existenz in Argentinien. Er hatte einen Joker, hatte er immer gedacht. Sechs Jahre Joker. Und jetzt?
Hast du jemanden, den du anrufen kannst? Familie? Fehlanzeige. Lebten seine Eltern noch? Er wusste es nicht. Auch egal. Das war eine Bedingung gewesen: keine Nachrichten aus dem alten Leben. Der Regler hatte die Bedingungen formuliert. Er nannte ihn so, den Regler, schon wegen der Namen, damit man nicht durcheinanderkam. Seine Ansage war gewesen: Dein altes Leben gibt es nicht mehr. Wenn du im neuen Leben ein Problem hast, melde dich, das lösen wir. Er nahm sein Handy in die Hand, rief die Nummer von Mario auf. Mario war der kleine Regler in Buenos Aires. Er hatte ihn oft angerufen.
»Hier ist Gabriel.«
»Mann, wo bist du? Wir suchen dich wie verrückt.«
Er schilderte ihm in wenigen Sätzen die Lage. Schweigen am Ende der Verbindung. »Wir müssen uns treffen«, sagte er schließlich zu Mario, »sofort.«
Er ging in das Café zurück, nahm aber dieses Mal gleich an der Tür Platz. Er bestellte eine Flasche Wasser und einen Kaffee.
Die Kellnerin fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Ja, ja«, sagte er, »alles in Ordnung.«
Seine Hände begannen wieder heiß zu werden.
Gibt es jemanden, den du anrufen kannst? Marcella fiel ihm ein. Marcella. Vielleicht die einzige Frau, die ihm jemals wirklich etwas bedeutet hatte, vielleicht der einzige Mensch überhaupt. Ein Theater hatten sie zusammen gründen wollen, große Pläne hatten sie gehabt. Letztlich hatte ihre Liebe nur ein paar Monate gedauert. Eines Morgens, kurz nach dem Aufwachen, hatte sie Schluss mit ihm gemacht. Einfach so. ›Wir passen einfach nicht zusammen‹, hatte sie gesagt. ›Gabriel, lebe du dein Leben, und ich lebe meins, tschüs.‹ Sie hatte wahrscheinlich nie verstanden, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Das kleine Theater hatte sie dann allein eröffnet. Er war nie dort gewesen, hatte sich nie wieder bei ihr gemeldet. Man konnte nicht gerade sagen, dass er ein großer Kämpfer war.
Er hatte noch rund eineinhalb Millionen amerikanische Dollar auf der Bank. Vier Millionen waren es mal gewesen. Marcella sollte das Geld erhalten, alles. Alleinerbin Marcella, die Frau mit dem schönsten Busen der Welt. Mal sehen, dachte er, wie sie wohl damit klarkommen wird, reich zu sein.
Kurz nachdem sich Mario an den Tisch gesetzt hatte, versuchte er, den Regler auf dem Handy zu erreichen. Vergeblich. Kopfschüttelnd steckte er das Telefon weg. In diesem Augenblick kamen die Schmerzen wieder, und der Mann, der sich auch Tretjak nannte, brach schreiend zusammen. Es herrschte große Aufregung, der Notarzt wurde gerufen, Tische wurden zusammengestellt, damit man ihn hinlegen konnte. Als er sich auf den Tischen wieder zusammenkrümmte, kam die zweite SMS auf sein Handy: Lieber Herr Katt. Rufen Sie doch mal diese Nummer an: 00 31 – 64 05 45 89. Es wird Sie überraschen. Schönen Tag noch.
Es war das Letzte, was Peter von Kattenberg in seinem Leben tat: Er las die SMS und gab Mario das Handy. Dann blickte er zur Seite und sah, dass der Notarzt einen gelblichen Fleck auf seinem Kittel hatte. Ekelhaft.