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Marzipan
Jetzt kam der zweite Termin an diesem Vormittag. Der erste vor knapp zwei Stunden war brutal gewesen, zu viel für ihn, viel zu viel. Doch auf eine merkwürdige Weise fühlte er sich fast erleichtert, nach dem Motto: Jetzt kann mich gar nichts mehr erschüttern. Wovor soll ich jetzt noch Angst haben? Er hatte in seinem Leben und besonders in den letzten Wochen eines gelernt: Angst war eine Größe, die zunächst immer weiter wuchs, aber irgendwann war sie nicht mehr steigerbar. Angst war eine Größe, die sich erschöpfen konnte.
August Maler betrat das Polizeipräsidium in der Münchner Ettstraße im Schatten der Frauenkirche. Er musste die Pförtner nicht einmal anschauen, damit sie die Sicherheitstür öffneten. Die Männer in der blauen Uniform hatten die Erscheinung des Kommissars nicht vergessen. 14 Monate war er nicht mehr hier gewesen. Früher hatte er immer die Treppe genommen, zu seinem Büro im zweiten Stock, jetzt fuhr er Aufzug. Es war niemand auf dem Gang, er brauchte niemanden zu grüßen, niemandem etwas zu antworten, niemandem etwas zu erklären. Er klopfte kurz an der Tür seines alten Büros und trat ein. Als seine alte Sekretärin Marianne Gebauer ihn sah, brach sie in Tränen aus. »August«, schluchzte sie. Sie hatte gewusst, dass er kam, und sich bestimmt vorgenommen, auf keinen Fall zu weinen. Aber natürlich war Maler klar gewesen, dass sie weinen würde. Marianne weinte immer schnell, wenn es um Persönliches ging.
»Wie geht es dir?«, wollte sie fragen, aber die Worte verschwanden in ihrem Schluchzen. Sie stand auf, und er nahm sie in den Arm, nicht lange, es war mehr die Andeutung einer Umarmung. »Du kannst reingehen«, sagte sie, »er wartet schon auf dich.«
Günther Bendlin, klein und drahtig, beflissen und eifrig, der neue kommissarische Leiter des Morddezernats. Wer hätte das gedacht. Maler konnte davon ausgehen, dass Bendlin ihn nicht mochte. Er hatte ihn all die Jahre bei jeder möglichen Beförderung übergangen. Maler und Gritz waren sich in ihrer Einschätzung einig gewesen: Bendlin war zuverlässig und sicher kein schlechter Polizist, aber ihm fehlte die Kreativität. Maler und Gritz waren sich ganz sicher: Bendlin hatte noch nie eine Idee gehabt, schon gar keine, die einen Fall gelöst hatte.
Bendlin trug einen grauen Anzug und eine rote Krawatte. Das war neu. Maler glaubte sich zu erinnern, ihn nie in etwas anderem als Jeans gesehen zu haben, aber er konnte sich täuschen. Bendlin erhob sich, als Maler eintrat. Sie nahmen an dem kleinen Besprechungstisch Platz. Zwei Tassen standen da, eine Thermoskanne mit Kaffee, eine Schale mit Plätzchen. Es waren die berühmten Marzipanplätzchen von Marianne Gebauer, selbstgebacken, natürlich.
»August, ich möchte zunächst etwas sagen.« Man merkte, dass Bendlin die nächsten Sätze eingeübt hatte, man merkte es immer, wenn Leute auswendig gelernte Sätze aufsagten, Maler kannte das aus Hunderten von Verhören. »Ich habe nicht vergessen, dass dies dein Büro ist, August. Ich möchte, dass du das weißt. Ich sitze hier nur vorübergehend. Wenn du wieder zurückkommst, dann ist das wieder dein Büro. Selbstverständlich.«
»Danke«, sagte Maler. Nichts weiter.
»Wie geht es dir?«, fragte Bendlin.
»Es geht«, sagte Maler. Für einen Moment glitt sein Blick durch den Raum. Mein Büro? Alles hier war ihm fremd, vollkommen fremd. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er hier jahrelang gesessen hatte. Wie viele Tassen Kaffee hatten Rainer und er hier wohl getrunken? Die Erinnerungen blieben alle wie hinter einer Nebelwand. Er blickte auf seine Hände. Auch sie waren ihm fremd, als würden sie nicht zu ihm gehören. Jetzt musste er aufpassen. Er kannte diese Gefühlsspirale: Das Fremdheitsgefühl rückte von außen nach innen und mündete im Gefühl, von allem abgekoppelt zu sein, vor allem von sich selbst. Ein Therapeut hatte ihm geraten, in solchen Momenten irgendetwas ganz Plumpes zu tun, um die Spirale im Kopf zu durchbrechen, zum Beispiel ein volles Glas an die Wand zu werfen oder wenigstens umzuschütten. Das würde manchmal schon reichen.
Maler blickte die Kaffeekanne an. Dachte an den Therapeuten und ließ es dann doch sein.
»Ich meine, wie geht es dir gesundheitlich?«, fragte Bendlin.
Maler ließ die Frage unbeantwortet. Er wollte so schnell wie möglich diesen Raum, dieses Stockwerk, dieses Gebäude wieder verlassen. Er war hier, um seinen Kollegen von der Mordkommission zu erzählen, was er wusste. Dieser Fall hatte so gewaltige Ausmaße angenommen, das war nur zu schaffen mit den Kollegen, mit dem Polizeiapparat. Maler war klar: Er brauchte Hilfe.
Er berichtete, er habe nach der Ermordung von Rainer Gritz einen Anruf von Gabriel Tretjak bekommen, dem echten Gabriel Tretjak. Der habe ihn über die vier Männer informiert, die vier von Kattenbergs. Dass sie alle vier vor neun Jahren aus ihrem alten, belasteten Leben hatten verschwinden wollen und dass er, Tretjak, ihnen das neue Leben organisiert hatte. Maler erzählte, wie ihn Tretjak auf die Spur der beiden alten Nazi-Kinder im »Käfer« gesetzt hatte. Und auf den wütenden Christian Senne, der vor wenigen Wochen gestorben war. Er berichtete Bendlin auch von seinem traurigen Besuch bei der Witwe Senne und von seiner Begegnung mit dem Arzt im Krankenhaus, der sich die Hälfte des Jahres in Afrika engagierte. Maler erzählte vom Giftmord an dem dritten Kattenberg in Buenos Aires. Und Maler fasste zusammen: Drei der vier Kattenbergs waren tot. Einer, ein Bankier in New York, lebte. Noch. Man musste davon ausgehen, dass die Ermordung von Rainer Gritz im Zusammenhang mit diesen Taten stand.
Für ein paar Augenblicke war es still in dem kleinen Büro des Mordkommissariats. Kaffee und Plätzchen standen unberührt auf dem Tischchen. Maler hatte im Grunde offenbart, dass er tagelang auf eigene Faust, ohne Auftrag, ohne Genehmigung, ermittelt hatte. Gritz hatte ihm zwar gesagt, dass er beim Polizeipräsidenten eine Sondergenehmigung für ihn besorgt habe, doch Maler hatte sich darum überhaupt nicht mehr gekümmert. Nein, Maler war in eigener Sache unterwegs. Im Alleingang. Es wäre ein Leichtes gewesen für Bendlin, die alten Rechnungen mit einer wütenden Szene aufzuarbeiten: Was bildest du dir eigentlich ein? Wer glaubst du, wer du bist?
Doch nichts davon geschah. Bendlin stand auf, ging zu seinem Schreibtisch, holte ein paar Akten und setzte sich wieder. »Hier ist das Ergebnis der Obduktion der beiden Leichen aus der Maschine am Münchner Flughafen. Das war nicht einfach ein Doppelmord. Das war eine unvorstellbare Folterorgie, die sich über Tage hinzog.« Er fuhr fort: »Ich spare mir jetzt den biographischen Hintergrund des Mannes, scheint ja sowieso nichts zu stimmen. Über eine frühere Identität wussten wir nichts. Alles, was du erzählt hast, höre ich zum ersten Mal.«
Gabriel Tretjak alias Wolfgang von Kattenberg. Schien ein Lebemann gewesen zu sein, hatte mit Rennpferden gehandelt, eine Art Weltreisender in Sachen Glücksspiel, Hongkong, Sotschi, Dubai. Großspuriges Auftreten, er hatte immer genug Geld, keiner wusste, woher. »Nach allem, was wir gehört haben, muss das ein ziemlich unangenehmer Typ gewesen sein. Er hatte wohl ein ganzes Rudel Feinde, einige von ihnen richtig üble Typen«, sagte Bendlin.
Und der Mann hatte eine Freundin gehabt. Carla Almquist. Schwedin, viel jünger als er, Anfang dreißig, Juristin, gutbezahlter Job in einer renommierten Anwaltskanzlei in London. Anscheinend das komplette Gegenteil von ihm: seriös, beste Beziehungen zu ihren Eltern und Geschwistern, freundlich, alle hatten sie gemocht. Die Beziehung der beiden schien noch sehr frisch gewesen zu sein; Freunde von Carla Almquist berichteten, sie hätten sich erst vor wenigen Monaten kennengelernt. Alle hatten sich gewundert, was sie mit dem Kerl wollte, alle waren davon ausgegangen, dass es sicher nicht lange halten würde.
Dann wurde Carla Almquist entführt. Neun Tage vor ihrem Tod. Elf Tage bevor sie in dem Flugzeug gefunden wurde. »Sie wurde entführt, und von Kattenberg bekam Bilder auf sein Handy geschickt, auf denen sie zu sehen war.«
Maler schaute Bendlin fragend an.
»Eine Bilderserie haben wir auf seinem Laptop gefunden: Sie war nackt auf eine Art OP-Tisch geschnallt, mit Handschellen gefesselt. Sie wurde vergewaltigt, von einem maskierten Mann. Aber nicht nur das.« Bendlin stockte.
Maler wollte ihn eigentlich gar nicht mehr fragend anschauen.
»Sie hatte überall Wunden, kleine Schnitte. Sie wurde regelrecht massakriert. Willst du noch weitere Details hören?«
Maler winkte ab.
»Von Kattenberg muss zunächst auf eine Lösegeldforderung gewartet haben. Aber es kam nichts. Und dann haben sich die Täter ihn geholt. Wir vermuten, er musste dem Sterben seiner Freundin bis zum Ende zuschauen. Einen Tag später starb er selbst.«
»Woran?«, fragte Maler.
»Herzversagen, verursacht durch eine Überdosis Adrenalin, ausgelöst durch verschiedene chemische Substanzen, die ihm über Tage zugeführt worden waren, nach und nach. Im Obduktionsbericht steht: Er ist innerlich zum Kochen gebracht worden. Sonst ist noch festgestellt worden, dass sämtliche Knochen an den Händen gebrochen waren.«
Was für ein entsetzlicher Tod, dachte Maler. Die Angst immer weiter steigern, immer weiter, immer weiter. Bis du krepierst.
Bendlin nahm einen Marzipankeks. »Wir hatten bisher eine Milieutat vermutet. Diese Theorie können wir jetzt wohl vergessen.«
»Sehe ich auch so«, sagte Maler.
Bendlin zog aus einem grünen Aktenordner ein weißes Formular heraus, einen Reiseantrag, ausgefüllt von Rainer Gritz. Er legte ihn Maler hin.
Dienstreise München – Penzance, stand da, erster Flug nach London um 6 Uhr 15, zweiter Flug nach Penzance um 8 Uhr 20, Rückflug Penzance, 20 Uhr 15, Rückflug London 21 Uhr 55. Mietwagen in Penzance. Reisegrund: Mordfall Gabriel Tretjak. Rainer Gritz hatte eine schöne Handschrift gehabt, gut lesbar.
»Das war einen Tag vor seinem Tod. Er hat mit niemandem von uns mehr sprechen können. Weißt du etwas?«
Maler schüttelte den Kopf.
»Warum ist er nach Penzance gefahren? Er muss irgendeine Spur gehabt haben. Ich habe mit dem dortigen Kollegen gesprochen, einem Kommissar Spencer. Ein eher wortkarger Typ.«
Maler verkniff sich die Frage nach Bendlins Englischkenntnissen. Er hatte sich oft geärgert über die fehlenden Sprachkenntnisse einiger seiner Mitarbeiter. Wenn es darum ging, mit Kollegen von Europol in Brüssel zu telefonieren, verschwanden viele gern mal auf dem Klo. Er glaubte sich zu erinnern, dass Bendlin einer davon gewesen war.
»Rainer hat Spencer um die Mittagszeit getroffen«, fuhr Bendlin fort, »nur kurz, das Gespräch hat wohl nur eine halbe Stunde gedauert. Spencer sagte, er habe sich gewundert, dass der Münchner Kollege extra wegen dieser Geschichte angereist war. Der Tod von diesem Gabriel Tretjak war für sie ein Unfall. Überfahren von einem Mähdrescher. Sie hatten die Akte bereits geschlossen. Spencer wusste nicht, was Rainer an diesem Tag in Penzance noch gemacht hat. Er sagte etwas von einem Zeitungsredakteur, ich habe hier irgendwo den Namen. Den haben wir noch nicht erreicht.«
»Habt ihr irgendwas auf Rainers Handy gefunden? Hat er in England telefoniert?«, fragte Maler.
»Nein. Keine SMS, kein Gespräch. Du weißt ja, er hat nie gerne telefoniert.«
Maler schaute Bendlin an. Er mochte ihn nicht, das würde sich wohl nie ändern. Aber in einem war er sich ganz sicher: Bendlin war wirklich erschüttert über den Tod von Gritz, egal, wie die beiden sich früher verstanden hatten, egal, dass Bendlin diesen Job nur bekommen hatte, weil Gritz nicht mehr lebte. Maler spürte die Wut bei Bendlin, die zum Polizistsein gehörte wie die schlechte Bezahlung, die Nachtschichten und die Klagen über irgendwelche bescheuerten Richter: Wehe, wenn einem Kollegen etwas passierte. Sofort stellte sich jeder vor, dass es auch ihn hätte treffen können. Wir kriegen das Schwein, das das gemacht hat. Das war Polizistencode.
Mordfall Gabriel Tretjak. So hatte es Gritz auf seinen Reiseantrag geschrieben. Eigentlich hätte er Mordfälle Gabriel Tretjak schreiben können, dachte Maler. Es war ja damals schon klar gewesen, dass der merkwürdige Mähdrescherunfall kein Unfall gewesen sein konnte. Dann kam der Mord in Buenos Aires hinzu. Mordfälle Gabriel Tretjak. Dreimal Tretjak, einmal Gritz. Es ging um eine Mordserie. Und vermutlich hatte Rainer sterben müssen, dachte Maler, weil er auf eine Spur gestoßen war.
Gabriel Tretjak, der echte Gabriel Tretjak. August Maler spürte sofort wieder diesen Zorn. Seit drei Tagen versuchte er ihn zu erreichen. Mailbox. Immer nur Mailbox. Kein Rückruf, keine Antwort, kein sonstiges Zeichen. Sie hatten bei ihrem Gespräch ausgemacht, sich regelmäßig auszutauschen über das, was sie in Erfahrung brachten. Und jetzt völliges Schweigen, seit drei Tagen. Was sollte das? Die Winkelzüge dieses Mannes. Hatte er nicht kapiert, dass sie diesmal nur nervten? Was spielte er dieses Mal für ein Spiel? Und was für eine Rolle hatte Tretjak für ihn dabei vorgesehen? Es war sicher keine Hauptrolle. August Maler wurde fast übel vor Zorn. Was er brauchte, war ein Partner, jemand, dem man vertrauen konnte. Und nichts klang absurder im Zusammenhang mit diesem Mann als das Wort Vertrauen.
Die Spielchen des Reglers. Tretjak hatte ihm am Ende des Telefonats gesagt, er werde ihm eine SMS schicken, mit einem speziellen Codewort, einer komplizierten Kombination aus Buchstaben und Zahlen. Sollte er sich 24 Stunden nicht melden, solle er, Maler, dieses Codewort an eine bestimmte Mailadresse schicken. Es sei nur eine Vorsichtsmaßnahme, für alle Fälle, hatte Tretjak gesagt. Maler hatte nicht die Kraft gehabt, irgendetwas dazu zu sagen. Die SMS war einige Minuten später tatsächlich gekommen. Er hatte das Codewort auf seinem Handy gespeichert. Aber er hatte es nicht losgeschickt, und er würde es auch ganz sicher nicht tun. Wer wusste, was dieses Codewort auslöste? Möglicherweise würde er damit selbst Teil eines perfiden Plans werden. Möglicherweise müsste er sich später fragen lassen, warum er bei alldem mitgemacht hatte, warum er zum Mittäter geworden war. Maler ärgerte sich: Für wie dämlich hielt ihn dieser Mann eigentlich? Nein, Herr Tretjak, die Schachfigur Maler spielt jetzt nicht mehr mit.
Mit Bendlin vereinbarte er am Ende ihres Gesprächs, dass Gabriel Tretjak erneut zur Fahndung ausgeschrieben werden sollte, weltweit, wegen Mordverdachts. Maler steckte sich noch drei Plätzchen in die Jackentasche, damit Marianne Gebauer nicht glaubte, sie hätten fast gar nichts gegessen. Er gab Bendlin zum Abschied die Hand. Es war klar, dass sie ab jetzt in regelmäßigem Kontakt bleiben würden. Marianne Gebauer nahm er kurz in den Arm, »großartig, deine Kekse, Marianne, ganz wunderbar«.
Draußen vor der Bürotür wartete Harry Mutt auf ihn. Ein netter Kollege, guter Mann, einer der Besten. Erste besondere Eigenschaft: Er hatte immer Geldprobleme, weil er auf die Pferderennbahn ging und eigentlich immer verlor. Zweite besondere Eigenschaft: Er sprach nie ein Wort zu viel. Maler gefiel das.
»Hallo, Harry.«
»Hallo, August.«
Maler sagte nicht, ›Schön, dich zu sehen‹. Mutt sagte es auch nicht.
»August, ich habe was für dich. Ich möchte, dass du das nimmst.« Mutt zog ein schwarzes Büchlein aus seinem Jackett und gab es ihm. »Ich will, dass du es hast.«
Maler blickte ihn fragend an.
»Rainer hat Tagebuch geführt. Es lag neben seinem Bett.« Mutt machte eine Handbewegung in Richtung des Büros von Bendlin. »Ich will nicht, dass er da drin rumblättert.«
»Gut«, sagte Maler und steckte das Buch ein.
Inge wartete im Café Tambosi am Hofgarten. Sie liebte dieses Café, und Maler liebte den Hofgarten. Da, wo München am schönsten ist, so nannte er den kleinen Park. Sie hatte sich einen schönen Tisch im ersten Stock ausgesucht, mit zwei weichen Plüschsesseln. Inge stand auf, als er kam. Das tat sie sonst nie. Es wirkte ja auch ein bisschen förmlich. Sie umarmte ihn. Lange. Maler dachte: Umarmt sie jetzt den Mann oder den Patienten?
Inge war dabei gewesen, heute Morgen, bei seinem ersten Termin. Natürlich war sie dabei gewesen. Im Klinikum Großhadern, Station C, Herzchirurgie. Sie hatten zwanzig Minuten warten müssen, bevor sie hineindurften zum Professor. Er war eine Legende in München, einer der großen Herzchirurgen der Welt, die Nummer eins im Lande. Und nebenbei der Mann, der August Maler sein Herz herausgeschnitten und ein neues eingepflanzt hatte.
Das neue Herz, das sein Körper nie wirklich hatte haben wollen. Es war das Problem bei jeder Transplantation: Der Körper wehrte sich gegen das neue Organ, das war bei allen Patienten so, die körpereigenen Abwehrkräfte griffen das fremde Organ an. Es war ein Paradox: Der Körper attackierte das Organ, das ihn rettete. Die großen Fortschritte, die die Transplantationsmedizin in den letzten Jahren gemacht hatte, bestanden in der Entwicklung neuer Medikamente, die den Angriffsfuror des eigenen Körpers derart schwächten, dass das Herz weitgehend unbehelligt pumpen konnte. Viele Transplantierte konnten jahrzehntelang ein weitgehend normales Leben führen.
Bei August Maler war es von Anfang an nicht gut gelaufen. Es hatte dauernd Probleme gegeben, eine Abstoßungsreaktion folgte der anderen. Knapp zwei Jahre sah es dann so aus, als würde doch alles gut werden, als hätten sie sich doch aneinander gewöhnt, sein Körper und sein neues Herz. Doch dann war eine neue, besonders schwere Abstoßungsreaktion aufgetreten. Wochenlang Intensivstation, monatelanger Klinikaufenthalt. Der mühsame Weg zurück. August Maler zumeist auf seinem Balkon, versunken in Seelenreisen, geschüttelt von Angstzuständen.
Maler hatte dem Herzchirurgen einen Namen gegeben: Professor Entschiedenheit. Er sagte immer, wie die Lage war. Er sagte immer, was zu tun war. Und tat es dann. Zweifel hatten im Leben dieses Mannes keinen Platz, es gab kein Zögern, kein Zaudern. Es gab immer nur eine Richtung, nur einen Weg. Er duldete keinen Widerspruch. Seine mitfühlendste Frage war: »Können Sie mir folgen?« Oder: »Verstehen Sie, was ich Ihnen sage?« Und so war es auch heute Morgen gewesen.
Inge und August Maler hatten auf seiner schwarzen Besprechungscouch gesessen, ihm gegenüber. Professor Entschiedenheit sagte, wie die Lage war: »Herr Maler, wir müssen was tun. Alle Werte haben sich verschlechtert. Das Blutbild ist schlecht und wird immer schlechter. Wir vermuten, dass die nächste Abstoßungsreaktion unmittelbar bevorsteht. Kein Grund zur Sorge, wir werden das in den Griff bekommen. Aber wir müssen handeln, wir können nicht weiter zuschauen.« Professor Entschiedenheit sagte, was zu tun war: »Herr Maler, Sie brauchen ein neues Herz. Beim ersten war von Beginn an der Wurm drin, das ändern wir dieses Mal. Jetzt wird alles gut. Herr Maler, es gibt nichts mehr zu überlegen, nichts mehr zu entscheiden. Sie stehen seit heute Morgen auf der Warteliste für ein neues Herz, mit allen Kriterien der Dringlichkeit. Es wird schnell gehen, glauben Sie mir.«
»Und wenn ich nicht mitmache? Wenn ich nicht mag?«, fragte Maler, durchaus mit Angriffslust in der Stimme.
Der Professor verzog keine Miene. »Dann sterben Sie, Herr Maler. Und weil das die einzige Alternative ist, vergessen wir sie sofort wieder.«
»Das sehe ich auch so«, sagte Inge Maler.
Sie waren noch etwa dreißig Minuten zusammen sitzen geblieben. Hatten besprochen, was nun kommen würde. Am Ende hatte August Maler einige Untersuchungstermine für die nächsten Tage. Er würde auch zum Psychologen müssen, der beurteilen sollte, ob er einer Transplantation seelisch gewachsen war. Das war Vorschrift, jeder Transplantationspatient musste dorthin. Bei seiner ersten Transplantation war der Psychologe ein alter Herr gewesen. Ein weiser alter Mann. Sie hatten sich über die Dinge des Lebens unterhalten, über die Liebe, über Kinder. Sie hatten über die Fähigkeit gesprochen, das Glück zu erkennen. Und dahin hatte der Psychologe das Gespräch auch steuern wollen: das Glück zu erkennen, eine neue Chance zu bekommen, mit dem neuen Herzen. Maler hatte den Mann für in sich ruhend gehalten, für seelisch gefestigt. Einige Wochen später hatte er zufällig dessen Todesanzeige gelesen. Er hatte sich erkundigt, und es hatte sich herausgestellt, dass sich der Psychologe erschossen hatte. Depression, Einsamkeit seien die Gründe gewesen. So konnte man sich täuschen.
Im Café Tambosi bestellte Maler für sich und seine Frau zwei Gläser Portwein. Das erste Mal seit langer Zeit, dass er etwas Alkoholisches trank. Es war zwar erst später Vormittag, aber er hatte das Gefühl, dass es genau das Richtige war. Und er hatte recht. Der Alkohol ließ seine Hände ruhig werden, er konnte das Glas heben, einfach so. Wer die beiden beobachtet hätte, wäre wohl auf den Gedanken gekommen, ein vertrautes, glückliches Paar zu sehen. Sehr mit sich beschäftigt, wie es manche guten Paare eben so sind.
Als sie das Café verließen, gingen sie über den Hofgarten Richtung Auto. Später sollte Maler denken, dass er als Kripomann den Mann hätte bemerken müssen, der ihnen folgte. Er trug eine schwarze Lederjacke und hatte eine kleine Tüte im Arm, aus der er Körner streute, für die Tauben. Deswegen hatte er seine Handschuhe ausgezogen, die er sonst immer trug, auch im Sommer. So sah man seine Hände, durchaus markante Hände. Auf jedem Fingerknöchel war ein kleiner schwarzer Drache eintätowiert. Als er in sein Auto stieg, um den Malers nachzufahren, hatte er die Handschuhe wieder angezogen.