Mittwoch 11. Oktober
(t0 minus 51)
Manchmal hatte sie das Gefühl, er flirte mit ihr. Es gefiel ihr, und sie hatte sich schon ein paarmal morgens dabei ertappt, bei der Wahl ihrer Garderobe deshalb andere Entscheidungen zu treffen. Lieber die Schuhe mit dem etwas höheren Absatz. Lieber, wie heute, den Rock, der sie so schlank aussehen ließ. Sophia Welterlin saß in ihrem Büro hinter dem Schreibtisch und hörte ihrem Assistenten zu, der ihr ein Problem beim Projekt »Casimir« darlegte.
»Wir werden mit der Rechenzeit, die uns während des Experimentes zur Verfügung steht, nicht auskommen«, sagte er, »das steht fest. Sie müssen versuchen, uns mehr Zeit am Computer zu besorgen.«
Gilbert war Franzose, ein aus Indien stammender Franzose mit schwarzen glänzenden Haaren, schwarzen Augen und schwarzen Bartstoppeln. Er hatte einen komplizierten Nachnamen, den sich niemand merken wollte, er war einer von drei wissenschaftlichen Assistenten, die ihr für das Projekt »Casimir« genehmigt worden waren. Und er war zwanzig Jahre zu jung.
»Ausgeschlossen«, sagte sie. »Das können Sie vergessen.« Sophia Welterlin sprach vier Sprachen fließend. Mit Deutsch, Italienisch und Französisch war sie aufgewachsen, Englisch war die Sprache der Wissenschaft. Wenn sie sich mit Gilbert unterhielt, wechselten sie manchmal zwischen Französisch und Englisch hin und her, je nachdem, wie persönlich der Teil ihres Gespräches war. Im Augenblick sprachen sie Englisch. »Wir werden nicht mehr Rechenzeit bekommen«, sagte sie. »Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. Zum Beispiel die Datenmenge zu reduzieren, die wir verarbeiten. Was ist, wenn wir später mit den Messungen anfangen?«
»Näher am Zeitpunkt der Teilchenkollision?« Gilbert zuckte mit den Achseln. Er war Mathematiker, kein Physiker. »Das müssen Sie entscheiden. Noch planen wir, dass wir drei Sekunden vor t0 beginnen. Das ist viel Zeit, eine Ewigkeit.«
Sophia Welterlin lächelte. »Interessant, dass drei Sekunden für Sie eine Ewigkeit sind«, sagte sie.
Er antwortete auf Französisch und sah sie direkt an: »Besonders schöne Momente können sich sehr lange ausdehnen.« Sie entließ ihn mit dem Auftrag, auszurechnen, wie viel eine Verschiebung um eine halbe Sekunde bringen würde. Der würde noch einige Frauen unglücklich machen, dachte sie. Und glücklich.
Der LHC-Teilchenbeschleuniger im Europäischen Kernforschungszentrum CERN galt als die komplizierteste Maschine der Welt. Sein Rechner, sein mathematisches Gehirn, war kein Gerät im herkömmlichen Sinn. Es handelte sich eher um eine hochintelligente Meute von Geräten. 150 Hochleistungsrechner, die besten der Welt, jeder an einem anderen Ort, wurden für die Experimente im LHC und deren Auswertung zusammengeschlossen. Die Zeit dieses Superhirns war kostbar, sein Terminkalender war auf Jahre hinaus voll, und zwar auf die Sekunde. Dies war einer der vielen Punkte, die Sophia Welterlin dem deutschen Journalisten erklärt hatte, der ihr unlängst drei Tage lang wie ein Dackel auf Schritt und Tritt gefolgt war. Jetzt lag das Manuskript seines Berichtes ausgedruckt vor ihr auf dem Schreibtisch. Ein beachtlicher Stapel Papier mit dem Titel Im Feuer der Zeit. Der Journalist hatte sie gebeten, den fertigen Text auf wissenschaftliche Fehler hin gegenzulesen. Eigentlich ist das Ganze eine Rennstrecke, eine 27 Kilometer lange kreisförmige Rennstrecke. Sie verläuft unterirdisch, und es sind keine Autos, die hier ihre Runden drehen, sondern atomare Teilchen, so begann der Text, das jedenfalls war schon mal nicht falsch.
Sie war mit dem Journalisten im Tunnel herumgelaufen, hatte ihm viele der 1232 Magneten gezeigt, tonnenschwere Monster, die die Teilchen beschleunigten. Sie hatte davon gesprochen, dass hier manchmal Bedingungen erzeugt wurden wie bei der Entstehung des Weltalls. Sie hatte ihm das beeindruckende Kontrollzentrum gezeigt, die Wände ein Mosaik aus Farbbildschirmen. Sie hatte ihm den Casimir-Effekt erklärt, bei dem aus dem Nichts, aus dem leeren Raum heraus eine Kraft wirkte, die bei der Erzeugung eines Wurmloches mithelfen könnte. Akribisch hatte er alles mitgeschrieben, und wenn sie etwas aufgemalt hatte, hatte er sich das Blatt Papier geben lassen. Und was, bitte, war ein Wurmloch? Man war vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, und am Ende hatte sie den Mann mit dem Eindruck nach Hause geschickt, dass sie ihm zu viel zugemutet hatte. Ein Wurmloch war ein besonderer Weg in der Raumzeit, eine Abkürzung. Durch ein Wurmloch konnte man theoretisch in die Vergangenheit gelangen, so einfach war das. Aber ihr graute davor, nun die Version dieses Mannes zu lesen, der normalerweise von Parteitagen berichtete oder von Reisen in Flüchtlingslager.
»Warum tun Sie sich das an?«, hatte Professor Zender sie gefragt, nachdem er ihr mit dem Reporter begegnet war. »Die schreiben doch sowieso immer nur die Geschichten, die sie sich vorher schon zurechtgelegt haben.«
Sophia Welterlin fand, man musste der Welt erklären, was man hier vorhatte. Auch wenn es mühsam war. Sie beschloss, den Artikel heute Abend mit nach Hause zu nehmen und in aller Ruhe durchzuarbeiten. Der Titel stammte ja eigentlich von ihr. »Wir alle stehen im Feuer der Zeit«, hatte sie auf eine seiner tausend Fragen geantwortet. »Sie auch. Und es wird nur Asche von Ihnen übrig bleiben. Die Zeit verbrennt alles.«
Ihr Büro befand sich in einem Flachbau aus den sechziger Jahren. Eine Art Pavillon, der früher keine wissenschaftliche Funktion gehabt, sondern die Bauleitung beherbergt hatte, die Architekten und Ingenieure, die auf dem großen Gelände des CERN die immer neuen und immer anspruchsvolleren Umbauten steuerten. Für die gab es heute ein anderes Gebäude. Schon mehrmals hatte der Pavillon abgerissen werden sollen. Jetzt beherbergte er das Projekt »Casimir« mit alles in allem 21 Wissenschaftlern. Sophia Welterlins Arbeitszimmer war ein quadratischer Raum mit einer Glasfront gegenüber der Tür. Die Glasfront zeigte zum Garten und hatte eine Schiebetür, durch die man auf eine kleine Terrasse treten konnte. Die Einrichtung von Welterlins Zimmer bestand aus einem sehr großen Schreibtisch, drei Stühlen und sechs Billyregalen von Ikea – für die Bücher, die Fachzeitschriften, die Ordner, die sie so brauchte. Sie war zufrieden mit dem Pavillon, er lag inmitten einer Gruppe gewaltiger Ahornbäume. Auf Fotos aus den fünfziger Jahren konnte man sie schon erkennen, diese Bäume, damals kindkleine Setzlinge auf freiem Gelände, verloren wirkend, angebunden an Pfähle. Das Feuer der Zeit.
Es war ein warmer Tag, die Sonne schien, und dennoch hatte die Luft heute Morgen schon wunderbar nach Herbst gerochen. Das sollte Sophia Welterlin spätabends auch in ihrem Tagebuch vermerken. Vor ein paar Wochen hatte sie damit angefangen. Sie hatte einen teuren Füller geschenkt bekommen und sich aus einem Impuls heraus ein in Leder gebundenes Buch gekauft. Sie war noch sehr eifrig beim Verfassen der Einträge – und ausführlich. So sollte sie auch die kleine Episode aufschreiben, als der Hausmeister mit zwei weiteren Männern in ihrem Büro auftauchte, um von dort ins Freie zu gelangen. Es war nach dem Mittagessen, sie war grade aus der Kantine im Hauptgebäude zurückgekommen. Die Männer hatten lange Stangen und groß, eingerollte Netze dabei. Sie waren gekommen, um zwei weiße Vögel einzufangen, die sich seit zwei Tagen in den Ahornbäumen aufhielten und die offenbar Seltenheitswert hatten. Zuerst hatten alle gedacht, es handle sich dabei um weiße Tauben, aber das war ein Irrtum, es waren weiße Falken. Sophia Welterlin würde am Abend in ihrem Tagebuch mit Freude vermerken, dass die Männer schließlich mit leeren Netzen abgezogen waren.
Die Mail von Gabriel Tretjak kam am späten Nachmittag. Sie fand das Tempo erstaunlich, das der Mann anschlug. Eben hatte er noch gezögert, den Auftrag anzunehmen, jetzt tischte er schon erste Recherche-Ergebnisse auf: ein Who is Who der Gegner des Projektes »Casimir«, detailliert mit Namen, Adressen, knappen Kommentaren und Einordnungen. Vieles war nicht neu für sie, aber alles auf einen Blick zu sehen, vollständig und sauber gegliedert – das war schon ein Dossier von besonderer Qualität. Tretjak unterschied die Gegner in vier Gruppen. Erstens die Experten: Das waren Wissenschaftler und Juristen, die rechtlich vorgingen bei Verwaltungsgerichten, Verfassungsgerichten und sogar beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Zweitens die Verrückten: Darunter fasste Tretjak eine bunte Mischung kleiner Gruppierungen zusammen, die einen eher spirituell, die anderen eher makrobiotisch, wieder andere verschwörerisch. Die einen vermuteten hinter dem physikalischen Begriff der »Negativen Energie« das Böse, die anderen befürchteten, dass die schnellen Teilchen Nahrungsmittel verändern könnten, und natürlich steckte hinter allem ganz oft irgendein Geheimdienst … Die dritte Gruppe auf Tretjaks Liste waren Politiker. Er hatte genau analysiert, wann welche Kommunalwahlen in Frankreich und der Schweiz anstanden und welche Politiker sich was genau von einer Antihaltung versprachen. Der vierte Punkt seiner Gliederung trug die Überschrift »Joker«. Nach Tretjaks Meinung die wichtigste Gruppe – hier, so schrieb er, würde man schließlich fündig werden. Hier gab es erst ein Ergebnis, allerdings eines, das Sophia Welterlin den Tag verdarb. Tretjak schrieb von einem geheimen Hackerclub namens »White Horse«, der sich einen Spaß daraus machte, in große, gutgeschützte Systeme einzudringen und sie so zu manipulieren, dass sie Fehler machten. Vor allem wissenschaftliche Einrichtungen waren das Ziel dieser Jungs. Er glaube zwar nicht, dass dieser Club der Absender der Drohungen sei, schrieb Tretjak. »Aber wer weiß. Ich muss Ihnen jedenfalls gleich die Mitteilung machen, dass eines der Gründungsmitglieder von ›White Horse‹ bei Ihnen arbeitet«, schrieb Tretjak. »Sie sollten ihn sich mal genau ansehen. Aber sagen Sie ihm nichts, den Wissensvorsprung können wir vielleicht brauchen. Sein Name ist Kanu-Ide.« Sophia Welterlin ergänzte in Gedanken den Vornamen: Gilbert.
Sie packte das Manuskript des Journalisten in ihre Tasche, sperrte ihr Büro ab und ging den Gang entlang zum Ausgang. Die alte Digitaluhr an der Wand zeigte 18 Uhr 26. Die Tür zu Gilberts Büro war noch offen. Als sie daran vorbeikam, hörte sie ihn rufen: »Bonsoir, Sophia.«