21

Corliss schlüpfte in Roannas Schlafzimmer. Sie war ganz allein im oberen Stockwerk, da alle anderen entweder zur Arbeit gegangen waren oder beim Frühstück saßen. Sie hatte versucht, etwas zu essen, war jedoch kaum imstande dazu gewesen bei ihren hämmernden Kopfschmerzen und der Übelkeit. Sie brauchte ein bißchen Koks, bloß um sich ein wenig besser zu fühlen, aber ihr ganzes schönes geklautes Geld war schon wieder futsch.

Als Webb und Roanna das Frühstückszimmer betraten, hatte sie sich demonstrativ erhoben und war mit stummer, empörter Würde aus dem Raum marschiert – aber den verdammten Bastarden war das völlig egal gewesen. Gleich hinter der Tür hatte sie gelauscht, ob sie etwas über sie sagten. Doch die erwähnten nicht einmal ihren Namen ... als ob sie Luft wäre. Webb hatte ihr befohlen, Davenport zu verlassen und puff.!, einfach so, existierte sie nicht mehr. Statt dessen hatte Webb verkündet, daß er und Roanna heiraten würden.

Heiraten! Corliss konnte es kaum fassen. Der Gedanke empörte sie dermaßen, daß sie sich völlig zerschlagen fühlte. Warum sollte jemand, besonders ein Mann wie Webb, eine graue Maus wie Roanna heiraten wollen? Corliss haßte den Bastard, aber sie unterschätzte ihn keinesfalls. Bis dahin hatte sie sich in der Gewißheit gewiegt, Roanna mit links handhaben zu können, wenn es einmal so weit war. Mit Webb jedoch funktionierte das nicht. Er war viel zu abgebrüht, zu gemein. Unnachgiebig würde er sie aus Davenport davonjagen. Und genau deshalb mußte sie ihn loswerden.

Sie konnte hier nicht einfach weg. Der bloße Gedanke machte sie schon krank vor Panik. Keinen schien es zu bekümmern, daß sie hier wohnen mußte. Niemals konnte sie in dieses armselige kleine Haus in Sheffield zurückziehen und wieder die arme Verwandte der reichen Davenports sein. Jetzt war sie jemand, Miss Corliss Spence von Davenport! Webbs Rausschmiß machte sie erneut zu einem Nichts, einem Niemand. Sie hätte dann keine Möglichkeit mehr, an Geld für ihr teures Laster heranzukommen. Diese Aussicht war unerträglich. Also war Webb aus dem Weg zu räumen. Hastig sah sie sich in Roannas Zimmer um. Sie brauchte dringend Geld, aber zuerst wollte sie ein wenig herumschnüffeln. Vorher war sie in Webbs Zimmer gegangen, in der Hoffnung, dort etwas von seinem Kram zu finden, das sie sich unter den Nagel reißen konnte, aber – welche Überraschung! Es sah nicht so aus, als hätte er dort geschlafen. Das Bett war sauber gemacht und vollkommen unberührt. Irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, daß er seine häuslichen Angelegenheiten selbst in Ordnung brachte, nicht der arrogante Webb Tallant.

Na, war er nicht ein Schlauberger? Kein Wunder, daß er auf seine alte Suite verzichtete. Er hatte sich diesen Raum gleich neben Roannas geschnappt, ein gemütliches Arrangement hier hinten im Haus, wo man nicht gestört wurde.

Danach schaute sie sich bei Roanna um, und wie nicht anders zu erwarten, war das Bett vollkommen zerwühlt, und auf beiden Kissen befanden sich Kopfabdrücke. Wer hätte so etwas von der prüden Cousine gedacht, die nie mit Männern ausging? Gegen das Bumsen schien sie trotzdem nichts einzuwenden zu haben, wenn man sich diese Bescherung so ansah. Ganz schön clever außerdem! Corliss gab es nur ungern zu, aber dieses eine Mal war Roanna die Klügere gewesen. Sie hatte dafür gesorgt, daß Webb sie nicht rausschmiß, indem sie sich als bequeme Anlaufstelle für Sex zur Verfügung stellte, und irgendwie hatte sie es geschafft, ihn zu einer Heirat zu überreden. Vielleicht war sie ja besser im Bett, als sie aussah. Corliss hätte selbst mit ihm geschlafen, wenn sie Baraufgekommen wäre. Es ärgerte sie, daß sie nicht daran gedacht hatte.

Nun spazierte sie ins Badezimmer und öffnete das Spiegelschränkchen. Roanna bewahrte nie irgendwas Interessantes darin auf, keine Anti-Baby-Pillen, kein Kondom oder Diaphragma, bloß Zahnpasta und ähnlich langweiliges Zeugs. Sie besaß nicht mal anständige Kosmetika, die sie sich hätte ausborgen können.

Corliss warf einen Blick in den kleinen Abfalleimer und erstarrte. »Also sieh mal einer an«, sagte sie leise und bückte sich, um die Schachtel herauszunehmen. Ein Schwangerschaftstest.

Auf diese Weise hatte Roanna es geschafft!

Sie arbeitete wirklich umsichtig, das mußte Corliss zugeben. Also hatte sie geplant, mit ihm ins Bett zu gehen, sobald sie ihn in Arizona ausfindig machte. Wahrscheinlich hatte sie nicht damit gerechnet, so rasch schwanger zu werden, aber, Teufel nochmal, manchmal half einem das Glück und man knackte den Jackpot.

Na, das würde Harper Neeley interessieren, soviel war sicher.

Sie hielt sich nicht länger mit der Suche nach Geld auf. Das hier duldete keinen Aufschub. Rasch schlüpfte sie aus Roannas Zimmer und zurück in ihr eigenes. Harper war ihre letzte Hoffnung. Dieser seltsame Kerl flößte ihr zwar Angst ein, aber immerhin war er alles andere als langweilig. Er sah aus, als gäbe es nichts, wovor er zurückschreckte. Ihr erschien es fast komisch, wie sehr er Webb haßte, fast bis zur Besessenheit, aber das diente nur ihrem Interesse. Harper hatte es zweimal vermasselt, aber er würde es immer wieder versuchen. Er war wie eine Knarre: Sie mußte ihn lediglich auf das Ziel lenken und den Abzug betätigen.

Telefonisch vereinbarte sie einen Treffpunkt.

Harpers Augen glühten auf eine mörderische Weise, die Corliss frösteln ließ. Sie fürchtete sich, aber war auch zufrieden. Daß er so darauf reagieren würde, hätte sie nicht erwartet; es übertraf bei weitem ihre Hoffnungen.

»Bist du sicher, daß sie schwanger ist?« fragte er lauernd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der sogleich nach hinten kippte. Er hockte auf dem Stuhl wie ein sprungbereites Raubtier.

»Ich hab den verdammten Test gesehen«, erklärte Corliss. »Er lag ganz oben im Abfalleimer, also muß sie ihn erst heute morgen vorgenommen haben. Dann kamen sie die Treppe runter, idiotisch grinsend, und Webb hat verkündet, daß sie heiraten wollen. Was ist jetzt mit meinem Geld?

Harper lächelte sie mit seinen eisblauen Augen an. »Geld?«

Sie wehrte einen Anflug von Panik ab. Geld war im Moment ihr einziges Thema; sie hatte es furchtbar eilig gehabt herzukommen, und jetzt brauchte sie wirklich ein oder zwei Nasen, um wieder einigermaßen standfest zu werden. Leider war sie am Rande ihrer Beherrschung angelangt; ihr blieben nur noch zwei Tage zum Verlassen von Davenport. Harper mußte etwas tun, das Warten brachte sie um. Sie schaffte es nicht, wenn sie nicht zumindest ihre Dosis bekam, um sich wieder zu beruhigen.

»Du hast nie was von Geld gesagt«, meinte er seelenruhig, und sein Lächeln ging ihr durch Mark und Bein. Nervös blickte sie sich um. Es gefiel ihr hier nicht. Sie trafen sich jedesmal woanders, aber bisher waren es immer öffentliche Orte gewesen; ein Truckstop, eine Bar oder Ähnliches. Nach dem ersten Mal verlegten sie auch ihre Begegnungen stets in Vororte.

Heute fand sie sich in einem schäbigen, total einsam stehenden kleinen Trailer wieder. Auf dem staubigen Vorplatz rosteten Schrottautos vor sich hin, und kaputte Stühle und Springfedern lagen um den Trailer verstreut, als wären sie achtlos rausgeworfen und dann vergessen worden. Der Wohnwagen war winzig; er bestand aus einer kleinen Kochnische mit einem lächerlichen Tischchen und zwei Hockern, einer riesigen Kunstledercouch und einem kleinen Fernseher auf einem wackeligen Beistelltischchen. Dann gab es noch eine kloschüsselgroße Naßzelle und eine Schlafnische, die im Prinzip lediglich aus einem großen Bett bestand. Überall sah sie gebrauchtes Geschirr, leere Bierflaschen, zerdrückte Zigarettenschachteln oder überquellende Aschenbecher, und dort, wo noch Platz war, lag irgendein schmutziges Kleidungsstück.

Das war nicht Harpers Zuhause. Ein anderer Name stand auf dem grob zusammengezimmerten Briefkasten; aber sie kam nicht darauf, wie er lautete. Er hatte ihr weisgemacht, der Trailer gehöre einem Freund. Jetzt fragte sie sich, ob dieser »Freund« je von Harper Neeley gehört hatte.

»Ich muß das Geld haben«, stieß sie hervor. »So war es abgemacht.«

»Nö. Abgemacht war, daß du mir Informationen über Tallant lieferst und ich mich dafür deines Problems annehme.«

»Ja, und das hast du bis jetzt verdammt schlecht gemacht!« fauchte sie.

Er blinzelte einmal, zweimal, und seine unheimlichen, hellblauen Augen wurden noch kälter. Zu spät wünschte sie, den Mund gehalten zu haben.

»Also schade, daß es länger dauert, als ich erwartet habe«, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. »Ich bin total pleite und brauche unbedingt ein paar Klamotten. Du weißt ja, wie Frauen sind ...«

»Ich weiß, wie Kokser sind«, sagte er gleichgültig.

»Das ist doch absurd!« fuhr sie auf. »Ich nehme nur ab und zu was für meine Nerven.«

»Sicher, und deine Scheiße stinkt auch nicht.«

Sie wurde rot, aber etwas an der Art, wie er sie ansah, empfahl ihr, ihn nicht weiter zu reizen. Nervös erhob sie sich von der Couch, und es gab ein schmatzendes Geräusch, weil ihre nackten Schenkel an dem verdammten Ding festgeklebt waren. Sie sah, wie sein Blick zu ihren Beinen glitt und wünschte, etwas anderes als Shorts angezogen zu haben. Aber es herrschte diese elende Hitze, und sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, auf Kunstleder sitzen zu müssen, verdammt nochmal! Sie wünschte auch, sie hätte nicht gerade diese Shorts angezogen, weil sie so extrem kurz und eng waren. Außerdem brachte deren weiße Farbe ihre langen gebräunten Beine einfach toll zur Geltung ...

»Ich muß gehen«, sagte sie und unterdrückte ihre Nervosität. Harper hatte noch nie was bei ihr versucht, aber es hatte ja auch nie eine Gelegenheit gegeben. Nicht, daß er häßlich war, im Gegenteil – er sah ziemlich gut aus für einen alten Kerl; aber sie schlotterte bei ihm einfach immer vor Angst. Wenn sie doch bloß an einem weniger abgelegenen Ort gewesen wären, einem Motel zum Beispiel, wo man sie notfalls schreien hörte – denn Harper sah aus wie ein Mann, der Frauen wehtat.

»Du trägst keinen Slip«, bemerkte er nachlässig und beobachtete sie von seinem gekippten Stuhl aus. »Ich kann deine Muschihaare durch die Shorts sehen.«

Das wußte sie; es war der Grund, warum sie die Shorts so gerne mochte. Sie liebte es, wie die Männer sie ansahen, dann nochmal hinstarrten und wie ihnen dabei fast die Augen herausquollen. Dann fühlte sie sich immer richtig sexy. Aber wenn Harper sie ansah, wurde ihr gar nicht heiß, sondern angst und bange.

Er kippte seinen Stuhl noch weiter zurück und griff in seine rechte Jeanstasche. Daraus förderte er einen Plastikbeutel mit ein paar Gramm weißem Pulver zutage. Dieser war hübsch ordentlich mit einer roten Schnur zugebunden. Die Schnur zog ihren Blick magisch an. Sie hatte noch nie einen Kokainbehälter gesehen, der mit einer roten Schnur zugebunden war. Es sah komisch aus, irgendwie irreal.

Lockend schwenkte er die Ration vor ihr auf und ab. »Hättest du lieber das hier oder Geld?«

Geld, versuchte sie zu formulieren, aber das Wort wollte ihr nicht über die Lippen. Vor und zurück schwang der kleine Beutel, vor und zurück. Wie hypnotisiert starrte sie ihn an. Darin befand sich Schnee, das reinste Weihnachtsgeschenk, verschnürt mit einem roten Band.

»V-vielleicht bloß ein bißchen«, flüsterte sie. Bloß ein bißchen. Mehr brauchte sie nicht. Eine Nase voll, um ihre Nerven zu beruhigen.

Lässig beugte er sich vor und fegte mit einem Wisch alles von dem dreckigen Tisch. Zeitschriften, Aschenbecher und schmutziges Geschirr flogen zu Boden, wo sie neben all dem anderen Müll wie zu Hause aussahen. Dem Eigentümer des Trailers würde es vielleicht nicht mal auffallen. Dann knüpfte er die rote Schnur auf und Corliss trat eifrig vor, doch er stoppte sie mit einem kalten Blick. »Nur die Ruhe«, mahnte er. »Es ist noch nicht bereit für dich.«

Eine Abokarte, wie sie immer in den Zeitschriften steckten, um neue Abonnenten zu werben, lag auf dem Boden. Harper hob sie auf und begann das winzige Häufchen in gleichmäßige Lines aufzuteilen. Corliss sah, wie rasch und geschickt er das tat. Er machte das keinesfalls zum ersten Mal. Das erstaunte sie, denn sie hätte gedacht, daß sie einen Kokser erkannte, wenn sie einen vor sich hatte; doch ihm merkte man nichts an.

Die kleinen Lines lagen jetzt perfekt da, genau vier davon. Sie waren nicht sehr lang, aber es würde reichen. Innerlich bibberte Corliss vor Erregung und starrte die weiße Verheißung aufgeregt an; sie wartete auf das Signal von Harper, daß sie vortreten konnte.

Er fischte einen Strohhalm aus der Hosentasche. Es handelte sich um einen ganz normalen Plastikstrohhalm, aber zugeschnitten auf etwa drei Zentimeter Länge. Das war verdammt kurz, kürzer, als sie es mochte, so kurz, daß sie sich tief über den Tisch beugen und aufpassen mußte, daß sie die Lines nicht mit ihrer Hand verwischte. Trotzdem brauchte Sie diesen Strohhalm und lechzte danach.

Er wies auf eine Stelle vor dem Tischchen. »Du kannst dich hier hinstellen.«

Mit nur einem Schritt hastete sie herbei und blickte sich zu ihm um. Sie würde sich weit vorbeugen und dann noch weiter strecken müssen, um die Lines zu erreichen. »Es ist zu weit weg«, maulte sie.

Er zuckte mit den Schultern. »Du wirst es schon schaffen.«

Also beugte sie sich vor, stützte sich mit der linken Hand auf den Tisch und hielt den kleinen Strohhalm in ihrer Rechten. Sie streckte sich vorsichtig und hoffte, daß der Tisch nicht umkippte. Die Lines kamen immer näher, und sie hob den Strohhalm an ihre Nase. Schon glaubte sie den Rausch zu spüren, die Ekstase, das Glühen, wenn ihr Kopf explodierte ...«

»Du machst es falsch«, sagte er plötzlich.

Den Blick auf das süße Pulver fixiert, erstarrte sie. Sie mußte es haben, konnte keine Sekunde mehr warten. Aber sie hatte Angst, sich zu rühren, Angst etwas zu tun, bevor Harper es erlaubte.

»Erst mußt du die Shorts ausziehen.«

Seine Stimme war vollkommen ausdruckslos, als ob sie sich über irgend etwas Belangloses unterhielten. Aber jetzt wußte sie, was er wollte, und ihr wurden die Knie weich vor Erleichterung. Es war bloß Bumsen, nichts weiter. Was machte es schon, daß er älter war als alle, mit denen sie es bisher getrieben hatte? Die hübschen Lines waren so verlockend und sein Alter vollkommen belanglos.

Hastig richtete sie sich auf, knöpfte ihre Shorts auf und ließ sie fallen. Gerade wollte sie mit den Füßen raustreten, doch wieder hielt er sie auf. »Laß sie, wo sie sind. Ich will nicht, daß du die Beine spreizt; es ist enger, wenn du sie zusammenhältst.«

Sie zuckte die Achseln. »Was immer deinen Motor zum Laufen bringt ...«

Es war ihr gleichgültig, daß er im Nu hinter sie trat. Sie beugte sich eifrig vor, ganz auf die Kokainlines konzentriert. Mit der Linken stützte sie sich auf den Tisch, mit der Rechten hielt sie den Strohhalm. Die Spitze des Halms erreichte das weiße Pulver, und sie sog scharf die Luft ein, doch gleichzeitig rammte er sich brutal von hinten in sie, so daß sie nach vorn gestoßen wurde, der Strohhalm über den Tisch hüpfte und das Kokain sich auf der Platte ausbreitete. Sie war trocken und er tat ihr weh. Panisch jagte sie dem Kokain mit dem Halm hinterher; er stieß erneut zu und wieder verfehlte sie. Wimmernd suchte sie nach einer Position, das Pulver zu erreichen. Sie inhalierte so tief sie konnte, um jedes bißchen aufzusaugen, das sie mit dem Röhrchen erwischte.

Das Kokain war über den ganzen Tisch verstreut. Es erübrigte sich, es anzupeilen; das einzige, was sie tun konnte, war immer dann zu inhalieren, wenn er sie vorstieß. Corliss hielt sich den Strohhalm an die Nase und fuhr mit der Spitze über die Tischplatte, wobei sie verzweifelt durch die Nase atmete, während sie vor- und zurück gestoßen wurde, vor und zurück; es machte jetzt auch nichts mehr, daß er ihr wehtat, der verdammte Bastard, denn es gelang ihr, genug zu inhalieren, um den Rausch, die Ekstase zu fühlen, die Wärme, die in ihr aufstieg. Sie ließ ihn gewähren, so lange er ihr Koks beschaffte und Webb Tallant aus dem Weg räumte, bevor der Hundesohn sie aus Davenport werfen konnte.

Als Roanna an diesem Nachmittag von einer Sitzung der Historischen Gesellschaft zurückkehrte und die Garagentür öffnete, sah sie, daß Corliss ihr zuvorgekommen war und ihre Abwesenheit ausgenützt hatte, um sich, wie so oft, auf ihren Platz zu stellen. Seufzend drückte sie auf den Fernbedienungsknopf, um das Garagentor wieder zu schließen, und parkte ihren Wagen irgendwo am Rand. Corliss würde in zwei Tagen ohnehin fort sein; so lange konnte sie sich gedulden. Wenn sie jetzt etwas wegen der Garage sagte, würde es bloß erneut zu einem häßlichen Streit kommen, und das wollte sie vermeiden, da es Lucinda schon schlecht genug ging.

Sie schritt zum Hintereingang des Hauses, als auf einmal ein seltsamer Zauber sie ergriff. Träumerisch blickte sie sich um. Der Tag war so schön, wie sie lange keinen mehr gesehen hatte. Der Himmel strahlte tiefblau und wolkenlos, und in der Luft fehlte die übliche feuchte Schwüle. Die Hitze war so intensiv, daß sie das Gefühl hatte, von brennenden Fackeln umgeben zu sein; die Rosenbüsche, die über Generationen hinweg sorgfältig kultiviert worden waren, gaben ihre schweren Düfte frei. Drunten hinter den Ställen sprangen die Pferde über die Koppel und warfen die Hälse voller Energie und Übermut zurück. Heute morgen hatte Webb sie gefragt, ob sie ihn heiraten wollte. Und zu ihrem Entzücken erwartete sie sein Kind.

Tatsächlich schwanger! Sie war immer noch ein wenig fassungslos, als ob das alles unmöglich ihr widerfahren konnte. Bei der Sitzung hatte sie sich soeben überhaupt nicht konzentrieren können. Sie war es so gewöhnt, ihren Körper als einzige zu bewohnen – wie machte man sich da mit dem Gedanken vertraut, daß da ein eigenständiges Lebewesen in ihr heranwuchs? Wie kam so etwas Seltsames nur zustande? Sie war so glücklich, daß sie hätte heulen können.

Auch dieses Gefühl war komisch. Glück kannte sie bis dahin wenig. Sie würde Webb heiraten, Kinder und Pferde aufziehen! Bei einem Blick hinauf zu dem großen alten Haus übermannte sie ein Gefühl unendlicher Erleichterung, und auch Besitzerstolz. Davenport gehörte ihr, stellte jetzt ihr Zuhause dar. Ja, sie war glücklich. Auch wenn Lucindas Tod immer näher rückte, erfüllte sie eine tiefe Zufriedenheit.

Es stimmte: Jessie hatte ihr Leben lange genug vergiftet, hatte ihr eingeredet, sie wäre zu häßlich und ungeschickt, als daß irgend jemand sie lieben könnte. Nun, Jessie war ein Biest gewesen und log permanent. Das begriff Roanna auf einmal. Sie war eine tüchtige, sympathische Person und besaß ein besonderes Gespür für Pferde. Außerdem liebte Lucinda sie, Loyal liebte sie, Bessie und Tansy liebten sie. Gloria und Lanette hatten sich um sie gesorgt, als sie verletzt war, und Lanette hatte sich als überraschend hilfsbereit erwiesen. Brock und Greg mochten sie. Harlan – nun, wer wußte schon, was in Harlan vorging? Aber vor allem liebte Webb sie. Irgendwann während des Tages hatte diese Erkenntnis Eingang in ihre Seele gefunden. Er liebte sie schon sein Leben lang, wie er es ausgedrückt hatte. Ganz sicher erregte sie ihn, was bedeutete, daß sie gar nicht so häßlich kein konnte.

Ein wissendes Lächeln huschte über ihre Züge, als sie daran dachte, wie er sie letzte Nacht geliebt hatte und dann noch einmal heute morgen, nachdem der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war. Es bestand kein Zweifel an seiner physischen Reaktion auf sie, genausowenig wie an ihrer auf ihn.

»Das hab ich gesehen«, ertönte eine vertraute männliche Stimme von der Küchentür. Webb lehnte im Türrahmen. Sie hatte ihn überhaupt nicht bemerkt. »Du stehst seit fünf Mi nuten da und träumst, und jetzt hast du dieses komische kleine Lächeln auf dem Gesicht. Woran denkst du?«

Roanna stapfte vergnügt auf ihn zu. Ihre rehbraunen Augen waren halb geschlossen und blickten ihn mit einem Ausdruck an, daß ihm die Luft wegblieb. »Ans Reiten«, murmelte sie, während sie an ihm vorbeischlüpfte, wobei sie ihn absichtlich ein wenig anrempelte. »Und an Whoffs.«

Auch seine Lider senkten sich auf Halbmast, und eine warme Röte trat in seine Wangen. Das war das erste Mal, daß Roanna auch nur ansatzweise die Initiative ergriff, und ihr Verhalten brachte ihn schlagartig zu einer Erektion. Tansy machte sich hinter ihm bei den Töpfen zu schaffen; doch im Moment hatte er nur Augen und Ohren für Roanna.

Sie warf ihm einen Blick über die Schulter zu, während sie die Treppe erklommen. Ihr Gesicht glühte vor Erwartungsfreude, und sie beschleunigte ihre Schritte.

Die Schlafzimmertür war kaum hinter ihnen geschlossen, als er auch schon seine Arme um sie schlang.

Eine Heirat erfordert mehr Vorbereitung als man denkt, ging es Roanna am nächsten Vormittag durch den Kopf, während sie über die lange, gewundene Privatstraße fuhr. Die Gästeliste war zwar weit kürzer als die für die Party, insgesamt nur vierzig Personen, einschließlich Familie und Verwandtschaft; doch es gab trotzdem jede Menge zu erledigen.

Sie und Webb waren für heute nachmittag zur Blutuntersuchung angemeldet, und am Vormittag hatte sie sich um den Blumenschmuck, den Dinnerservice und die Hochzeitstorte bemüht. Normalerweise brauchte eine richtige Hochzeitstorte mehrere Wochen; aber Mrs. Turner, die sich auf solche Gebilde spezialisiert hatte, meinte, sie könnte in den elf Tagen, die bis zum gewählten Termin verblieben, eine »schlichte, elegante Version« zaubern. Roanna begriff, daß »schlicht und elegant« eine taktvolle Art war zu sagen, daß der Kuchen recht einfach ausfallen würde; doch das war ihr ohnehin lieber. Sie mußte sich nur noch das entsprechende Expreßmodell aussuchen.

Außerdem galt es ein Hochzeitskleid aufzutreiben. Falls sie hier in der Eile nichts fand, mußte sie nach Huntsville oder Birmingham fahren.

Glücklicherweise war Yvonne entzückt, als sie von Webbs neuerlichen Hochzeitsplänen erfuhr. Sie hatte Jessie zwar toleriert, aber nie richtig gemocht. Roanna jedoch paßte ihr bis aufs I-Tüpfelchen, und sie hatte sogar zugegeben, daß sie damals ihren Sohn viel lieber mit Roanna liiert gesehen hätte statt mit Jessie. Seine Mutter hatte sich mit Enthusiasmus bereit erklärt, die lästige Aufgabe der Einladungen zu übernehmen und sich außerdem auch um alles weitere zu kümmern; Roanna brauchte ihr nur zu sagen, was sie wollte.

Sie erreichte die Landstraße und hielt an, um ein sich näherndes Fahrzeug vorbei zu lassen. Ihre Bremsen fühlten sich irgendwie weich an, sie runzelte die Stirn und probierte es nochmal. Diesmal schien alles in Ordnung zu sein. Vielleicht war ja zu wenig Bremsflüssigkeit drin, obwohl sie eigentlich ihr Auto sehr regelmäßig zum Service brachte. Am besten führe sie gleich bei einer Tankstelle vorbei und ließe die Bremsen überprüfen.

Inzwischen bog sie nach rechts auf die Landstraße ab und fuhr in Richtung Highway. Das Auto, das sie zuvor überholt hatte, befand sich etwa hundert Meter vor ihr. Roanna gab vorsichtig Gas, und ihre Gedanken wanderten wieder zu dem Kleid zurück, das sie sich für die Hochzeit vorstellte: Auf alle Fälle elfenbeinfarben, nicht weiß. Sie besaß ein Paar Perlenohrringe mit einem raffinierten Goldschimmer, die phantastisch zu solch einer Robe passen würden. Und sie stellte sich ein lang fließendes Gewand vor, das ihre schmale Figur betonte, vielleicht im Empire-Stil, statt dieser aufgebauschten Rüschenkleider ä la Cinderella.

Die Straße beschrieb eine Kurve und endete schließlich an einem Stopschild, wo sie in den Highway Nr. 43, eine stark befahrene vierspurige Autobahn, mündete. Roanna nahm die Kurve und sah, daß der vor ihr fahrende Wagen den linken Blinker gesetzt und an dem Stopschild angehalten hatte, um auf eine Lücke im Verkehr zu warten.

Ein anderes Auto bog gerade vom Highway in die Landstraße ein und kam auf sie zugefahren; aus dem dichten Verkehr fädelte sich das ihr entgegenkommende Fahrzeug recht zügig aus. Roanna setzte den Fuß auf die Bremse, um langsamer zu werden, doch sie trat vollkommen durch; das Pedal zeigte überhaupt keinen Widerstand.

Entsetzt trat sie erneut aufs Pedal, allerdings ohne Erfolg, ja, der Wagen schien sogar noch schneller zu werden. Ihre Bremsen waren kaputt und beide Highway-Richtungen dicht befahren.

Die Zeit schien auf einmal wie in Zeitlupe dahinzufließen, zäh wie Kaugummi. Die Straße erstreckte sich vor ihr, und das Auto, das an der Kreuzung wartete, sah plötzlich doppelt so groß aus wie vorher. Blitzartig schossen ihre Gedanken durchs Hirn: Webb, das Baby, ihre Zukunft. Rechts von ihr war ein tiefer Straßengraben und der Seitenstreifen praktisch nicht vorhanden; sie hatte keinen Platz, um an dem wartenden Auto vorbeizugelangen, selbst wenn sie dadurch nicht Gefahr gelaufen wäre, auf eine vierspurige, stark befahrene Autobahn zu schlittern.

Webb! Lieber Gott, Webb. Sie umkrallte das Lenkrad und erstickte fast vor Panik, während die Sekunden vorübertickten und die Zeit immer knapper wurde. Sie durfte jetzt nicht sterben, nicht jetzt, wo sie Webb hatte, wo sein Kind in ihr zu wachsen begann. Es mußte etwas geschehen ...

Aber ich weiß ja, was zu tun ist, kam ihr die Erinnerung wie eine Erleuchtung, die die sich anbahnende Lähmung wegfegte. Sie war eine schreckliche Fahrerin gewesen, deshalb hatte sie im College einen Wiederauffrischungskurs belegt. Daher wußte sie auch, wie man einen ins Schleudern geratenen Wagen wieder unter Kontrolle brachte, und was im Falle von Bremsversagen zu tun war.

Das hatte sie geübt!

Ihr Auto schoß dahin, als ob es bergab ginge und die Fahrbahn seifenglatt wäre.

Sie hörte die ruhige, klare Stimme ihres Fahrlehrers: vermeiden Sie, wenn irgend möglich, eine direkte Kollision, denn auf diese Weise passieren die schlimmsten Unfälle. Steuern Sie den Wagen in die Parallele und kollidieren Sie breitseitig, das verringert den Aufprall.

Also griff sie nach dem Knüppel der Automatikschaltung. Ja nicht den Parkgang einlegen! ermahnte sie sich, während ihr Gedächtnis die vor langer Zeit eingeschärften Instruktionen wieder freigab. Ihr Fahrlehrer hatte gesagt, daß sie den Parkgang wahrscheinlich ohnehin nicht reinbekommen würde. Sie hörte seine Stimme so deutlich, als würde er neben ihr sitzen: Legen Sie den niedrigstmöglichen Gang ein und ziehen Sie die Notbremse. Diese Bremse funktioniert mit einem Stahlkabel, nicht mit Pneumatik, Bremsflüssigkeitsverlust steht hier nicht zur Debatte.

Das wartende Auto war jetzt nur mehr etwa fünfzig Meter von ihr entfernt – der auf sie zufahrende Wagen noch weniger.

Sie legte einen niedrigeren Gang ein und griff nach der Notbremse. Mit aller Kraft zog sie daran. Der Motor protestierte laut quietschend, und Rauch stieg von ihren Reifen auf. Der Geruch nach verbranntem Gummi lag in der Luft.

Das Heck des Wagens wird wahrscheinlich ins Schleudern geraten. Jetzt gegenlenken, wenn Sie können. Falls Sie keinen Platz haben und merken, daß Sie mit einem anderen Wagen zusammenstoßen werden, dann steuern Sie so, daß es eine indirekte Kollision wird. So haben Sie beide bessere Chancen, lebend davonzukommen.

Ihr Heck schlingerte auf die andere Fahrbahnseite, vor das auf sie zufahrende Auto. Eine Hupe blökte, und Roanna erhaschte einen Blick auf ein zorniges, erschrockenes Gesicht, das jedoch schon wieder weg war, bevor sie es richtig durch die Windschutzscheibe wahrnahm. Sie warf das Lenkrad herum und merkte, wie der Wagen in die andere Richtung rutschte, dann wiederholte sie das Manöver, um auch diese Bewegung zu korrigieren.

Das herankommende Auto schoß laut hupend, nur wenige Zentimeter entfernt, an ihr vorbei. Jetzt blieb noch der Pkw, der auf ihrer Seite stand und geduldig auf eine Lücke im Verkehr wartete, um nach links abbiegen zu können.

Zwanzig Meter. Kein Platz mehr, keine Zeit! Jetzt, wo die linke Fahrbahn frei war, riß Roanna das Steuer herum und lenkte den eiernden Wagen zur anderen Seite. Ein Maisfeld erstreckte sich dort, schön groß und flach. Sie rumpelte von der Fahrbahn und pflügte sich in das Feld. Mutig ließ sie sich in den Holzzaun krachen – ein großes Stück davon ging zu Boden. Das Gefährt schoß in die mannshohen Maisstengel und mähte sie nieder, Erdklumpen flogen in alle Richtungen. Durch die Wucht wurde sie nach vorn geschleudert, ihr Sicherheitsgurt rastete ein und riß sie beim Anhalten hart zurück.

Ihr Kopf sank auf das Lenkrad, und sie saß wie betäubt da, zu schwach, um auszusteigen. Benommen untersuchte sie sich. Alles schien noch heil zu sein.

Sie merkte, daß sie am ganzen Leib zitterte. Aber es war tatsächlich geschafft!

Jemand rief etwas, dann ertönte ein Klopfen an ihrer Seitenscheibe. »Ma'am? Ma'am? Ist alles in Ordnung?«

Roanna hob den Kopf und starrte in das verängstigte Gesicht eines jungen Mädchens. Mit übermenschlicher Willensanstrengung zwang sie sich, den Sicherheitsgurt zu öffnen. Als sie versuchte, die Tür aufzumachen, merkte sie, daß es nicht ging. Sie stemmte sich dagegen, und das Mädchen zog von außen; gemeinsam bekamen sie die Tür so weit auf, daß sie sich hinauszwängen konnte. »Bin okay«, stieß sie mühsam hervor.

»Ich hab gesehen, wie sie von der Straße abdrifteten. Sind Sie sicher, daß Sie nicht verletzt sind? Sie haben diesen Zaun direkt von vorne genommen.«

»Ja, und er hat das Schlimmste abgefangen.« Roannas Zähne begannen zu klappern; sie mußte sich an den Wagen lehnen, um nicht umzukippen. »Meine Bremsen haben versagt.«

Das junge Mädchen riß entsetzt die Augen auf. »O Mann! Sie sind von der Straße gefahren, damit Sie nicht auf mich draufkrachten, stimmt's?«

»Es erschien mir immer noch das kleinere Übel«, ächzte sie und ihre Knie gaben nach.

Das Mädchen sprang vor und schlang einen Arm um ihre Taille. »Sie sind doch verletzt!«

Roanna schüttelte den Kopf und zwang sich, kräftig durchzuatmen, als sie sah, daß das Mädchen jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. »Nein, ich hab bloß einen Riesenschreck gekriegt, das ist alles. Meine Beine fühlen sich an wie Spaghetti.« Sie holte nochmal tief Luft und beruhigte sich etwas. »Ich habe ein Handy im Auto. Wir rufen einfach jemanden an, der mich abholen kommt ...«

»Moment, ich hol es gleich«, erbot sich das Mädchen und zerrte die Tür weiter auf, so daß sie hineinkriechen und nach dem Handy suchen konnte. Zu guter Letzt fand sie es unter dem Beifahrersitz.

Roanna gab sich einen Ruck, bevor sie zu Hause anrief. Das letzte, was sie jetzt wollte, war Webb oder Lucinda unnötig zu beunruhigen; also mußte sie zusehen, daß ihre Stimme einigermaßen gefaßt klang.

Bessie nahm ab, und Roanna fragte nach Webb. Er war ei nen Augenblick später am Telefon. »Du bist keine fünf Minuten weg«, neckte er sie. »Was ist dir jetzt schon wieder eingefallen?«

»Nichts«, erwiderte sie und war stolz, wie ruhig sie klang. »Komm zur Highwayeinmündung und hol mich ab. Ich hatte Probleme mit den Bremsen und bin von der Straße abgekommen.«

Er erwiderte nichts darauf. Sie hörte ihn wild fluchen, dann ertönte ein Klappern und die Leitung war tot. »Es ist schon jemand unterwegs«, teilte sie dem Mädchen mit und drückte auf den Ende-Knopf.

Webb verfrachtete Roanna in seinen Truck und bedankte sich bei der jungen Dame, die sich Roannas angenommen hatte. Dann raste er nach Davenport zurück. Er fuhr so schnell, daß Roanna sich am Haltegriff oben an der Beifahrertür festklammerten mußte. Als sie vor dem Eingang anlangten, bestand er darauf, sie hineinzutragen.

»Laß mich sofort runter!« zischte sie, als er sie auf seine Arme hob. »Du wirst noch alle zu Tode erschrecken.«

»Sei still«, sagte er und küßte sie gebieterisch. »Ich liebe dich und du bist schwanger. Dich reinzutragen beruhigt mich.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals und verstummte. Und sie mußte zugeben, daß die Wärme und Kraft seines starken Körpers ungemein tröstlich auf sie wirkten, als ob etwas von seiner Stärke in sie eindränge. Aber wie erwartet brachte die Tatsache, daß sie nicht auf ihren eigenen zwei Beinen hereinspazierte, alle im Sturmschritt herbei.

Webb trug sie ins Wohnzimmer und setzte sie so vorsichtig auf einem Sofa ab, als ob sie aus Porzellan wäre. »Ich bin okay, ich bin okay«, beantwortete sie ohne Unterlaß den Chor besorgter Fragen. »Nicht mal blaue Flecken hab ich!«

»Bring ihr was Heißes und Süßes zum Trinken«, befahl er Tansy, die spornstreichs davoneilte.

»Entkoffeiniert!« rief Roanna ihr hinterher, die an ihr Kind dachte.

Nachdem er sich nochmal abschließend bei ihr erkundigt hatte, ob sie auch wirklich wieder auf dem Damm sei, erhob sich Webb und sagte, daß er rausfahren und sich den Wagen einmal ansehen wollte. »Ich komme mit«, sagte Roanna erleichtert und stand auf. Sie war heilfroh, von all der Fürsorge um sie herum wegzukommen. Sofort fielen die weiblichen Bewohner des Hauses mit Protesten über sie her.

»Das wirst du ganz sicher nicht, junge Dame«, sagte Lucinda streng. »Du hast einen Schock erlitten und brauchst jetzt Ruhe.«

»Mir fehlt nicht das geringste«, begehrte Roanna auf und fragte sich, ob ihr auch nur einer zuhörte.

»Dann schone dich mir zuliebe! Es würde mich zutiefst beunruhigen, wenn du durch die Weltgeschichte gondelst, während dir der gesunde Menschenverstand sagen müßte, erhol dich jetzt zuerst mal von deinem Schock!«

Roanna warf Webb einen flehentlichen Blick zu. Er zog eine Augenbraue hoch und zuckte ohne eine Spur von Mitleid mit den Schultern. »Kann echt nicht zulassen, daß du durch die Weltgeschichte gondelst«, echote er und wies mit einem vielsagenden Blick auf ihren Bauch.

Roanna setzte sich wieder hin, und ein Gefühl von Wärme breitete sich in ihr aus bei diesem heimlichen Einverständnis zwischen ihnen. Und obwohl Lucinda Erpressung anwendete, um ihren Willen durchzusetzen, so tat sie dies aus aufrichtiger Sorge. Roanna sah ein, daß es auch nicht unbedingt schadete, sich für den Rest des Tages verwöhnen zu lassen.

Webb ging hinaus zu seinem Pickup. Nachdenklich starrte er auf die Stelle, an der zuvor Roannas Wagen gestanden hatte. Ein dunkler, nasser Fleck war zu sehen, sogar aus diesem Abstand. Er marschierte dorthin und bückte sich, um den Fleck einen Moment lang zu betrachten, bevor er ihn mit dem Finger berührte und dann an der öligen Flüssigkeit roch. Bremsflüssigkeit, ohne Zweifel, und zwar jede Menge. Es mußte nur noch ein jämmerlicher Rest in ihren Bremsen gewesen sein, den sie schon beim ersten Bremsversuch hinausgepumpt hatte.

Sie hätte umkommen können. Wenn sie statt in das Maisfeld auf den Highway geschlittert wäre, dann wäre sie jetzt wahrscheinlich schwer verletzt, wenn nicht gar tot.

Eine kalte Angst krampfte seinen Magen zusammen. Der unheimliche Unbekannte konnte wieder zugeschlagen haben, doch diesmal war Roanna sein Ziel gewesen. Warum auch nicht? Mit Jessie hatte er es ja auch geschafft.

Er benutzte nicht das schnurlose Telefon in seinem Auto, da es zu leicht abgehört werden konnte, und ging auch nicht zurück ins Haus, da er bloß alle möglichen Fragen hätte beantworten müssen. Statt dessen hastete er zu den Ställen und benutzte Loyals Telefon. Der Pferdetrainer hörte zu, als Webb den Sheriff anrief, und seine buschigen Brauen zogen sich zornig zusammen.

»Sie glauben, jemand hat versucht, Miss Roanna etwas anzutun?« fragte er, sobald Webb aufgelegt hatte.

»Ich weiß nicht. Es ist möglich.«

»Vielleicht derselbe, der ins Haus eingebrochen ist?«

»Könnte zutreffen, wenn an ihren Bremsen herumgepfuscht wurde.«

»Das würde bedeuten, jemand war letzte Nacht hier und hat sich an ihrem Auto vergriffen.«

Webb nickte. Sein Gesichtsausdruck war steinern. Er wollte keine vorschnellen Schlüsse ziehen, solange er nicht sicher wußte, daß Roannas Wagen sabotiert worden war; dennoch überfiel ihn kalte Wut und Panik bei dem Gedanken, daß sich der Mann in ihrer Nähe herumtrieb.

Er fuhr zu der Kurve, wo die Landstraße in den Highway einmündete, und achtete wie ein Habicht auf seine Umgebung. Hier konnte es sich kaum um eine Falle handeln, die ihn aus dem Haus locken sollte; denn der Täter war nicht in der Lage vorauszusehen, wo Roanna der Unfall passieren würde. Obwohl es bei ihm klingelte, daß dies auch die ungefähre Stelle war, an der man auf ihn geschossen hatte – fürchtete er doch, daß der Anschlag diesmal speziell Roanna gegolten hatte und nicht ihm. Vielleicht war sie auch neulich nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, als sie im Haus niedergeschlagen worden war. Vielleicht hatte sie statt dessen ja Glück gehabt, daß sie schreien und die Familie alarmieren konnte, bevor der verdammte Bastard sein Vorhaben beendete.

Jessie war umgebracht worden, aber das schwor er: Er würde nicht zulassen, daß Roanna etwas geschah. Egal was er tun mußte, für ihre Sicherheit würde er sorgen!

Er parkte den Pickup am linken Straßenrand, gleich bei dem umgefahrenen Zaunstück, und wartete auf den Sheriff. Es dauerte nicht lange, bis Beshears auftauchte, und Booley hockte neben ihm auf dem Beifahrersitz. Die beiden Männer stiegen aus und gingen zu Webb. Zusammen schritten sie über das niedergemähte Maisfeld zu dem verunglückten Wagen. Alle schwiegen grimmig. Nach den beiden anderen Vorfällen war es ein wenig zuviel verlangt, das hier für Zufall zu halten, und alle wußten es.

Webb legte sich auf den Rücken und glitt vorsichtig unter den Wagen. Umgeknickte Maisstengel stachen ihn in den Rücken, und winzige Insekten umschwirrten ihn. Der Geruch von Öl und Bremsflüssigkeit stieg ihm in die Nase. »Carl, reichen Sie mir doch mal ihre Taschenlampe«, sagte er, und die große Stablampe wurde ihm ausgehändigt.

Er knipste sie an und leuchtete damit auf die Bremsleitung. Der Schnitt war nicht schwer zu entdecken; er erblickte ihn beinahe sofort. »Ihr solltet euch das einmal ansehen«, bellte er.

Carl legte sich nieder und robbte mühsam unter das Auto. Er fluchte, als ihm die scharfen Maisstengel die Haut aufkratzten. »Ich bin einfach zu alt für sowas«, brummte er. »Autsch!« Booley verzichtete darauf, sich zu ihnen zu gesellen; denn die Pfunde, die er seit seiner Pensionierung zugelegt hatte, verweigerten ihm soviel Akrobatik.

Carl rückte neben Webb und verzog finster das Gesicht, als er die Bremsleitung sah. »Der verdammte Hundesohn«, knurrte er und hob den Kopf, um sich die Leitung so genau wie möglich anzusehen, ohne sie dabei jedoch zu berühren. »Fast ganz durchgeschnitten. Ein frischer, sauberer Schnitt. Selbst wenn sie es bis auf den Highway geschafft hätte, hätte es spätestens an der Kreuzung zum 157er gekracht. War wohl reines Glück, daß sie ins Maisfeld gesaust ist.«

»Geschicklichkeit, nicht Glück«, sagte Webb. »Sie hat auf dem College einen Schleuderkursus belegt.«

»Ohne Scheiß. Ich wünschte, mehr würden das machen, dann müßten wir vielleicht nicht so viele vom Asphalt klauben.« Er warf einen Blick auf Webb, sah seinen zusammengekniffenen Mund und entschuldigte sich. »Tut mir leid.«

Vorsichtig robbten sie wieder unter dem Wagen hervor, und Carl fluchte erneut, als ihm ein Maisstengel ein Loch ins Hemd riß.

»Haben Sie sich die anderen Fahrzeuge Ihrer Angehörigen auch angesehen?« fragte Booley.

»Ich hab einen raschen Blick unter jedes geworfen. Roannas war das einzige, an dem rumgemacht wurde. Sie stellt es normalerweise in der Garage ab, aber letzte Nacht hat sie es draußen gelassen.«

»Also, das ist doch schon sehr seltsam.« Carl kratzte sich am Kinn, was er immer tat, wenn er nachdachte. »Warum hat sie nicht in der Garage geparkt?«

»Corliss stand auf ihrem Platz. Wir hatten in letzter Zeit ein paar Probleme mit ihr, also hab ich ihr gesagt, sie müßte ausziehen. Ich wollte noch hinzufügen, daß sie ihren Wagen wegfahren muß; aber Ro meinte, ich soll es bleibenlassen, denn es gäbe ja doch bloß wieder Streit und Lucinda würde sich aufregen.«

»Vielleicht hätten Sie es trotzdem tun sollen. Trauen Sie Corliss so etwas zu?«

»Es würde mich überraschen, wenn Corliss eine Bremsleitung von einer Wasserleitung unterscheiden könnte.«

»Hat sie vielleicht Freunde, die sowas für sie erledigen würden?«

»Die letzten zehn Jahre war ich in Arizona«, erwiderte Webb. »Ich weiß nicht, mit welchen Leuten sie sich rumtreibt. Aber wenn sie jemanden darum bäte, eine Bremsleitung zu beschädigen, dann meine und nicht Roannas.«

»Aber Ihr Auto war in der Garage.«

»Corliss hat einen automatischen Türöffner. Wir alle haben einen. Wenn sie dahintersteckt, dann wär es egal, ob der Wagen in der Garage steht oder nicht.«

Carl kratzte sich wieder am Kinn. »Also, paßt einfach gar nichts zusammen. Mir kommt es vor, als hätten wir Teile aus zehn verschiedenen Puzzles, die alle woanders hingehören. Das hier macht einfach keinen verdammten Sinn!«

»Oh, es paßt schon«, meinte Booley grimmig. »Wir wissen bloß nicht, wie.«