13
Roanna warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Landratsversammlung dauerte länger als üblich, und sie mußte bald aufbrechen, wenn sie nicht zu spät zu ihrer Lunchverabredung in Florence kommen wollte. Offiziell hatten die Davenports keinen Sitz im Landrat; aber es war beinahe Tradition, daß ein Mitglied der Familie die Versammlungen besuchte. Die Unterstützung der Davenports entschied nicht selten über das Ende oder den Fortgang eines Gemeindeprojekts.
Als Roanna anfing, an Lucindas Stelle die Versammlungen zu besuchen, ignorierte man sie größtenteils oder tat sie mit einer Art Kopftätscheln ab. Sie hörte nur zu und berichtete Lucinda alles; zu mehr raffte sie sich immer noch nicht auf. Aber wenn Lucinda sich zu einem Vorhaben äußerte, pflegte sie zu sagen, »Roanna glaubt« oder »Roanna hatte den Eindruck«, und die braven Landratsmitglieder begriffen bald, daß sie gut daran taten, die verschlossene junge Frau, die sich fast nie äußerte, ernstzunehmen. Und was Lucinda sagte, war auch nicht erfunden; Roanna erzählte ihr tatsächlich, was sie dachte und wie sie Dinge beurteilte. Sie war schon immer eine aufgeweckte Beobachterin gewesen, doch viel zu lebhaft, so daß ihr die Einzelheiten oft entgingen, als führe sie mit überhöhter Geschwindigkeit an einem Autobahnschild vorbei: Sie sah es zwar, konnte aber nicht lesen, was darauf stand. Jetzt jedoch war Roanna ruhig und schweigsam, und ihre braunen Augen glitten von Gesicht zu Gesicht, absorbierten die Nuancen, den Tonfall, die Reaktionen der Leute. Und alles wanderte stracks zu Lucinda, die ihre Entscheidungen, basierend auf Roannas Eindrücken, fällte.
Jetzt, wo Webb wieder da war, würde er die Versammlungen an ihrer Stelle besuchen, so wie früher. Wahrscheinlich saß sie hier zum Zuhören und Beobachten das letzte Mal – noch eine Aufgabe, die sie in Zukunft nicht mehr zu erfüllen brauchte. In einem fernen Winkel spürte sie ein Ziehen, spürte die Angst davor, überflüssig zu sein; doch sie ließ sie nicht an die Oberfläche.
Die Versammlung ging endlich ihrem Ende zu. Sie blickte nochmals auf ihre Uhr und sah, daß sie vielleicht noch fünf Minuten hatte, bevor sie wirklich gehen mußte, um nicht zu spät zu kommen. Normalerweise nahm sie sich die Zeit, mit jedem ein Schwätzchen zu halten, aber heute konnte sie höchstens noch ein Wort mit dem Landratsvorsitzenden wechseln.
Er kam soeben auf sie zu, ein kleiner, untersetzter Mann mit einer beginnenden Glatze und einem zerfurchten Gesicht. Die Furchen zogen sich zu einem breiten Lächeln aus einander, als er sich ihrem Stammplatz in der letzten Sitzreihe, nahe dem Ausgang, näherte. »Wie geht es Ihnen heute, Roanna?«
»Danke gut, Chet«, erwiderte Roanna und beschloß, ihm gleich Webbs Rückkehr mitzuteilen. »Und Ihnen?«
»Kann nicht klagen. Nun, ich könnte vielleicht, aber meine Frau sagt, Jammern interessiert keinen!« Er lachte über seinen Witz, und seine Augen funkelten. »Und wie geht es Miss Lucinda?«
»Viel besser, jetzt wo Webb wieder da ist«, sagte sie ruhig.
Erstaunt riß er den Mund auf, und eine Sekunde stand ihm das Entsetzen deutlich auf der Stirn geschrieben. Ohne zu überlegen, stieß er hervor: »Du liebe Güte, was werdet ihr jetzt bloß tun?« bevor ihm der Sinn ihrer Bemerkung aufging und sich demnach Beileidsbezeugungen erübrigten. Er wurde krebsrot und fing an zu stottern. »Ich – äh, also das heißt ...«
Roanna hob die Hand, um seinen verbalen Bauchaufschwüngen Einhalt zu gebieten. »Natürlich übernimmt er wieder die Zügel«, sagte sie, als ob Webbs Rückkehr das Selbstverständlichste wäre von der Welt. »Er wird wohl ein paar Wochen brauchen, um sich zu informieren; aber ich bin sicher, daß er sich bald mit Ihnen in Verbindung setzt.«
Der Vorsitzende kämpfte mit seiner Fassung. Er sah aus, als ob ihm ein wenig übel wäre, doch energisch riß er sich zusammen. »Roanna, ich glaube wirklich nicht, daß das eine so gute Idee ist. Sie haben die Dinge doch prächtig für Miss Lucinda erledigt, und die Leute hier würden sich mit Ihnen viel wohler fühlen ...«
Roanna blickte ihn sehr direkt an. »Webb übernimmt Davenport wieder«, sagte sie leise. »Es würde Lucinda zwar Kummer bereiten, wenn gewisse Leute ihre Geschäfte mit uns aufkündigen würden, doch das muß natürlich jeder selbst entscheiden.«
Er schluckte, und sein Adamsapfel schoß auf und nieder. Roanna hatte soeben klargestellt, daß jeder, der Webb nicht akzeptierte, auf die Unterstützung der Davenports verzichten mußte. Sie wurde niemals zornig, erhob nie ihre Stimme, beharrte nie auf ihrer Meinung, ja, äußerte sie kaum einmal; aber die Leute hatten gelernt, den Einfluß, den diese ernste junge Frau auf Lucinda Davenport hatte, nicht zu unterschätzen. Außerdem mochten die meisten sie – so einfach war das. Und niemand wünschte sich einen offenen Bruch mit der alteingesessenen Familie.
»Das ist wahrscheinlich die letzte Monatsversammlung, die ich besuche«, fuhr sie fort.
»Sei da mal nicht so sicher«, ertönte eine tiefe, gemächliche Stimme von der Tür gleich hinter ihr.
Überrascht wirbelte Roanna herum und sah Webb eintreten. »Wie bitte?« sagte sie. Was tat er hier? Er hatte sich nicht mal umgezogen. Hatte er solche Angst, daß sie etwas Falsches machen würde, daß er zur Versammlung gerast war, ohne vorher auch nur auszupacken?
»Hallo, Chet«, sagte Webb leutselig und hielt dem Vorsitzenden die Hand hin.
Das Gesicht das Mannes lief rot an. Er zögerte, doch dann gewann sein Politikerinstinkt die Partie, und er schüttelte Webb die Rechte. »Webb! Wenn man vom Teufel spricht! Roanna hat mir gerade erzählt, daß Sie wieder zu Hause sind. Sie sehen gut aus, wirklich gut!«
»Danke. Ihnen scheint es ja auch nicht gerade schlecht zu gehen.«
Chet tätschelte liebevoll sein Bäuchlein und lachte herzlich. »Zu gut geht es mir sogar! Willadean sagt immer, wenn Liebe wirklich durch den Magen geht, dann liebe ich sie von Tag zu Tag mehr!«
Die Leute hatten Webb inzwischen bemerkt, und ein aufgeregtes Tuscheln, das immer lauter wurde, durchzog den Saal. Roanna blickte Webb an, und das Funkeln in seinen grü nen Augen verriet ihr, daß er sich des Aufruhrs, den er verursachte, durchaus bewußt war und diebisch darüber freute.
»Glaub ja nicht, du könntest einfach untertauchen«, warnte er Roanna lächelnd. »Bloß weil ich wieder daheim bin, heißt das noch lange nicht, daß du dir von jetzt an einen schönen Lenz machen kannst. Wir werden in Zukunft eher zusammen auf die Versammlungen gehen.«
Trotz ihres Schocks nickte Roanna ernst.
Webb warf einen Blick auf seine Uhr. »Hast du nicht eine Verabredung in Florence? Du wirst zu spät kommen, wenn du dich nicht beeilst.«
»Bin schon unterwegs. Tschüs, Chet!«
»Ich sehe Sie ja dann beim nächsten Mal«, sagte der Landratsvorsitzende in der aalglatten Freundlichkeit, um die er sich die ganze Zeit schon bemühte. Roanna schlüpfte an ihm vorbei in den Gang hinaus.
»Ich bringe dich zu deinem Wagen.« Webb nickte dem Vorsitzenden zu und schloß sich Roanna an.
Es machte sie ganz nervös, daß er so nahe neben ihr herging, während sie den Korridor entlangschritten. Mit seiner Größe überragte er sie spielend, obwohl sie hohe Absätze trug. Sie wußte nicht, was sie von alldem halten sollte, also verkniff sie sich etwaige voreilige Schlüsse. Vielleicht wollte er ja wirklich mit ihr zusammenarbeiten, oder er sagte das nur, um sich die Sache zu erleichtern. Nun, kommt Zeit, kommt Rat, und sie würde sich hüten, allzu große Hoffnungen zu nähren. Wenn sie sich keinen Illusionen hingab, konnte sie auch nicht enttäuscht werden.
Sämtliche Leute, denen sie begegneten, drehten sich um und starrten Webb nach. Roanna beschleunigte ihre Schritte, um aus dem Gebäude herauszukommen, bevor sich irgendwelche Szenen ergaben. Sie war am Ende des Gangs angelangt, und Webbs Arm schoß an ihr vorbei, um die Tür für sie zu öffnen. Sie fühlte seinen muskulösen Körper in ihrem Rücken.
Gemeinsam traten sie in den blendenden, erstickend schwülen Sommermorgen hinaus. Roanna förderte die Autoschlüssel zutage und setzte ihre Sonnenbrille auf. »Was hat dich hergeführt?« fragte sie »Eigentlich hatte ich dich nicht erwartet.«
»Ich dachte, ich könnte ebensogut gleich das Eis brechen, wie später.«
Seine langen Beine hielten mühelos mit ihrem Eiltempo Schritt. »Langsam, es ist zu heiß zum Joggen.«
Gehorsam verlangsamte sie ihre Gangart. Ihr Wagen stand am Ende einer langen Reihe parkender Autos, und wenn sie den ganzen Weg bis dorthin hetzte, würde sie in Schweiß gebadet ankommen. »Hast du das ernst gemeint, was du über die Versammlungen gesagt hast?« fragte sie.
»Todernst!« Auch er hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt, so daß sie den Ausdruck in seinen Augen nicht sehen konnte. »Lucinda hat ein Loblied auf dich gesungen. Du weißt bereits über alles Bescheid – ich wäre ein Dummkopf, wenn ich das nicht ausnützen würde.«
In Geschäftsangelegenheiten war Webb alles andere als ein Dummkopf. Roanna wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken, tatsächlich mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Sie hatte sich auf alles vorbereitet, vom Ignoriertwerden bis zum Rausschmiß, aber daß er ihre Hilfe in Anspruch nehmen würde, das gewiß nicht.
Sie kamen bei ihrem Wagen an, und Webb nahm ihr die Schlüssel aus der Hand. Er schloß die Tür auf und öffnete sie für sie, dann gab er ihr die Schlüssel wieder. Einen Moment lang wartete sie, damit die im Innern aufgestaute Hitze etwas entweichen konnte, dann schlüpfte sie hinters Lenkrad. »Sei vorsichtig«, bat er sie und schloß die Wagentür.
Roanna sah in den Rückspiegel, während sie aus der Parklücke steuerte. Er ging zurück zum Rathaus; vielleicht hatte er weiter oben geparkt oder wollte nochmals in das Gebäude. Sie ließ ihren Blick hungrig über ihn gleiten, über den muskelbepackten Rücken und die langen Beine, einen herrlichen Augenblick lang – dann zwang sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße und fädelte sich in den Verkehr ein.
Webb schloß sein eigenes Auto auf und klemmte sich hinters Steuer. Der Grund, der ihn in die Stadt getrieben hatte, war einfach, aber zwingend. Er hatte Roanna sehen wollen. Sie bloß sehen, nicht mehr. Nach all den entsetzlichen Dingen, die ihm Lucinda erzählt hatte, war sein alter Beschützerinstinkt wiedererwacht, und er hatte sich mit eigenen Augen davon überzeugen müssen, daß mit ihr alles in Ordnung war.
Selbstverständlich kam sie bestens zurecht. Er hatte gesehen, wie geschickt sie mit Chet Forrister fertiggeworden war. Keine Sekunde lang hatte sie sich von dem Protest des Landratsvorsitzenden aus der Ruhe bringen lassen – und zwar um seinetwillen. Jetzt verstand er genau, was Lucinda damit meinte, wenn sie sagte, Roanna wäre stärker geworden, hätte sich in dieser Hinsicht verändert. Sie brauchte ihn nicht mehr!
Diese Erkenntnis traf ihn überraschend schmerzlich.
Eigentlich sollte er froh sein, um ihretwillen. Die junge Roanna war schrecklich verletzbar gewesen, ein leichtes Ziel für jeden, der einen Schuß auf ihre zarte Gefühlswelt abgab. Andauernd hatte er sich für sie in die Bresche werfen, sie beschützen müssen, und als Belohnung bekam er ihre uneingeschränkte Bewunderung und Liebe.
Jetzt hatte sie sich einen inneren Schutzpanzer zugelegt. Sie war kühl und beherrscht, fast emotionslos, und hielt die Leute auf Distanz, so daß ihre Pfeile und Sticheleien sie nicht treffen konnten. Roanna hatte wahrhaft für diesen Panzer bezahlt, beinahe mit ihrem Leben, aber er war zuverlässig. Allerdings peinigte sie immer noch Schlaflosigkeit, und wenn sie es schaffte einzuschlafen, quälten sie Alpträume – aber sie wurde allein damit ferig.
Als er heute morgen durch die Tür gekommen war und sie dort auf der Treppe hatte stehen sehen, in ihrem eleganten, enganliegenden Seidenkleid und den Perlohrringen, das kastanienbraune Haar zu einer glatten Frisur gekämmt, hatte es ihm beinahe die Sprache verschlagen: angesichts des Gegensatzes zwischen dem einstigen unordentlichen, zerzausten Mädchen und der beeindruckenden, klassisch-eleganten Frau, die sie nun war.
Wenn er sie jetzt anblickte, sah er nicht den kleinen Fratz mit dem ungezähmten Mundwerk oder den linkischen Teenager. Er mußte an den schlanken Leib unter dem Seidenkleid denken, an ihre Haut, die ebenso samtig und zart war wie ihr Gewand, mußte daran denken, wie sich ihre Brustwarzen bei der kleinsten Berührung verhärtet hatten, in jener langen Nacht in Nogales.
Er hatte seinen nackten Körper über den ihren geschoben, hatte ihr Beine weit auseinandergedrückt und sie entjungfert. Selbst jetzt, in der erstickenden Hitze unter dem Blech, lief ihm bei dieser Erinnerung ein Schauder über den Rücken. Herrje, jede kleine Einzelheit hielt er sich vor Augen – wie es war, sich in sie hineinzuwinden, ihr weicher, heißer, enger Schaft, der ihn umschloß wie eine zweite Haut. Er erinnerte sich, wie zart sie war, als sie unter ihm lag, ihr schmaler Körper war von seiner Größe und seinem Gewicht fast erdrückt worden. Er hatte sie in seinen Armen wiegen, sie beschützen, beruhigen wollen, sie glücklich machen – alles, bloß nicht aufhören. Aufhören hätte er beim besten Willen nicht gekonnt.
Diese Bilder machten ihn schon seit zehn Tagen ganz verrückt, raubten ihm den Schlaf, störten ihn bei der Arbeit. Als er sie heute wiedersah, traf ihn schlagartig der Gedanke, daß sie ihm gehörte. Sie war sein, und er wollte sie. Er begehrte sie so sehr, daß seine Hände zu zittern angefangen hatten. Nur unter Aufbietung seiner gesamten Willenskraft konnte er sich daran hindern, die paar Stufen zu ihr raufzuspringen, sie am Arm zu packen und zum nächsten leeren Schlafzimmer zu dirigieren, egal welches, wo er ihr den Rock hochziehen und sich wieder in ihr vergraben wollte.
Er hatte sich nur aus einem einzigen Grund zurückgehalten. Roanna hatte ihren inneren Schutzwall sorgfältig wieder aufgebaut. Aber jede Festung besaß einen Schwachpunkt, und er wußte genau, wo ihrer lag.
Bei ihm.
Gegen jeden anderen konnte sie sich abgrenzen, nur nicht gegen ihn.
Sie hatte gar nicht erst versucht, es zu verbergen oder zu leugnen. Mit niederschmetternder Ehrlichkeit hatte sie zugegeben, daß er nur mit dem Finger zu schnippen brauchte und sie würde angerannt kommen. Sie wäre ihm die Treppe hinauf gefolgt und hätte ihn alles mit sich machen lassen, was er wollte.
Webb trommelte mit den Fingern auf das glühende Lenkrad. Es schien, als ob er noch einen Drachen für Roanna würde besiegen müssen, und das war sein eigenes Verlangen nach ihr.
Er hatte ihr gesagt, daß er heimkommen würde, wenn sie ihm im Gegenzug ihren Körper anbot, und sie hatte ohne Zögern eingewilligt. Wenn er sexuell Dampf ablassen mußte, dann stände sie ihm zur Verfügung. Sie tat es für Lucinda, für Davenport, für ihn – aber was war mit ihr?
Er wußte, daß er jederzeit in Roannas Zimmer marschieren und sie sich nehmen konnte, und die Versuchung nagte jetzt schon an ihm. Aber er wollte nicht, daß Roanna aus Schuld oder Pflicht oder gar aus irregeleiteter Heldenverehrung mit ihm ins Bett ging. Er war kein Held, verdammt nochmal, sondern ein Mann. Sie sollte ihn als Mann begehren, als männliche Ergänzung zu ihrer Weiblichkeit. Wenn sie in sein Bett kam, nur weil sie geil war und sich nach der Befriedigung sehnte, die er ihr verschaffen konnte – nun, auch darüber würde er sich freuen, ja entzückt sein; denn dieses Motiv war simpel und unkompliziert.
Und wie stand es mit seinen eigenen Motiven?
Er blinzelte, weil ihm der Schweiß in die Augen rann und brannte. Mit einem unterdrückten Fluch startete er den Motor und damit auch die Klimaanlage, deren Gebläse sich sofort lautstark bemerkbar machte. Wahrscheinlich traf einen der Hitzschlag, wenn man mitten im Sommer in einem geschlossenen Wagen saß und versuchte, sich über seine Gefühle klarzuwerden.
Seine Liebe hieß Roanna, sein Leben lang hatte er sie geliebt – aber wie eine Schwester: mit amüsierter Nachsicht und brüderlichem Beschützerinstinkt.
Auf das heftige, überwältigende Aufflammen körperlicher Leidenschaft war er nicht gefaßt gewesen, als sie ihm damals, vor zehn Jahren, die Arme um den Hals geworfen und ihn geküßt hatte. Aus dem Nichts überfiel sie ihn, diese Leidenschaft – wie ein Wirbelsturm, der eingeschlossen gewesen war, bis er seinen Höhepunkt erreichte, um dann mit einem Mal in einen Rausch auszuarten. Es hatte ihn zutiefst erschüttert, heftige Schuldgefühle plagten ihn. Alles an der Sache hing schief. Sie war viel zu jung, für ihn immer wie eine kleine Schwester, und er war verheiratet, zum Teufel nochmal. Die eigentliche Schuld ging auf sein Konto. Auch wenn seine Ehe praktisch nicht mehr existierte, so war er immer noch verheiratet gewesen. Und er besaß die Erfahrung; er hätte aus dem Kuß auf sanfte Weise eine Geste mit impulsiver Zuneigung machen müssen, irgendwas, das sie nicht in Verlegenheit gebracht hätte. Statt dessen hatte er sie fester an sich gezogen und den Kuß vertieft, einen Kuß, wie ihn sich nur Erwachsene gaben, aufgeladen mit Sexualität. Was passiert war, hatte er auf seine Kappe zu nehmen, nicht Roanna, die sich immer noch damit herumschlug.
Die meisten der ursprünglichen Barrieren, die einer sexuellen Beziehung zwischen ihm und Roanna im Weg standen, gab es nicht mehr. Roanna war jetzt eine erwachsene Frau, er Witwer; und er konnte beim besten Willen nicht behaupten, daß er noch brüderliche Gefühle für sie hegte. Doch jetzt bestanden andere Hindernisse: die Familie, Roannas Pflichtgefühl, sein Stolz.
Mit einem verächtlichen Schnauben legte er den Gang ein. Lieber Himmel, ja, laß uns bloß nicht meinen männlichen Stolz vergessen! Er wünschte sich, daß sie mit ihm schlief, weil sie ihn wollte – aus keinem anderen Grund. Nicht für Davenport, nicht für die Familie oder aus ähnlich abwegigen Gründen. Ausschließlich um ihrer beider selbst willen!
Der Bastard war wieder da. Die Neuigkeit hatte sich im ganzen Landkreis verbreitet und erreichte an diesem Abend auch die Bars und Kneipen. Harper Neeley zitterte jedesmal vor Wut, wenn Webb Tallants Name fiel. Tallant hatte Jessie ermordet und war ungestraft davongekommen, und jetzt tauchte er einfach wieder auf, frech und unverfroren – als wäre nichts geschehen. Dieser blöde, fette Sheriff hatte ihn nicht verhaftet, hatte geschleimt, es gäbe nicht genügend Beweise für eine Anklage. Aber jeder wußte doch, daß er gekauft war. Die Davenports und die Tallants dieser Welt mußten nie für den Bockmist zahlen, den sie anrichteten. Nur die Hinze-und-Kunze kamen in den Knast, nicht die Schicki-Micki-Reichen, in ihren protzigen Häusern, mit ihren Superschlitten, die glaubten über dem Gesetz zu stehen.
Webb Tallant hatte Jessie mit einem Feuerhaken den Schädel eingeschlagen. Er weinte immer noch, wenn er daran dachte, seine wunderschöne Jessie, das Haar voller Blut und Gehirnmasse, eine Hälfte des Schädels zerquetscht. Irgendwie mußte der Bastard die Sache zwischen ihm und Jessie spitzgekriegt und sie deshalb umgebracht haben. Oder vielleicht hatte Tallant ja auch herausgefunden, daß der kleine Braten im Ofen nicht von ihm stammte. Jessie hatte gemeint, sie würde schon damit fertigwerden – und sie war eine ganz Raffinierte, das schwor er, doch diesmal schaffte sie es nicht.
Jessie hatte ihm gehört wie nie eine Frau zuvor. Sie war wild, dieses Mädchen, wild und verdorben; das hatte ihn so erregt, daß es ihm beim ersten Mal, als sie sich an ihn ranmachte, beinahe in der Hose gekommen wäre. Auch sie war erregt gewesen, ihre Augen hatten hell und heiß gefunkelt. Sie liebte die Gefahr, das Verbotene an der Sache. Das erste Mal war sie wie ein Tier gewesen, hatte gebockt und gekratzt, aber war nicht gekommen. Er hatte eine Weile gebraucht, um den Grund dafür herauszufinden. Jessie mochte das Bumsen, sie bumste aus allen möglichen Gründen; Lust und Erfüllung gehörten aber nicht dazu. Sie benutzte ihren Körper, um Männer zu manipulieren, um Macht über sie zu erringen. Sie bumste mit ihm, um es ihrem Hurenbock von Ehemann heimzuzahlen, um es ihnen allen heimzuzahlen und ihnen zu zeigen, daß sie sich einen Dreck um sie scherte. Sie wollte nie, daß es jemand erfuhr, es genügte ihr, daß sie es wußte – das genoß sie.
Doch sobald er das einmal herausgefunden hatte, ließ er sie nicht länger damit durchkommen. Niemand benutzte ihn unentgeltlich, nicht mal Jessie. Ganz besonders nicht Jessie! Er kannte sie auf seine Weise, wie sie sonst niemand kannte oder je kennen würde, denn im Innern war sie wie er.
Mit schmutzigen Spielchen hatte er angefangen, wobei er darauf achtete, es zunächst nie zu weit zu treiben. Sie war darauf abgefahren wie eine Katze auf die Sahneschüssel, und dann auf noch verbotenere Dinge, über die sie insgeheim hämisch triumphieren konnte, wenn sie in dem großen Haus saß und die perfekte Dame mimte. Insgeheim lachte sie die anderen aus, weil sie sich so leicht täuschen ließen: hatte sie doch gerade den Nachmittag damit zugebracht, sich von dem einen Mann durchficken zu lassen, bei dem sie sich garantiert in die Hosen pissen würden.
Sie mußten vorsichtig sein; in keins der örtlichen Motels konnten sie gehen, und sie fand auch nicht immer eine Entschuldigung, sich für mehrere Stunden am Tag fortzuschleichen. Gewöhnlich trafen sie sich einfach irgendwo im Wald. Dort hatten sie sich auch getroffen, als er endgültig die Schnauze voll hatte von ihren Spielchen und ihr zeigen wollte, wer der Boß war.
Als er sie endlich gehen ließ, war sie grün und blau, und von Bißwunden übersät; aber sie war so oft gekommen, daß sie kaum mehr auf dem Pferd sitzen konnte. Sie hatte sich bitter beklagt, weil sie nun aufpassen mußte, daß niemand die Spuren sah, doch ihre Augen hatten geglänzt. Er hatte sie so lange und so brutal hergenommen, daß er vollkommen leergepumpt und sie total wund gewesen war, aber sie hatte es genossen – und wie! Die Frauen, die er kannte, fingen immer an zu jammern und zu winseln, wenn er sie ein wenig härter anfaßte, aber nicht seine Jessie! Sie kam wieder und wollte mehr, und nicht nur das: sie verpaßte ihm ihre eigene Medizin. Mehr als einmal war er mit blutig zerkratztem Rücken nach Hause gegangen, und jeder brennende Kratzer hatte ihn an sie erinnert und den Hunger nach mehr angestachelt.
Noch nie hatte er eine gehabt wie sein Mädchen. Sie wollte immer mehr, immer rauhere, schmutzigere Tricks, je schmutziger desto besser. Sie waren zum Arschficken übergegangen, und das hatte sie wirklich abgehen lassen wie eine Rakete, das Verbotenste, das sie mit dem verbotensten Mann der Welt machen konnte. Schmutzige kleine Jessie! Er hatte sie so geliebt!
Es gab keinen Tag, an dem er nicht an sie dachte, sie nicht vermißte. Keine Frau hatte ihn so angetörnt wie sie.
Und dann brachte dieser gottverdammte Webb Tallant sie einfach um, sie und das Kind. Anschließend spazierte er davon, frei wie ein Vogel verließ er die Stadt, ohne dafür zu büßen.
Aber er war wieder da.
Und diesmal würde er bezahlen.
Harper Neeley durfte sich nicht erwischen lassen; er hatte jedoch das Davenport-Anwesen oft genug umschlichen, damals, um sich mit Jessie zu treffen; also kannte er sich gut aus auf dem Grundstück. Es war groß genug, Hunderte von Hektar, daß er sich dem Haus aus jeder beliebigen Richtung nähern konnte. Allerdings lag es eine Weile zurück, seit er das letzte Mal dortgewesen war, zehn Jahre, um genau zu sein. Als erstes mußte er rausfinden, ob die alte Dame nicht einen Wachhund angeschafft oder gar eine Alarmanlage hatte installieren lassen. Damals gab es noch keine; denn Jessie hatte mehr als einmal versucht, ihn dazu zu überreden, sich zu ihr ins Schlafzimmer zu schleichen, wenn ihr Mann auf Geschäftsreise war. Ihr gefiel der Gedanke, es im Haus ihrer Großmutter mit ihm zu treiben und noch dazu im Bett ihres Mannes. Er war vernünftig genug abzulehnen, aber, Himmel nochmal, der Versuchung konnte er seinerzeit kaum widerstehen.
Sollte es keine Alarmvorrichtung geben, war es babyleicht, in das alte Haus reinzukommen. Bei all den Türen und Fenstern ...
Wirklich ein Kinderspiel! Er war schon in weit besser bewachte Häuser als Davenport eingebrochen. Diese Dummköpfe fühlten sich wahrscheinlich sicher, so weit außerhalb der Stadt. Die Leute auf dem Land hatten eben einfach nicht genug Grips, um die nötigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, wie die Stadtleute.
O ja, er würde Webb Tallant zur Kasse bitten!