3

Es war noch ganz früh am Morgen, Roanna sprang rasch aus dem Bett und rannte ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. Dann fuhr sie eilig mit den Fingern durchs Haar und kämpfte sich in Jeans und ein T-Shirt. Sie packte noch ihre Stiefel und Socken, um dann barfuß die Treppe hinunterzufliegen. Webb fuhr heute nach Nashville, und sie wollte ihn unbedingt sehen, bevor er ging. Es gab keinen bestimmten Grund dafür, sie ergriff eben nur jede Gelegenheit, um ein paar Minuten mit ihm allein zu verbringen, kostbare Augenblicke, in denen sein Lächeln, seine Aufmerksamkeit ausschließlich ihr galten.

Es war erst fünf Uhr morgens, doch Großmutter würde dennoch schon beim Frühstück im Morgenzimmer sitzen; Roanna fiel es indessen überhaupt nicht ein, auf dem Weg zur Küche dort hineinzuschauen. Webb, der den Reichtum, der ihm zur Verfügung stand, zwar durchaus genoß, scherte sich kein bißchen um Äußerlichkeiten. Er würde in der Küche sein und sich sein Frühstück selbst zubereiten, da Tansy nicht vor sechs Uhr zur Arbeit kam, und dann würde er es gleich am Küchentisch verspeisen.

Sie platzte durch die Tür und entdeckte ihn wie erwartet. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, sich hinzusetzen, sondern lehnte statt dessen an einem Küchenschrank und kaute seinen Marmeladentoast. Eine Tasse heißer Kaffee stand neben ihm auf der Anrichte. Sobald er sie sah, drehte er sich um und ließ noch eine Scheibe Brot in den Toaster fallen.

»Ich hab keinen Hunger«, sagte sie und steckte, auf der Suche nach dem Orangensaft, den Kopf in den einladenden doppeltürigen Kühlschrank.

»Das hast du nie«, erwiderte er gelassen. »Iß trotzdem.« Aufgrund ihres mangelnden Appetits war sie mit siebzehn immer noch klapperdürr und kaum entwickelt. Außerdem ging Roanna nie irgendwo bloß hin. Sie rannte normalerweise, hüpfte, schlitterte und schlug gelegentlich sogar das eine oder andere Rad. Wenigstens hatte sie sich über die Jahre so weit eingelebt, daß sie ihre Nächte nun in demselben Bett verbrachte und er nicht mehr jeden Morgen nach ihr das Haus durchstöbern mußte.

Weil Webb den Toast gemacht hatte, aß sie ihn, wenn auch ohne Marmelade. Er goß noch eine Tasse Kaffee für sie ein, und dann stand sie neben ihm, knabberte an ihrem trockenen Brot, schlürfte abwechselnd Orangensaft und Kaffee. Sie fühlte, wie sich allmählich Wärme in ihrem Bauch breitmachte. Roanna war wunschlos glücklich: mit Webb allein! Und mit der Aussicht auf einen erfreulichen Ritt.

Vorsichtig atmete sie ein, sog den köstlichen Duft seines unaufdringlichen Rasierwassers und den seiner Haut, die nach Seife und ganz leicht nach Moschus duftete, in die Nase, alles vermischt mit dem Aroma des Kaffees. Seine Gegenwart erfüllte sie beinahe schmerzlich, aber sie lebte für diese Momente.

Sie beäugte ihn über den Rand ihrer Tasse, und ihre whiskeybraunen Augen funkelten schalkhaft. »Daß du ausgerechnet jetzt nach Nashville fahren mußt, kommt mir mehr als verdächtig vor«, meinte sie neckend. »Ich glaube, du willst einfach nur von hier weg!«

Er grinste, und ihr Herz schlug einen kleinen Purzelbaum. Dieses jungenhafte Grinsen sah sie nur noch selten; er war jetzt immer so beschäftigt, daß er fast seine ganze Zeit mit Arbeiten verbrachte, wie sich Jessie andauernd und unermüdlich beschwerte. Seine kühlen grünen Augen wurden wärmer, wenn er lächelte, und der lässige Charme seiner gehobenen Mundwinkel hätte einen Verkehrsunfall verursachen können. Die Lässigkeit täuschte jedoch; Webb arbeitete so hart und lange, wie es die meisten Männer völlig überfordert hätte.

»Ich hab es nicht so geplant«, protestierte er, räumte dann jedoch ein, »aber ich hab die Gelegenheit mit Freuden ergriffen. Und du wirst wohl den ganzen Tag über in den Ställen bleiben, vermute ich?«

Sie nickte. Großmutters Schwester und ihr Mann, Tante Gloria und Onkel Harlan, würden heute einziehen, und Roanna wollte sich so weit wie möglich fernhalten. Gloria mochte sie am allerwenigsten von all ihren Tanten, und auf Onkel Harlan war sie auch nicht gerade versessen.

»Er weiß immer alles besser«, brummte sie. »Und sie ist die reinste Land...«

»Ro«, sagte er warnend und dehnte dabei die einzelne Silbe. Nur er nannte sie je so. Es war ein Band mehr, wenn auch dünn, das sie mit ihm einte und das sie wie eine Kostbarkeit hütete, denn im Geiste bezeichnete sie sich selbst auch als Ro. Roanna war die magere, unattraktive, unbeholfene und linkische Bohnenstange. Ro repräsentierte den Teil von ihr, der reiten konnte wie ein Wirbelwind, deren Körper mit dem des Pferdes verschmolz; das Mädchen, das im Stall nie eine falsche oder ungeschickte Bewegung machte. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie in den Boxen gelebt.

»Nun, sie ist eben nicht mein Typ«, meinte Roanna mit einem so bekümmerten Gesichtsausdruck, daß Webb lachen mußte. »Wenn Davenport mal dir gehört, wirst du sie dann wieder rauswerfen?«

»Natürlich nicht, du Fratz! Sie gehören doch zur Familie.«

»Nun, es ist ja nicht so, daß sie keine eigene Wohnung besitzen. Warum bleiben sie nicht in ihrem Haus?«

»Seit Onkel Harlan im Ruhestand ist, kommen sie nicht mehr so gut über die Runden. Wir haben hier jede Menge Platz, also ist es nur logisch, daß sie hier einziehen, auch wenn es dir nicht gefällt.« Er verwuschelte ihr ungekämmtes Haar.

Sie seufzte. Es stimmte, Davenport beherbergte zehn Schlafzimmer, und da Jessie und Webb inzwischen geheiratet hatten, bewohnten sie eine gemeinsame Suite. Tante Yvonne war im letzten Jahr ausgezogen, weil sie lieber ungebunden sein wollte, was bedeutete, daß nun sieben Zimmer Leerstanden. Trotzdem, ihr gefiel das Ganze nicht. »Und was ist, wenn du und Jessie Kinder bekommen? Dann braucht ihr die anderen Zimmer.«

»Aber wohl kaum sieben«, erwiderte er trocken, und ein grimmiger Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Außerdem werden wir vielleicht gar keine Kinder haben.«

Ihr Herz machte einen Satz bei diesen Worten. Sie war am Boden zerstört, als er und Jessie vor zwei Jahren heirateten; aber der Gedanke, daß Jessie irgendwann Babys von ihm bekommen würde, verschlimmerte die Situation noch erheblich. Irgendwie hätte das den Todesstoß für ein Herz bedeutet, das ohnehin nie viel Hoffnung gehabt hatte; sie wußte, daß sie nie eine Chance bei Webb gehabt hatte oder je haben würde, und dennoch glimmte hartnäckig ein unentwegtes Hoffnungsflämmchen. So lange er und Jessie keine Kinder hatten, gehörte er ihr noch nicht ganz, nicht vollständig. Für Webb wären Kinder ein unzerreißbares Band. So lange es keine Babys gab, bestand eine Chance, egal wie minimal sie auch sein mochte.

Die ganze Familie wußte, daß es in ihrer Ehe kriselte. Jessie machte nie ein Geheimnis daraus, wenn sie unglücklich war. Vielmehr bemühte sie sich redlich, ihrem Umfeld dann ihre jeweilige Not vorzuführen.

Da sie Jessie kannte, und Roanna kannte sie sehr gut, vermutete sie, daß Jessie wohl geplant hatte, Webb nach ihrer Heirat mit Sex unter die Fuchtel zu bekommen. Roanna wäre überrascht gewesen, wenn Jessie Webb erlaubt hätte, vor der Heirat mit ihr zu schlafen. Na ja, einmal vielleicht, um sein Interesse aufrechtzuerhalten. Keiner von ihnen unterschätzte Jessies Heimtücke. Webb komischerweise ebensowenig, und Jessies Strategie war demzufolge nicht aufgegangen. Egal, was für Tricks sie auch versuchte, Webb änderte nur selten eine einmal gefaßte Meinung, und wenn er es dennoch tat, dann aus eigener Überzeugung. Nein, Jessie war ganz und gar nicht glücklich.

Roanna schon ... zumindest hinsichtlich dieser Tatsache. Sie verstand die Beziehung zwischen den beiden zwar nicht mal ansatzweise, aber Jessie schien einfach nicht zu kapieren, was für eine Art Mann Webb war. Er ließ sich mit Logik überzeugen, aber mit Manipulation erreichte man bei ihm nichts. Roanna hatte über die Jahre insgeheim so manchen Moment genossen, in dem Jessie versuchte, ihn mit ihren weiblichen Tricks herumzukriegen – nur um dann in hysterische Anfälle zu verfallen, wenn es nicht funktionierte. Jessie konnte es einfach nicht begreifen; schließlich klappte es doch bei allen anderen.

Webb warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muß gehen.« Er trank seinen Kaffee aus und beugte sich dann herab, um ihr einen Kuß auf die Stirn zu drücken. »Halt dich ein bißchen zurück heute, damit es nicht wieder Ärger gibt.«

»Ich werde es versuchen«, versprach sie und fügte dann verdrießlich hinzu, »wie immer!« Doch es wollte ihr nie so recht gelingen. Trotz all ihrer Mühen und ihres guten Willens schien sie immer etwas zu bewerkstelligen, was Großmutter mißfiel.

Webb grinste ihr mitleidig zu, bevor er zur Tür ging. Ihre Blicke begegneten sich einen Augenblick lang, als wären sie zwei Verschwörer. Dann war er fort, die Tür fiel hinter ihm zu und mit einem Seufzer setzte sie sich auf einen Küchenstuhl, um sich Socken und Stiefel anzuziehen. Der Morgen hatte mit seinem Abschied ein wenig an Glanz verloren.

Irgendwie, so dachte sie, waren sie tatsächlich zwei Verschwören Bei Webb fühlte sie sich so entspannt und sicher wie bei keinem anderen Familienmitglied, und in seinen Augen las sie nie Tadel, wenn er sie ansah. Webb akzeptierte sie so, wie sie war, und versuchte nicht, sie auf Teufel komm raus zu ändern.

Doch es gab noch einen anderen Ort, wo sie Zustimmung fand, und mit etwas leichterem Herzen rannte sie zu den Ställen hinaus.

Als der Umzugslaster um halb neun Uhr vormittags vorfuhr, bemerkte Roanna ihn kaum. Sie und Loyal waren mit einem temperamentvollen Jährling beschäftigt und machten geduldig das Fohlen mit den Menschen vertraut. Er hatte keine Angst, aber wollte lieber spielen, als etwas Neues dazuzulernen, und die sanften Lektionen erforderten eine Menge Langmut.

»Du machst mich fix und fertig«, keuchte sie und streichelte dem Tier liebevoll über den schweißglänzenden Hals. Der kleine Hengst schubste sie zur Antwort kräftig mit dem Kopf, so daß sie mehrere Schritte zurücktaumelte. »Vielleicht gibt es einen besseren Weg«, sagte sie zu Loyal, der auf dem Zaun saß und ihr Anweisungen gab; er grinste, als er das Fohlen herumhüpfen sah wie einen zu groß geratenen Hund.

»Welchen denn zum Beispiel?« fragte er. Er war immer bereit, sich Roannas Ideen anzuhören.

»Warum fangen wir nicht einfach an mit ihnen zu arbeiten, sobald sie geboren sind? Dann wären sie noch zu klein, um mich über die ganze Koppel zu jagen«, mäkelte sie. »Am Anfang gewöhnen sie sich leichter an uns und an das, was wir mit ihnen vorhaben.«

»Tja.« Loyal strich sich übers Kinn und dachte darüber nach. Er war dürr und hager, Anfang fünfzig und schon seit fast dreißig Jahren als Pferdetrainer auf Davenport angestellt. Die langen Stunden im Freien hatten sein Gesicht braun und lederhart werden lassen, und ein Netzwerk von Runzeln durchfurchte es. Er aß, lebte und atmete mit den Tieren und konnte sich nicht vorstellen, irgendeinen anderen Beruf auszuüben. Bloß weil jedermann mit dem Training wartete, bis die Fohlen ein Jahr alt waren, mußte es ja nicht immer dabei bleiben. Roanna war da auf gar keine so schlechte Idee verfallen. Die Pferde sollten sich daran gewöhnen, daß die Menschen ihre Mäuler und Hufe bearbeiteten; am Ende war es für Mensch und Tier wirklich leichter, wenn man gleich nach ihrer Geburt damit begann, anstatt sie ein Jahr lang ungebändigt herumlaufen zu lassen. Das dürfte die Nervosität und Unruhe der Fohlen ganz sicher mindern und auch das Leben der Hufschmiede und Tierärzte erleichtern.

»Ich will dir was sagen«, meinte er. »Das nächste Fohlen kommt erst im März, wenn Lightness ihres wirft. Wir werden mit dem anfangen und sehen, was dabei herauskommt.«

Roannas Gesicht erhellte sich, und ihre braunen Augen funkelten beinahe golden vor Entzücken – und einen Moment lang war Loyal sprachlos, wie hübsch sie aussah. Es überraschte ihn maßlos, denn Roanna war wirklich ein unscheinbares kleines Ding mit ihren derben, fast maskulinen Zügen in dem schmalen Gesicht; aber einen flüchtigen Augenblick lang hatte er sie so wahrgenommen, wie sie bald als Erwachsene aussehen würde. Nie würde sie die Schönheit werden, die Miss Jessie war, dachte er realistisch, aber in ein paar Jahren konnte sie bestimmt ein paar Leute beeindrucken. Der Gedanke machte ihn glücklich, denn Roanna mochte er am liebsten. Miss Jessie war zwar keine schlechte Reiterin, aber sie liebte seine Babys nicht so wie Roanna und kümmerte sich deshalb auch nicht so um das Wohlergehen ihres Reittiers, wie sie es hätte sollen. In Loyals Augen war das eine unverzeihliche Nachlässigkeit.

Um halb zwölf kehrte Roanna widerwillig ins Haus zurück, da es bald Mittagessen gab. Sie hätte die Mahlzeit am liebsten ausgelassen, aber Großmutter würde jemanden hinter ihr herschicken, wenn sie nicht auftauchte; also konnte sie ihnen allen die Mühe von vornherein ersparen. Aber sie hatte – wie üblich – zu spät Schluß gemacht, so daß ihr nicht mehr viel Zeit blieb, als sich rasch zu duschen und umzuziehen. Sie fuhr eilig mit dem Kamm durch ihr nasses Haar und rannte dann die Treppe hinunter. Kurz vor der Tür zum Eßzimmer kam sie schließlich atemlos zum Halten. Dann öffnete sie sie und trat in einem etwas würdevolleren Tempo ein.

Alle saßen bereits am Tisch. Tante Gloria blickte bei Roannas Eintreten auf und preßte wie gewohnt mißbilligend die Lippen zusammen. Großmutter warf einen Blick auf Roannas nasses Haar und seufzte, sagte aber nichts. Onkel Harlan schenkte ihr sein verlogenes Gebrauchtwarenhändlerlächeln; aber zumindest schimpfte er nie mit ihr, also verzieh ihm Roanna, daß er die emotionale Tiefe einer Bratpfanne besaß. Jessie jedoch ging sofort zum Angriff über.

»Du hättest dir zumindest die Zeit nehmen können, deine Haare zu fönen«, meinte sie gedehnt. »Obwohl wir wahrscheinlich dankbar sein müssen, daß du geduscht hast und nicht mit deinen Stalldüften zum Essen kommst.«

Roanna glitt auf ihren Sitz und heftete den Blick auf ihren Teller. Sie machte sich gar nicht die Mühe, auf Jessies Sticheleien zu reagieren. Das zog nur noch mehr Bosheiten nach sich, und Tante Gloria würde es als Gelegenheit auffassen, auch noch ihren Senf dazuzugeben. Die kleine Cousine war an Jessies Gift gewöhnt; aber Glorias und Harlans Einzug auf Davenport bedauerte sie außerordentlich, und sie hatte das Gefühl, eine Bemerkung von Tante Gloria würde ihr zur Gänze den Magen zuschnüren.

Tansy servierte den ersten Gang, kalte Gurkensuppe. Roanna haßte Gurkensuppe und rührte lediglich mit dem Löffel darin um, versuchte, die kleinen grünen Kräuterstücke, die auf der Oberfläche schwammen, zu versenken. Immerhin knabberte sie an einer von Tansys selbstgebackenen Mohn semmeln und händigte dann nur zu bereitwillig ihren Teller aus, um den nächsten Gang in Empfang zu nehmen, mit Thunfisch gefüllte Tomaten. Sie mochte gefüllte Tomaten. Die ersten paar Minuten verbrachte sie damit, peinlich genau alle Sellerie- und Zwiebelstückchen aus der Thunfisch-Füllung auszusortieren und zu einem kleinen Häufchen am Tellerrand zusammenzuschieben.

»Deine Manieren sind wirklich beklagenswert«, schalt Tante Gloria und nahm geziert einen Bissen Thunfisch auf die Gabel. »Um Himmels willen, Roanna, du bist siebzehn, also wirklich alt genug, um aufzuhören, mit deinem Essen herumzuspielen wie eine Zweijährige.«

Roannas ohnehin karger Appetit erstarb völlig, sie spürte den vertrauten Knoten im Magen und die Übelkeit, die ihn begleitete. Die Tante erntete einen haßerfüllten Blick.

»Ach, das tut sie immer«, meinte Jessie hochmütig. »Sie ißt wie ein Ferkel, das im Trog nach den besten Stücken wühlt.«

Bloß um ihnen zu zeigen, daß es ihr egal war, zwang sich Roanna zu zwei Bissen Thunfisch, die sie mit dem Großteil ihres Eistees herunterspülte, damit sie nicht irgendwo auf halbem Weg in der Speiseröhre steckenblieben.

Sie bezweifelte, daß er es aus Taktgefühl tat, war aber dennoch froh, als Onkel Harlan in diesem Moment über die Reparaturen zu sprechen begann, die an seinem Auto fällig wurden, oder ob es wohl ratsam wäre, gleich ein neues zu kaufen. Wenn sie sich einen Wagen leisten konnten, dachte Roanna, dann hätten sie es sich ja wohl auch leisten können, in ihrem Haus zu bleiben – was ihr die tägliche Tante Gloria erspart hätte. Jessie meinte, sie hätte auch gerne ein neues Auto; der sperrige, viertürige Mercedes, von dessen Kauf sich Webb nicht hatte abbringen lassen, langweilte sie. Dabei hatte sie ihm doch mindestens tausendmal gesagt, daß sie sich einen Sportwagen wünschte, irgendwas mit Pfeffer.

Jessie hatte ihren ersten Wagen mit sechzehn bekommen. Roanna dagegen besaß kein Auto. Sie war eine furchtbare Fahrerin, dauernd verfiel sie ins Träumen, und Großmutter hatte verkündet, daß es bestimmt im Interesse der Sicherheit aller Bürger von Colbert County lag, wenn Roanna nicht auf die Straßen losgelassen würde. Es machte ihr nicht besonders viel aus, da sie ohnehin lieber ritt als fuhr; aber nun juckte sie auf einmal eines ihrer vielen kleinen Teufelchen.

»Wißt ihr, was ich neulich gelesen habe«, sagte sie – die ersten Worte, die sie seit ihrem Eintritt ins Speisezimmer äußerte – und zwar mit Unschuldsmiene. »Protzige Autos sind oft bloß eine Penisverlängerung für ...« Sie wurde knallrot, als ihr auf einmal klar wurde, was sie damit angerichtet hatte.

Tante Glorias Augen weiteten sich entsetzt, und ihre Gabel fiel scheppernd auf den Teller. Onkel Harlan verschluckte sich beinahe an seinem Thunfisch und wurde ebenfalls knallrot.

»Junge Dame!« Großmutter schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, und Roanna zuckte schuldbewußt zusammen. »Dein Verhalten ist unmöglich«, fuhr Lucinda eisig fort, und ihre blauen Augen blitzten. »Verlasse sofort den Raum. Wir sprechen uns später.«

Roanna rutschte mit vor Verlegenheit glühenden Wangen von ihrem Stuhl. »Es tut mir leid«, flüsterte sie und rannte aus dem Speisezimmer. Sie war jedoch nicht schnell genug, um Jessies bösartigen Kommentar zu verpassen:

»Glaubt ihr, sie wird sich je zivilisiert genug benehmen, um mit Menschen essen zu können?«

»Ich bin auch viel lieber bei den Pferden«, murmelte Roanna, während sie die Haustür hinter sich zuschlug. Sie wußte, daß sie nach oben gehen und die Schuhe wechseln sollte; aber ihr Bedürfnis, sich in den Stall zu retten, wo sie sich nie unzulänglich vorkam, siegte über die Vernunft.

Loyal aß gerade seinen eigenen Lunch in seinem Büro und las eins der dreißig Pferdemagazine, die er jeden Monat erhielt, als er sie in den Stall schlüpfen sah. Er schüttelte resigniert den Kopf. Entweder sie hatte gar nichts gegessen, was ihn nicht weiter überraschte, oder sie hatte ihre Familie wieder vor den Kopf gestoßen, was ebenfalls sein konnte. Wahrscheinlich beides. Die arme Roanna war ein kantiges kleines Ding, das sich einfach nicht in eine normale Form pressen ließ. Unter der Last permanenter Mißbilligung kauerte sie sich einfach zusammen und ertrug es, bis ihre Frustration zu mächtig wurde, um sich noch länger unterdrücken zu lassen; dann wehrte sie sich, aber leider gewöhnlich auf eine Weise, die noch mehr Unannehmlichkeiten nach sich zog. Wenn sie nur halb so viel Gemeinheit wie Miss Jessie besäße, dann ginge sie hinterrücks vor und zwänge die anderen, sie so zu akzeptieren, wie sie war. Aber Roanna hatte nicht einen bösartigen Knochen im Leib, weshalb wahrscheinlich auch Tiere sie so liebten. Allerdings steckte sie voller Schalk, wodurch sie sich dann jegliche Sympathien verscherzte.

Er sah zu, wie sie von Box zu Box ging und die Finger über das glatte Holz gleiten ließ. Nur ein Pferd befand sich im Stall, Mrs. Davenports Lieblingstier, ein grauer Wallach, der sich am rechten Vorderbein verletzt hatte. Loyal hielt ihn für heute mit kalten Packungen ruhig, um die Schwellung zum Abklingen zu bringen. Er hörte Roannas sanfte Stimme und sah, wie sie den Kopf des Tiers streichelte. Er mußte lächeln, als er den beinahe ekstatischen Ausdruck des Pferdes sah. Wenn ihre Familie sie nur halb so akzeptieren würde wie die Pferde, dachte er, dann würde sie aufhören, sie ständig herauszufordern, in das Leben hineinwachsen, für das sie geboren war.

Jessie kam nach dem Lunch herüber und befahl einem der Knechte, ein Pferd für sie zu satteln. Roanna verdrehte die Augen, als sie Jessies hochmütige Befehle hörte; sie fing und sattelte sich ihr Pferd immer selbst, und es hätte Jessie keinen Zacken aus der Krone gebrochen, dasselbe zu tun. Um ehrlich zu sein, kamen bei ihr die Tiere fast von allein angetrabt, doch Jessie hatte den Bogen einfach nicht raus. Was zeigt, wie klug Pferde doch sind, ging es Roanna durch den Kopf.

Jessie fing den Gesichtsausdruck aus den Augenwinkeln auf und musterte ihre Cousine mit einem kühlen Blick. »Großmutter ist wütend auf dich. Es war ihr wichtig, daß wir Tante Gloria willkommen heißen; statt dessen ziehst du so eine Show ab.« Sie machte eine kunstvolle Pause und maß Roanna abfällig. »Falls es eine Show war!« Nach diesem Stich, der scharf und ungehindert in Roannas Brust fuhr, lächelte sie zuckersüß und ging davon. Zurück blieb lediglich der aufdringliche Geruch ihres teuren Parfüms.

»Abscheuliche Hexe«, murmelte Roanna und wedelte mit der Hand, um den penetranten Duft zu vertreiben.

Haßerfüllt starrte sie dem schlanken, elegant geschwungenen Rücken ihrer Cousine nach. Es war nicht fair, daß Jessie alle Schönheit für sich gepachtet hatte, sich so perfekt zu benehmen wußte, Großmutters Liebling war und noch dazu Webb hatte. Unfairer ging es gar nicht!

Nicht nur Roanna hegte Haßgefühle. Jessie schäumte förmlich vor Wut, während sie aus Davenports Hof ritt. Zur Hölle mit Webb! Sie wünschte, sie hätte ihn nie geheiratet, auch wenn das seit ihren Teenagertagen ihr erklärtes Ziel gewesen war und es jedermann für selbstverständlich gehalten hatte. Doch er war so widerwärtig arrogant und selbstsicher – immer schon –, daß sie ihn manchmal am liebsten geohrfeigt hätte. Zwei Gründe hinderten sie jedoch daran: Zum einen wollte sie nichts tun, um ihre Chancen zu gefährden, die Herrin von Davenport zu werden, wenn Lucinda einmal tot war; zum zweiten hatte sie das ungute Gefühl, daß Webb es nicht wie ein Gentleman aufnehmen würde. Nein, es war mehr als nur ein ungutes Gefühl. Allen anderen mochte er ja Sand in die Augen streuen, aber sie kannte diesen rücksichtslosen Bastard besser!

Es war wirklich dumm von ihr gewesen, ihn zu heiraten. Sicher hätte sie Großmutter dazu bewegen können, ihr Testament zu ändern und Davenport ihr zu hinterlassen statt Webb. Immerhin war ja sie eine Davenport und Webb nicht. Von Rechts wegen stand ihr das Erbe zu. Statt dessen hatte sie den verdammten Tyrannen heiraten müssen und damit einen unverzeihlichen Fehler begangen. Grimmig mußte sie zugeben, daß sie ihren Charme und seine Manipulierbarkeit überschätzt hatte. Sie dachte, sie wäre so clever gewesen, vor der Heirat nicht mit ihm zu schlafen; der Gedanke, ihn zu frustrieren, hatte ihr gefallen und auch das Bild, wie er hinter ihr herhechelte wie ein geiler Hund. Es war nie wirklich so gewesen, dennoch hatte ihr die Vorstellung große Freude bereitet. Und dann erfuhr sie zu ihrem Leidwesen, daß das Scheusal, statt zu leiden, weil er sie nicht haben konnte, mit anderen Frauen schlief – während er darauf bestand, daß sie ihm treu war!

Nun, sie hatte es ihm gezeigt. Er war noch dümmer als sie, wenn er wirklich glaubte, sie hätte sich all die Jahre für ihn »aufgehoben«, während er es mit all den Schlampen auf dem College oder im Büro trieb. Natürlich versaute sie sich nicht ihren eigenen Spielplatz; aber sobald sie es schaffte, sich für einen Tag oder ein Wochenende zu absentieren, hatte sie immer auch gleich einen willigen Typen gefunden, um ein wenig Dampf abzulassen, sozusagen. Männer aufzureißen schaffte sie mühelos – man brauchte ihnen bloß einen Wink zu geben, und schon kamen sie gerannt. Zum ersten Mal hatte sie es mit sechzehn praktiziert und es sofort als eine köstliche Methode, Macht über Männer auszuüben, erkannt. Oh, freilich hatte sie so getan als ob, als sie und Webb endlich heirateten, hatte gewimmert und sogar die eine oder andere Träne herausgequetscht, damit er dachte, sein großer böser Schwanz würde ihrer armen jungfräulichen Muschi tatsächlich wehtun – aber innerlich verhöhnte sie ihn, daß er sich so leicht täuschen ließ.

Und sie hatte triumphiert, denn nun würde endlich sie die Macht in ihrer Beziehung übernehmen. Nach Jahren, in denen sie immer schön Kotau vor ihm hatte machen müssen, dachte sie, an der Reihe zu sein. Früher nahm sie törichterweise immer an, ihn besser manipulieren zu können, wenn sie einmal verheiratet waren und sie ihn jede Nacht in ihrem Bett hatte. Der Himmel wußte, daß die meisten Männer das Hirn in der Hose trugen. All ihre diskreten Affären hatten sie gelehrt, daß sie die Männer fertigmachte, sie total auspowerte; und alle hatten es mit einem breiten Grinsen eingeräumt. Jessie war stolz darauf, einen Mann bis zur totalen Erschöpfung bumsen zu können. Sie hatte alles so gründlich geplant: bumse Webb jede Nacht bis zur Bewußtlosigkeit, dann ist er tagsüber wie Wachs in deinen Händen.

Aber weit gefehlt! Ihre Wangen brannten vor Demütigung, während sie ihr Pferd über einen seichten Bach lenkte, wobei sie darauf achtete, daß ihre frisch polierten Stiefel nicht mit Schlamm bespritzt wurden. Zum einen war oft genug sie diejenige, die die Grenzen der Erschöpfung erreichte. Webb konnte es stundenlang treiben, und seine Augen, mit denen er sie wachsam beobachtete, blieben immer kühl, egal wie heftig sie sich aufbäumte und mit den Hüften kreiste und ihn durcharbeitete – als ob er das Ganze als einen Wettbewerb betrachtete und sie um gar keinen Preis gewinnen ließe. Sie hatte nicht lange gebraucht, um zu merken, daß er ausdauernder war als sie und daß sie diejenige war, die völlig fertig und mit wund pochendem Schoß auf den zerwühlten Laken liegenblieb. Und egal wie heiß der Sex war, egal wie sehr sie auch saugte oder rieb oder sonstwas machte, unmittelbar danach stieg Webb aus dem Bett und wandte sich seinen Geschäften zu, als ob nichts geschehen wäre. Sie konnte schauen, wo sie dabei blieb. Nun, sie wollte verdammt sein, wenn sie sich das gefallen ließ!

Ihre größte Waffe, Sex, hatte sich bei ihm als wirkungslos erwiesen, und sie hätte am liebsten laut geschrien vor Empörung. Er behandelte sie mehr wie ein ungezogenes Kind als wie eine Erwachsene und Ehefrau. Zu dieser Göre, Roanna, war er netter als zu ihr. Sie hatte es einfach satt, immer zu Hause zurückgelassen zu werden, während er in alle Landesteile jettete, elender Mistbock! Er behauptete, es wäre geschäftlich, aber sie war sicher, daß er mindestens die Hälfte seiner »dringenden Geschäftsreisen« nur im letzten Moment erfand, damit sie ja keinen Spaß hatte. Erst letzten Monat war er an dem Tag, an dem sie eigentlich einen Urlaub auf den Bahamas antreten wollten, nach Chicago geflogen. Und dann dieser Trip nach New York, vorige Woche. Er war drei Tage fort gewesen. Sie hatte ihn angefleht, sie mitzunehmen, war bei dem Gedanken an all die Geschäfte, die Theater und Restaurants vor Aufregung fast gestorben; doch er hatte ihr erklärt, keine Zeit für sie zu haben, und war ohne sie abgezogen. Einfach so. Der arrogante Bastard; wahrscheinlich trieb er es mit einer albernen Sekretärin und wollte sich den Spaß nicht durch seine Frau verderben lassen.

Aber sie hatte sich gerächt. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus, während sie ihr Pferd anhielt und den Mann ansah, der sich bereits auf einer Decke unter dem großen Baum in der versteckten kleinen Lichtung ausgestreckt hatte. Es war die köstlichste Rache, die sich ein Mensch vorstellen konnte, und ihre überwältigende Reaktion auf ihn machte die Sache nur um so süßer. Manchmal erschreckte es sie, daß sie ihn so wild und heftig begehrte. Er war ein Tier, vollkommen amoralisch und auf seine Weise ebenso rücksichtslos wie Webb, wenn ihm auch dessen kühler, präziser Intellekt fehlte.

Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung. Das war nicht lange nach Mamas Begräbnis gewesen, als sie nach Davenport gezogen und Großmutter dazu überredet hatte, ihr Zimmer vollkommen neu einzurichten. Sie und Lucinda waren in die Stadt gefahren, um Stoffe und Muster auszusuchen; aber Großmutter hatte im Stoffladen eine alte Freundin getroffen, und Jessie war es ziemlich schnell langweilig geworden. Sie hatte ihre Wahl längst getroffen, also gab es keinen Grund, hier noch länger herumzuhängen und den beiden alten Schachteln beim Tratschen zuzuhören. Lucinda gab sie Bescheid, daß sie ins Restaurant nebenan gehen und sich eine Cola kaufen würde, und machte sich dann aus dem Staub.

Jessie war auch wirklich dort eingekehrt; sie hatte schon sehr früh gelernt, daß man ihr viel mehr durchgehen ließ, wenn sie das, was sie wirklich vorhatte, verschob auf hinterher. Auf diese Weise konnte man ihr nicht vorwerfen, daß sie log, um Gottes willen. Und die Leute wußten, wie impulsiv Teenager waren. Also hatte sich Jessie anschließend, das eiskalte Cola in der Hand, zu dem Zeitungsstand verdrückt, wo auch schmutzige Zeitschriften verkauft wurden.

Es war nicht wirklich ein Kiosk, sondern vielmehr ein chaotischer kleiner Laden, in dem man Hobbywerkzeug, ein paar Make-up- und Toilettenartikel, darunter »Hygieneartikel« wie Gummis, zusammen mit einer Riesenauswahl an Zeitschriften, Taschenbüchern und auch Zeitungen erwerben konnte. Newsweek und Good Housekeeping standen da mit all den anderen »anständigen« Magazinen in erster Reihe, aber die verbotenen gab es in einem Regal im Rückteil des Ladens, das hinter einem Tresen verborgen lag, und zweifellos hatten Kinder dort nichts zu suchen. Aber der alte McElroy litt unter schlimmer Arthritis und verbrachte die meiste Zeit auf einem Stuhl hinter der Ladenkasse. Er konnte nicht sehen, was in seinem Rücken vorging, außer, wenn er aufstand, und das tat er nur sehr selten.

Jessie lächelte den alten McElroy entwaffnend an und schlenderte dann zur Kosmetikabteilung, wo sie in aller Ruhe ein paar Lippenstifte inspizierte und schließlich ein rosa Lipgloss auswählte, ihr Alibi, falls sie erwischt wurde. Als ein Kunde seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, duckte sie sich rasch und schlüpfte in den hinteren Teil des Ladens.

Nackte Frauen räkelten sich auf diversen Covers, aber Jessie gönnte ihnen lediglich einen verächtlichen Blick. Wenn sie eine nackte Frau sehen wollte, dann brauchte sie sich bloß auszuziehen. Was ihr gefiel, waren die Nudistenmagazine, in denen nackte Männer posierten. Meistens waren ihre Schwänze klein und schrumpelig, aber manchmal gab es auch den einen oder anderen Kerl mit einem schönen fetten. Die Nudisten behaupteten, daß nichts Erotisches daran war, nackt herumzulaufen, aber nach Jessies Meinung logen sie. Warum sonst wurden diese Männer so hart wie Großmutters Hengst, bevor er eine Stute bestieg? Sie schlich sich, so oft sie konnte, in den Stall, um dabei zuzusehen, auch wenn alle entsetzt gewesen wären über ihre Neugier.

Jessie grinste hämisch. Aber sie wußten eben nichts und würden es auch nie erfahren. Sie war viel zu schlau für sie mit ihren zwei vollkommen unterschiedlichen Gesichtern, wovon die Leute nicht die geringste Ahnung hatten. Da gab es die Jessie, die alle kannten, die Kronprinzessin von Davenport, das beliebteste Mädchen in der Schule, das jedermann mit ihrer Fröhlichkeit bezauberte und sich strikt weigerte, Alkohol und Zigaretten zu konsumieren wie die anderen Kids. Und dann gab es die wahre Jessie, die die Pornos unter ihre Bluse schob und mit einem süßen Lächeln für Mr. McElroy aus dem Laden marschierte. Die wahre Jessie stahl Geld aus der Brieftasche ihrer Großmutter, nicht weil sie etwas Bestimmtes gebraucht hätte, sondern einfach aus Spaß und Spannung.

Die wahre Jessie liebte es, die kleine Göre Roanna zu quälen, liebte es, sie zu kneifen, wenn niemand hinsah, liebte es, sie zum Heulen zu bringen. Roanna war eine ungefährliche Zielscheibe, da sie ohnehin keiner richtig mochte und alle sowieso eher Jessie glaubten als ihr, falls sie petzte. Seit einiger Zeit haßte Jessie die Gans richtig, anstatt sie nur lästig zu finden. Webb schlug sich aus irgendeinem Grund immer auf ihre Seite, und das machte Jessie rasend. Wie konnte er es wagen, Roannas Partei zu ergreifen statt ihre?

Eine genüßliche Zuversicht malte sich auf ihren Zügen. Sie würde ihm schon zeigen, wer der Boß war. Vor kurzem hatte sie eine neue Waffe entdeckt, eine Waffe, die mit dem Wachstum und den Veränderungen ihres Körpers zu tun hatte. Sex faszinierte sie schon seit Jahren, aber nun begann sie sich ihrer Frühreife auch physisch anzupassen. Alles was sie tun mußte, war tief Luft zu holen und ihre Brüste zu recken – schon starrte Webb sie derart fixiert an, daß sie sich kaum das Lachen verbeißen konnte. Er hatte sie auch geküßt, und als sie ihre Brüste an ihm rieb, hatte er auf einmal angefangen zu Keuchen, und sein Schwanz war ganz hart geworden. Sie hatte erwogen, es ihn tun zu lassen, aber ihre angeborene Schläue hielt sie davon ab. Sie und Webb lebten im selben Haus; das Risiko einer Entdeckung wäre zu groß und würde außerdem möglicherweise das Bild trüben, das er von ihr hatte.

Gerade streckte sie die Hand nach einem Nudistenmagazin aus, als auf einmal die tiefe, heisere Stimme eines Mannes hinter ihr ertönte. »Was hat denn ein hübsches Mädchen wie du hier zu suchen?«

Erschrocken zog Jessie die Hand zurück und wirbelte zu ihm herum. Sie paßte immer so gut auf, daß niemand sie in dieser Abteilung erwischte, aber ihn hatte sie nicht kommen hören. Mit weit aufgerissenen, überraschten Augen starrte sie zu ihm auf, während sie sich fieberhaft auf ihre Rolle als unschuldiges junges Mädchen besann, das aus Versehen in diese Abteilung geraten war. Was sie jedoch in diesen heißen, unglaublich blauen Augen, die sie so durchdringend musterten, sah, ließ sie zögern. Diesen Mann konnte sie nicht so leicht hinters Licht führen.

»Du bist Janet Davenports Kleine, stimmt's?« fragte er, immer noch mit gesenkter Stimme.

Langsam nickte Jessie. Jetzt, da sie ihn genauer im Blickfeld hatte, überrann sie ein kleiner Schauder. Er war wahrscheinlich Mitte Dreißig, also viel zu alt! Aber außerdem war er echt muskulös, und der Ausdruck in diesen blitzenden Augen brachte sie auf den Gedanken, daß er ein paar wirklich häßliche Dinge drauf haben mußte.

Er grunzte. »Dacht' ich es mir doch. Tut mir leid wegen deiner Mama.« Während er diese Höflichkeitsfloskel von sich gab, hatte Jessie das Gefühl, das Unglück anderer sei ihm mehr als gleichgültig. Er musterte sie von oben bis unten, und zwar auf eine Weise, als ob sie ihm gehörte.

»Wer sind Sie?« flüsterte sie und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter.

Ein wölfisches Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus und entblößte eine Reihe weißer Zähne. »Mein Name ist Harper Neeley, kleiner Schatz. Schon mal gehört?«

Sie hielt den Atem an, denn den Namen kannte sie. Immerhin durchwühlte sie regelmäßig Mamas Sachen. »Ja«, erwiderte sie so aufgeregt, daß sie kaum noch stillstehen konnte. »Sie sind mein Daddy!«

Ihre Kenntnis hatte ihn überrascht, dachte sie jetzt, als sie beobachtete, wie er sich faul unter dem Baum räkelte und auf sie wartete. Aber wie sehr diese Begegnung sie auch verwirrte, hatte es ihn im Grunde nicht die Bohne gekümmert, daß sie seine Tochter war. Harper Neeley nannte einen ganzen Haufen Kinder sein eigen, mindestens die Hälfte davon Bastarde. Eine mehr, selbst eine aus dem Hause Davenport, bedeutete ihm nicht das geringste. Er hatte sich nur so, aus Spaß, an sie herangemacht, nicht weil er wirklich etwas für sie empfand.

Irgendwie kam ihr auch das unheimlich aufregend vor. Auf einmal traf sie die geheime Jessie, die da im Körper ihres Vaters herumlief.

Er faszinierte sie. Sie sorgte dafür, im Lauf der Jahre immer mal wieder seinen Weg zu kreuzen. Bei seiner Grobheit und Selbstsucht hatte sie oft das Gefühl, er würde sich über sie lustig machen. Das erbitterte sie; aber bei seinem Anblick verspürte sie jedesmal dieselbe, elektrisierende Erregung. Diese Gemeinheit, dieser Mensch aus der Gosse, der vollkommen unannehmbar für ihre Kreise war ... und der ihr gehörte ...

Jessie konnte sich nicht genau an den Moment erinnern, an dem ihre Erregung umschlug in Sex. Vielleicht war es ja von Anfang an so gewesen, bloß daß sie es noch nicht gleich akzeptieren wollte. Sie war so darauf konzentriert gewesen, Webb unter ihre Fuchtel zu bekommen, so übervorsichtig, sich nur in der Ferne von Davenport zu amüsieren, daß ihr der Gedanke nie klar geworden war.

Aber eines Tages, vor etwa einem Jahr, als sie ihn sah, hatte sich die übliche Aufregung auf einmal verschärft, brannte förmlich in ihrer Intensität. Sie war wütend auf Webb gewesen – wie so oft in letzter Zeit –, und da kam ihr Harper gerade recht; sein muskulöser Körper reizte sie, und seine heißen blauen Augen hatten sie gemustert, wie kein Vater je seine Tochter ansehen sollte.

Sie hatte ihn umarmt, sich an ihn gekuschelt, »Daddy« geflötet – und die ganze Zeit hatte sie ihre Brüste an ihm gerieben und ihre Hüften an seine Lenden gedrängt. Das war alles. Mehr hatte es nicht gebraucht. Er hatte gelacht und ihr dann grob zwischen die Beine gefaßt, sie zu Boden gestoßen, wo sie wie die Tiere übereinander hergefallen waren.

Er brachte all ihre Willenskräfte zum Schweigen. Sie wollte ihn abwehren, wußte, wie gefährlich er war und daß sie ihn nicht beherrschen konnte – aber er zog sie an wie ein Magnet.

Mit ihm konnte sie keine Spielchen spielen, denn er kannte ihre wahre Natur. Es gab nichts, das er ihr geben konnte, und nichts, das sie von ihm wollte, außer wahnsinnigen, hemmungslosen Sex. Keiner hatte sie je so hergenommen wie ihr Daddy. Mit ihm mußte sie nicht auf jede ihrer Reaktionen achten oder versuchen, die seinen zu manipulieren; einzig hineinzustürzen hatte sie sich in den Taumel der Lüste mit ihm. Was immer er auch mit ihr machen wollte, sie willigte ein. Er war Abschaum, die Niedertracht in Person, und sie liebte es – denn er war die beste Rache, die sie sich je hätte ausdenken können. Wenn Webb nachts zu ihr ins Bett kam, dann geschah es ihm recht, daß er mit einer Frau schlief, die nur Stunden zuvor troff und klebte von Harper Neeleys Säften.