5

Roanna lag fest zusammengerollt in ihrem Bett. Ihr war eiskalt vor Grauen, trotz der schwülen Sommernacht, und Schlaf lag ihr noch genau so fern wie zu dem Zeitpunkt, als sie es endlich geschafft hatte, sich nach oben in ihr Zimmer zu flüchten.

Die Stunden, seit Jessie mitten in ihren Kuß hereinplatzte, hatten den reinsten Alptraum heraufbeschworen. Der Aufruhr sprengte natürlich alle aus den Zimmern. Fragen erübrigten sich, denn Jessie kreischte ihre Anschuldigungen und wüsten Beschimpfungen durchs ganze Haus, während Webb sie die Treppe hinaufzerrte; aber sowohl Großmutter als auch Tante Gloria hatten dennoch Roanna mit endlosen Fragen und Anschuldigungen bombardiert.

»Wie konntest du es nur wagen, so weit zu gehen?« hatte Großmutter gebellt und Roanna mit einem ebenso kalten Blick gemessen wie zuvor Webb, aber Roanna war stumm geblieben. Was sollte sie auch sagen? Sie hätte ihn nicht küssen dürfen, das wußte sie. Daß sie ihn liebte, war keine Entschuldigung, zumindest keine, die etwas an der einhelligen Verurteilung durch sämtliche Anwesende ändern würde Genausowenig kam es in Frage, sich zu verteidigen, indem sie auf Jessies Verhalten hinwies. Webb mochte sie jetzt ja hassen, aber dennoch würde sie nichts verraten, das ihn zu etwas Unüberlegtem veranlassen könnte. Lieber nahm sie alle Schuld auf sich, als daß er sich in Gefahr begäbe. Und im Grunde entschuldigte Jessies Verhalten auch nicht das ihre. Webb war ein verheirateter Mann; sie hätte ihn auf keinen Fall küssen dürfen. Innerlich wand sie sich vor Scham über ihr unglaubliches, impulsives Verhalten.

Die Schlacht, die oben tobte, war die ganze Zeit über für jedermann hörbar. Mit Jessie konnte kein Mensch vernünftig reden, wenn sie nicht ihren Willen bekam, vor allem in Sachen Eitelkeit. Ihr Gekreische zerschnitt das tiefe Brummen von Webbs Stimme. Sie schleuderte ihm die wüstesten Beschimpfungen um die Ohren, Worte, die Roanna noch nie zuvor laut ausgesprochen gehört hatte. Großmutter war gewöhnlich bereit, alles zu entschuldigen, was Jessie tat; aber selbst sie zuckte bei den Obszönitäten zusammen, die dort oben fielen. Roanna mußte sich gefallen lassen, wie sie als Hure, als pferdegesichtiges Weibsbild und dumme Kuh bezeichnet wurde, die nur für einen Fick im Stall gut war. Jessie drohte, Großmutter dazu zu bringen, daß sie Webb aus ihrem Testament strich – Roanna warf Lucinda bei diesen Worten einen erschrockenen Blick zu, lieber wäre sie gestorben, als Webb um sein Erbe zu bringen; aber die alte Lady zog angesichts dieses Ausbruchs lediglich überrascht eine ihrer eleganten Brauen hoch –, und daß sie Webb wegen Verführung Minderjähriger verhaften lassen würde.

Natürlich glaubten Lucinda und ihre Schwester unbesehen, daß sie also mit Webb geschlafen hatte, und fielen deshalb sofort wieder mit ihren Anschuldigungen über sie her. Nur Onkel Harlan zog seine dichten grauen Augenbrauen hoch und sah ein wenig belustigt drein. Zutiefst beschämt und verzweifelt, schüttelte Roanna lediglich den Kopf, da sie nicht wußte, wie sie sich hätte verteidigen, die Familie hätte überzeugen können.

Webb war nicht der Mann, der Drohungen tatenlos hinnahm. Bis dahin tobte er lediglich verbal, hatte sein Temperament unter Kontrolle gehalten. Doch nun gab es einen lauten Krach, man hörte das Splittern von Glas, und dann brüllte er: »Dann laß dich doch scheiden, verdammt nochmal! Ich werde alles tun, um dich endlich loszuwerden!«

Anschließend polterte er die Treppe herunter, mit steinernem Gesicht, die grünen Augen kalt glimmend. Sein flammender Blick streifte Roanna und seine Augen verengten sich, so daß sie erschauerte, aber er blieb nicht stehen. »Webb, warte«, sagte Großmutter und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn aufzuhalten. Er ignorierte sie und warf die Haustür krachend hinter sich zu. Einen Moment später sahen sie, wie die Scheinwerfer seines Autos über den Rasen jagten.

Roanna wußte nicht, ob er inzwischen nach Hause gekommen war, da ins Innere nur sehr laute Motorengeräusche drangen. Mit brennenden Augen starrte sie zur Decke; die Dunkelheit erdrückte, ja erstickte sie.

Am allerwehesten tat ihr Webbs Mißtrauen; daß er, obwohl er Jessie kannte, ihre Lügen akzeptierte. Wie konnte er auch nur für eine Sekunde glauben, daß sie ihn absichtlich und öffentlich bloßstellen würde? Webb war der Mittelpunkt ihres Universums, ihr Held, der einzige, den sie je gehabt hatte; wenn er sich nun von ihr abwandte, dann verlor sie den Boden unter den Füßen, dann gab es für sie keine Zukunft mehr.

Aber aus seiner Miene hatte sie Wut und Abscheu gelesen, als er sich angewidert von ihr abwandte. Roanna umklammerte ihre Knie und wimmerte, so weh tat es. Von diesem Schmerz würde sie sich nie wieder erholen. Sie liebte ihn und stünde immer zu ihm, egal was er tat. Aber er hatte sich von ihr abgewandt, und sie schrumpfte in sich zusammen, als ihr klar wurde, was das bedeutete: sie war ihm im Weg. Alles schmerzte, als ob ihr Körper überall blaue Flecken bekommen hätte bei ihrem heftigen Zusammenprall mit der Realität. Er mochte sie vage, war amüsiert, fühlte vielleicht auch eine gewisse familiäre Verbundenheit mit ihr; aber er liebte sie nicht, wie sie es ersehnte. Mit plötzlicher, bitterer Klarheit erkannte sie, daß er die ganze Zeit nur Mitleid mit ihr gehabt hatte, und diese Demütigung zerriß sie fast. Mitleid hatte sie nie gewollt, weder von Webb noch von irgend jemandem sonst.

Sie hatte ihn verloren. Selbst wenn er ihr die Chance gab, sich zu verteidigen, und ihr glaubte, würde es trotzdem nie wieder so sein wie früher. Er dachte, sie hätte ihn provoziert, und sein Mangel an Vertrauen war ein Verrat! Diese Gewißheit würde sie immer im Herzen tragen, ein stechender Dorn, der sie nie vergessen ließe, was sie verloren hatte.

Sie hatte sich immer wie eine Ertrinkende an Davenport und Webb geklammert, hatte jedem Versuch getrotzt, sie zu entfernen. Jetzt jedoch, zum ersten Mal, faßte sie einen Abschied ins Auge. Es gab nichts mehr, was sie hier noch hielt – und da konnte sie ebensogut gleich aufs College gehen, wie es alle von ihr wollten, und ganz neu anfangen, an einem Ort, an dem die Leute ihr keine Vorschriften machten, wie sie auszusehen und sich zu verhalten hätte. Zuvor hatte sie bereits der Gedanke, Davenport verlassen zu müssen, in Panik versetzt, doch nun verspürte sie nur noch Erleichterung. Jawohl, sie wollte dringend auf und davon.

Aber zuvor würde sie die Dinge für Webb in Ordnung bringen. Als letzte Liebesgeste, und dann würde sie alles hinter sich lassen und allein weitergehen.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und schwang sich aus dem Bett. Es war nach zwei; im Haus herrschte Stille. Jessie schlief wahrscheinlich längst, aber Roanna war das ehrlich gesagt piepegal. Wenigstens einmal konnte sie aufwachen und zuhören, was Roanna ihr zu sagen hatte.

Sie wußte nicht, was sie tun würde, wenn Webb da wäre, aber das konnte eigentlich nicht sein. Er war derart aufgebracht gewesen, als er aus dem Haus stürmte, daß er sicher noch in der Stadt herumhing; aber auch andernfalls würde er wohl kaum zu Jessie ins Bett kriechen. Entweder würde er unten im Arbeitszimmer schlafen oder sonstwo.

Licht brauchte sie nicht; sie hatte Davenport so oft des Nachts durchgeistert, daß sie all seine Winkel kannte. Leise glitt sie den Gang entlang und sah in ihrem langen weißen Nachthemd wirklich ein wenig aus wie ein Geist. Jedenfalls fühlte sie sich so; als ob niemand sie so richtig sähe ...

Vor der Tür zu Webbs und Jessies Suite blieb sie stehen und lauschte. Drinnen war alles still. Roanna beschloß, nicht zu klopfen, und drehte den Türknauf. »Jessie, bist du wach?« fragte sie leise. »Ich muß mit dir reden.«

Der schrille Schrei zerriß den dünnen Schleier der Nacht, ein grausiger Schrei, der endlos anzudauern schien, der höher und höher wurde, bis er schließlich erstickt abbrach. Lichter gingen in sämtlichen Räumen an, ja selbst unten bei den Ställen, wo Loyal sein Quartier hatte. Verschlafene Stimmen sprachen wirr durcheinander, Fragen flogen hin und her, und man hörte das dumpfe Tappen rennender Füße.

Onkel Harlan war der erste, der die Suite erreichte. Er sagte: »Allmächtiger Gott!« und zum ersten Mal war der glatte Ton falscher Freundlichkeit aus seiner Stimme verschwunden.

Die Hände in den Mund gestopft, als ob sie verhindern wollte, daß ihr noch ein Schrei entfuhr, wich Roanna langsam von Jessies leblosem Körper zurück. Ihre braunen Augen waren weit aufgerissen und starr, als ob sie blind geworden sei.

Tante Gloria stürmte trotz Onkel Harlans verspätetem Versuch, sie aufzuhalten, ins Zimmer, Lucinda dicht auf den Fersen. Beide Frauen blieben abrupt stehen und nahmen voller Entsetzen und Fassungslosigkeit die schaurige Szene in sich auf. Lucinda starrte das Bild an, das ihre beiden Enkelinnen boten, und wurde totenbleich. Sie begann zu zittern.

Tante Gloria legte den Arm um ihre Schwester und starrte Roanna mit wildem Blick an. »Mein Gott, du hast sie umgebracht«, blubberte sie und klang mit jedem Wort hysterischer. »Harlan, ruf den Sheriff!«

In der Auffahrt und dem Vorhof parkten kreuz und quer die Fahrzeuge, und an der willkürlichen Anordnung und den teilweise noch brennenden Scheinwerfern, die unheimliche Strahlen in die dunkle Nacht sandten, sah man die Eile, in der die Gesetzeshüter angebraust gekommen waren. Hinter allen Fenstern des großen Hauses brannte Licht, und drinnen wimmelte es nur so von Leuten, die meisten davon in den braunen Uniformen der Polizei, einige Sanitäter in Weiß.

Die ganze Familie war, bis auf Webb, im geräumigen Wohnzimmer versammelt. Großmutter saß mit hängenden Schultern da, weinte leise vor sich hin und knetete mit gramverzerrten Zügen ein Spitzentaschentuch. Tante Gloria saß neben ihr, streichelte sie und sprach ihr leise Trostworte zu. Onkel Harlan stand hinter ihnen und wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück, während er wichtigtuerisch Fragen beantwortete und zu jeder Theorie und jedem Detail hilfreich seine Meinung kundtat. Er genoß die Aufmerksamkeit, die ihm ob seines Glücks, als erster auf der Bildfläche erschienen zu sein, zuteil wurde – natürlich abgesehen von Roanna.

Roanna saß ganz für sich allein, am anderen Ende des Raums. Ein Hilfssheriff stand bei ihr. Sie war sich dumpf bewußt, daß er als Wache fungierte, doch das berührte sie nicht.

Sie saß vollkommen still da, die Augen wie dunkle Seen in einem kalkweißen Gesicht. Ihr Blick schien nichts wahrzunehmen und gleichzeitig alles zu erfassen, während sie, ohne zu blinzeln, ihre Familie anstarrte.

Sheriff Samuel »Booley« Watts blieb im Türrahmen stehen und beobachtete sie, wobei er ein wenig unbehaglich überlegte, was wohl in ihr vorgehen mochte, wie sie sich fühlen mußte, angesichts dieser stummen aber unmißverständlichen Anprangerung. Er musterte ihre dünnen nackten Ärmchen, sah, wie zart und zerbrechlich sie in ihrem weißen Nachthemd aussah, das nicht viel weißer war als ihr Gesicht. Ihr Puls schlug deutlich sichtbar in ihrer Halsschlagader, doch er war viel zu schnell und zu schwach. Mit seiner dreißigjährigen Erfahrung als Polizist wendete er sich an einen seiner Deputies und sagte leise: »Einer der Notärzte soll herkommen und sich das Mädchen mal ansehen. Sieht aus, als ob sie unter Schock steht.« Sie mußte unbedingt bei klarem Verstand und Bewußtsein sein, um seine Fragen beantworten zu können.

Der Sheriff kannte Lucinda fast sein ganzes Leben lang. Die Davenports waren seit jeher wichtige Geldgeber, wenn es um seine Wiederwahl als Sheriff ging. Da Politik nun mal Politik war, hatte er der Familie über die Jahre hinweg mehr als einen Gefallen erwiesen, doch abgesehen davon beruhte ihre langjährige Beziehung auf echter Zuneigung. Marshall Davenport war ein harter, schlauer Hundesohn gewesen, aber auch ein ehrlicher. Booley empfand nichts als Hochachtung für Lucinda, für ihre innere Stärke, für die Art, wie sie sich weigerte, ihre hohen Moralvorstellungen einer Zeit zunehmender Nachlässigkeit und Korruption anzupassen; außerdem bewunderte er ihre Nase für Geschäfte. In den langen Jahren nach Davids Tod, bis Webb alt genug war, um ihr ein wenig von der Verantwortung abzunehmen, hatte sie ganz allein ein Imperium beherrscht, das riesige Anwesen geleitet und dazu noch zwei verwaiste Enkelinnen großgezogen. Zugegeben, es stand ihr ein unanständiger Haufen Geld zur Verfügung, um ihr ihre Aufgabe ein wenig zu erleichtern, aber die emotionale Bürde lastete auf ihr wie auf jedem anderen.

Lucinda hat einfach zuviele ihrer Lieben verloren, dachte er. Sowohl die Davenports als auch die Tallants hatten frühe, plötzliche Verluste einstecken müssen, viel zu junge Familienmitglieder verloren. Lucindas geliebter Bruder, der erste Webb, war erst Anfang vierzig gewesen, als ein Stier ihn auf die Hörner nahm. Sein Sohn Hunter war einunddreißigjährig mit seinem kleinen Sportflugzeug in einem schrecklichen Sturm in Tennessee abgestürzt. Marshall Davenport starb mit sechzig an einem durchgebrochenen Blinddarm, er hatte ihn ignoriert, weil er ihn für eine Darmverstimmung hielt, bis die Entzündung dann so schlimm geworden war, daß sein Körper kapitulierte. Schließlich setzte dieser Autounfall vor zehn Jahren Davids und Janets und Karens Leben ein Ende. Das hätte Lucinda damals beinahe zerbrochen – doch sie hatte sich aufgerichtet, das Kinn gereckt und weitergemacht.

Und jetzt das hier; er wußte nicht, ob sie diesen neuerlichen Verlust würde verkraften können. Sie hatte Jessie immer von Herzen geliebt, und das Mädel war ringsum hofiert worden von der feinen Gesellschaft des Countys, obwohl er, Booley, so seine Zweifel in bezug auf sie gehabt hatte. Manchmal war ihr Gesichtsausdruck direkt kaltblütig gewesen, wie bei einigen Killern, die ihm über den Weg liefen. Nicht, daß er je Schwierigkeiten mit ihr gehabt hätte. Nie war er gerufen worden, um irgendwelche Skandale zu vertuschen. Was immer Jessie auch für ein Mensch gewesen sein mochte, unter ihrer fröhlichen, charmanten Fassade und ihren vorzüglichen Manieren hatte sie durchaus ihre Weste weiß gehalten. Jessie und Webb galten als Lucindas Augäpfel, und die alte Dame war beinahe geplatzt vor Stolz, als die beiden Kinder vor ein paar Jahren geheiratet hatten. Booley haßte das, was er nun tun mußte; es war schlimm genug, daß sie Jessie verloren hatte, ohne Webb auch noch hineinziehen zu müssen, aber es gehörte nun mal zu seinem Job. Politik oder nicht, das hier ließ sich nicht unter den Teppich kehren.

Turkey Maclnnis, ein bulliger Notarzt, betrat den Raum und ging zu Roanna hinüber. Er kauerte vor ihr nieder. Turkey, also »Truthahn«, wurde deshalb so genannt, weil er den Ruf eines Truthahns täuschend imitieren konnte. Er war einer der besseren Ärzte im County. Booley lauschte seiner sachlichen Stimme, mit der er dem Mädchen ein paar Fragen stellte, um ihr Reaktionsvermögen zu testen. Mit einer winzigen Lampe leuchtete er ihr in die Augen und prüfte sodann Puls und Blutdruck. Roanna beantwortete die Fragen mit ausdrucksloser, beinahe unhörbarer Stimme, als ob ihr das Sprechen furchtbar schwerfiele. Sie betrachtete den Arzt, der vor ihr kniete, vollkommen gleichgültig.

Man holte eine Decke und wickelte sie darin ein, dann drängte Turkey sie, sich auf das Sofa zu legen. Anschließend brachte er ihr eine Tasse Kaffee, die, wie Booley annahm, wahrscheinlich jede Menge Zucker enthielt, und flößte sie ihr ein.

Booley seufzte. Nun, da er wußte, daß für Roanna gesorgt war, konnte er seine verhaßte Pflicht nicht länger aufschieben. Er rieb sich den Hinterkopf und schritt zu der kleinen Gruppe am anderen Ende des Raums. Harlan Ames erzählte gerade zum zehnten Mal die Ereignisse des Abends aus seiner Sicht, und Booley hatte die schmierige, überlaute Stimme allmählich mehr als satt.

Er setzte sich neben Lucinda. »Hat man Webb schon gefunden?« fragte sie in ersticktem Ton, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Zum ersten Mal, dachte Booley, sieht man Lucinda ihre dreiundsiebzig Jahre an. Sie hatte immer vi tal, gepflegt und stark gewirkt, als wäre sie aus rostfreiem Stahl; doch nun sah sie direkt eingefallen aus, wie sie so dasaß in ihrem Nachthemd und Morgenmantel.

»Noch nicht«, erwiderte er unbehaglich. »Wir suchen nach ihm.« Das war eine gewaltige Untertreibung.

Es gab eine leichte Unruhe an der Tür, und Booley drehte sich stirnrunzelnd um, entspannte sich jedoch, als Yvonne Tallant, Webbs Mutter, eilig den Raum betrat. Theoretisch hätte sie nicht hereingelassen werden dürfen; aber Yvonne gehörte zur Familie, auch wenn sie sich vor ein paar Jahren von ihr distanziert hatte, indem sie ausgezogen war in ein kleines Häuschen jenseits des Flusses in Florence. Yvonne war eine ziemlich unabhängige Frau. Gerade jetzt jedoch wünschte Booley, sie wäre nicht aufgetaucht, und er fragte sich, wie sie wohl von dem Mord erfahren haben mochte. Ach, zum Teufel, es hatte keinen Zweck, sich im Moment darüber den Kopf zu zerbrechen. Das war das Problem mit Kleinstädten. Irgendeiner der Beteiligten, ein Bote vielleicht, hatte zu Hause angerufen und einem Familienmitglied etwas erzählt, der dann wiederum mit einem Freund oder einer Freundin telefonierte, der es einer Verwandten steckte, die zufällig Yvonne persönlich kannte und es auf sich nahm, ihr die Hiobsbotschaft mitzuteilen. So lief es in der Regel.

Yvonnes grüne Augen überflogen den Raum. Sie war eine große, schlanke Frau mit dunklem, leicht ergrauendem Haar, der Typ, der eher gutaussehend als schön ist. Selbst um diese Stunde war sie tadellos gekleidet: maßgeschneiderte Hosen und eine frisch gebügelte weiße Bluse. Ihr Blick blieb auf Booley haften. »Ist es wahr?« fragte sie und ihre Stimme brach ein wenig. »Das mit Jessie?« Trotz Booleys Argwohn, was Jessie betraf, schien sie mit ihrer Schwiegermutter gut ausgekommen zu sein. Im übrigen standen sich die Davenports und Tallants so nahe, daß Yvonne Jessie schon von der Wiege her gekannt hatte.

Neben ihm versuchte Lucinda mühsam, ein Schluchzen zu unterdrücken, wobei es sie am ganzen Körper schüttelte. Booley nickte als Antwort, und Yvonne schloß die Augen gegen die aufsteigenden Tränen.

»Roanna hat es getan«, zischte Gloria und wies angeekelt auf die kleine, in die Decke gehüllte Gestalt auf dem Sofa.

Yvonne hob den Kopf und warf Gloria einen ungläubigen Blick zu. »Mach dich doch nicht lächerlich«, schnauzte sie und schritt entschlossen hinüber zu Roanna, wo sie in die Knie ging und ihr das zerzauste Haar mit leisen Trostworten aus dem kalkweißen Gesicht strich. Booleys Meinung von Yvonne stieg beträchtlich, obwohl er bezweifelte, daß Gloria sie teilte, wie aus ihrer Miene zu schließen war.

Lucinda ließ den Kopf hängen, als ob sie es nicht über sich brächte, ihre andere Enkelin anzusehen. »Werden Sie sie verhaften?« flüsterte sie.

Booley nahm eine ihrer Hände in die seinen und kam sich dabei ungeschickt und linkisch wie ein Ochse vor, während sich seine Pranken um ihre kalten, schlanken Finger schlossen. »Nein, das werde ich nicht«, winkte er ab.

Lucinda erschauerte leicht und entspannte sich ein wenig. »Gott sei Dank«, flüsterte sie und kniff die Augen zu.

»Ich würde gern wissen, warum nicht!« tönte Gloria mit schriller Stimme von Lucindas anderer Seite und fuhr auf wie eine nasse Henne. Booley hatte Gloria nie auch nur annähernd so gerne gemocht wie Lucinda. Sie war zwar die Hübschere gewesen, aber immerhin hatte Lucinda Marshall Davenports Aufmerksamkeit erregt, und sie war es, die den reichsten Mann von Nordwest-Alabama geheiratet hatte, während Gloria fast rotierte vor Neid.

»Weil ich nicht glaube, daß sie es getan hat«, erwiderte er unwirsch.

»Wir haben sie aber direkt bei der Leiche stehen sehen! Ja, sie stand sogar in ihrem Blut!«

Verärgert fragte sich Booley, was das mit dem Ganzen zu tun hatte. Doch er beherrschte sich. »Soweit ich weiß, war Jessie schon ein paar Stunden lang tot, als Roanna sie fand.« Er ließ sich nicht über die technischen Details wie das Fortschreiten der Leichenstarre aus, da er der Meinung war, daß Lucinda das nicht unbedingt hören mußte. Es war unmöglich, die genaue Todeszeit festzustellen, außer mittels eines Zeugen, natürlich; aber Jessie mußte mindestens ein paar Stunden vor Mitternacht gestorben sein. Er wußte nicht, warum Roanna ihrer Cousine um zwei Uhr morgens einen Besuch abgestattet hatte – und das würde er definitiv herausfinden –, doch da war Jessie bereits tot gewesen.

Das kleine Grüppchen erstarrte und stierte ihn an, als ob sie diese letzte Wendung der Ereignisse nicht ganz begreifen könnten. Er fischte sein kleines Notizbuch aus der Tasche. Normalerweise hätte einer der Detectives des Counties die Befragung durchgeführt, aber hier handelte es sich um die Davenports, und der Fall verdiente seine persönliche Aufmerksamkeit.

»Mr. Ames sagt, daß Webb und Jessie heute abend einen furchtbaren Streit hatten«, begann er und fing den scharfen Blick auf, den Lucinda ihrem Schwager zuwarf.

Dann holte sie tief Luft und straffte ihre Schultern, während sie sich mit ihrem durchnäßten Taschentuch das Gesicht abwischte. »Sie haben sich gestritten, das stimmt.«

»Weswegen?«

Lucinda zögerte, und Gloria sprang in die Bresche. »Jessie hat Webb und Roanna dabei erwischt, wie sie es in der Küche trieben.«

Booleys graue Brauen schossen in die Höhe. Es gab nicht viel, das ihn noch überraschen konnte, aber bei dieser Behauptung empfand er mildes Erstaunen. Zweifelnd betrachtete er das zerbrechliche, zusammengesunkene Wesen am anderen Ende des Raums. Roanna kam ihm, wenn auch nicht kindisch, so doch einigermaßen kindlich vor, und er hätte Webb nicht für einen Mann gehalten, den so etwas anmachte. »Wie 'getrieben'?«

»Sie haben es getrieben, so wie ich sage«, tönte Gloria mit schriller werdender Stimme. »Mein Gott, Booley, möchten Sie, daß ich Ihnen eine Zeichnung mache?«

Der Gedanke, daß Webb in der Küche Sex mit Roanna hatte, kam ihm über die Maßen unwahrscheinlich vor. Die abgrundtiefe Blödheit mancher angeblich intelligenten Menschen überraschte ihn nie, aber das hier schlug dem Faß den Boden aus. Komisch, daß er sich Webb durchaus als Mörder, aber nicht als Verführer seiner kleinen Cousine vorstellen konnte.

Nun, er würde die Wahrheit über die Episode in der Küche von Roanna erfahren. Von diesen dreien hier wollte er etwas anderes. »Also, sie hatten Streit. Ist er in Gewalt ausgeartet?«

»Aber sicher«, erwiderte Harlan, der nur zu gierig die Gelegenheit ergriff, sich wieder ins Rampenlicht zu setzen. »Sie waren oben, aber Jessie kreischte so laut, daß wir jedes Wort verstehen konnten. Dann brüllte Webb, sie solle sich doch scheiden lassen, daß er alles tun würde, um sie loszuwerden, und dann hörten wir Glas splittern. Anschließend kam Webb die Treppe runtergestürmt und raste aus dem Haus.«

»Hat einer von Ihnen Jessie danach noch gesehen oder gehört, im Badezimmer vielleicht?«

»Nö, nicht die Spur«, sagte Harlan und Gloria schüttelte den Kopf. Keiner hatte versucht, mit Jessie zu reden, da man ihr erfahrungsgemäß Zeit lassen mußte, ein wenig abzukühlen, wenn man nicht selber Ziel ihres Zorns werden wollte. Auf Lucindas Zügen malten sich Fassungslosigkeit und Entsetzen, als ihr klar wurde, wohin Booleys Fragen führten.

»Nein«, brauste sie wild entschlossen auf. »Booley, nein! Sie können nicht Webb verdächtigen!«

»Das muß ich leider«, erwiderte er und sprach es so sanft wie möglich aus. »Sie hatten einen heftigen Streit. Nun, wir wissen alle, daß Webb ganz schön wütend werden kann, wenn er richtig gereizt wird. Keiner hat Jessie gesehen oder nur einen Laut von ihr gehört, nachdem er fort war. Bedauerlicherweise wird in so einem Fall eine Frau meistens vom Ehemann oder Liebhaber getötet. Es tut mir aufrichtig leid, Lucinda, aber tatsächlich ist Webb der Hauptverdächtige.«

Sie schüttelte immer noch den Kopf, und wieder rannen ihre Tränen über die runzligen Wangen. »Das könnte er nicht. Nicht Webb!« Es klang flehentlich.

»Das hoffe ich auch nicht, aber ich muß es überprüfen. Also, um welche Zeit ist Webb gegangen? Bitte überlegen Sie genau.«

Lucinda schwieg. Harlan und Gloria sahen einander an. »Acht Uhr?« meinte Gloria schließlich unschlüssig.

»Ja, ungefähr acht«, bestätigte Harlan. »Der Film, den ich mir ansehen wollte, hatte gerade begonnen.«

Acht Uhr. Booley dachte ein wenig darüber nach, wobei er auf seiner Unterlippe kaute. Clyde O'Dell, der Leichenbeschauer, verrichtete seinen Job schon ungefähr genauso lange wie Booley, und er war verdammt gut, wenn es darum ging, die Todeszeit zu schätzen. Er besaß sowohl die Erfahrung als auch das Talent, den Grad der Leichenstarre mit der Körpertemperatur zu vergleichen und so zu einem ziemlich akkuraten Ergebnis zu gelangen. Clyde hatte Jessies Todeszeit mit »um die zehn Uhr« angegeben, wobei er seine rechte Hand hin und herwiegte, was bedeutete, daß es auch ein wenig früher oder später gewesen sein konnte. Acht Uhr war ein bißchen arg früh, und obwohl es hätte sein können, warf diese Feststellung doch einen kleinen Zweifel auf Webbs Schuld. Der Fall mußte wasserdicht sein, bevor er ihn dem Bezirksstaatsanwalt vorlegte; denn der alte Simmons war ein viel zu gerissener Politiker, als daß er einen Fall vor Gericht gebracht hätte, in den die Davenports und die Tallants verwickelt waren, ohne sich ziemlich sicher zu sein, ihn auch im Griff zu haben. »Hat irgend jemand später noch ein Auto gehört? Ist Webb vielleicht nochmal zurückgekommen?«

»Ich hab nichts gehört«, verneinte Harlan.

»Und ich auch nicht«, echote Gloria. »Hier drinnen hört man höchstens einen Drei-Tonnen-Laster, außer man liegt im Bett und die Balkontüren stehen offen.«

Lucinda rieb sich die Augen. Booley hatte den Eindruck, als wünschte sie, ihre Schwester und ihr Schwager würden endlich die verdammte Klappe halten. »Normalerweise hört man wirklich nicht, wenn jemand vorfährt«, sagte sie. »Das Haus ist sehr gut isoliert, und das Gebüsch schirmt zusätzlich Geräusche ab.«

»Also hätte er durchaus zurückkommen können, ohne daß es jemand bemerkt hätte.«

Lucinda machte den Mund auf, schloß ihn jedoch wieder, ohne zu antworten. Die Fakten lagen auf der Hand. Der Balkon, der sich um den gesamten ersten Stock des eleganten alten Hauses zog, war über die Außentreppe erreichbar, und diese befand sich auf Webbs und Jessies Zimmerseite. Außerdem besaß jeder Raum doppelte Balkontüren; es wäre geradezu lächerlich einfach für jedermann, die Treppe zu erklimmen und ungesehen ins Schlafzimmer zu gelangen. Vom Standpunkt der Sicherheit aus gesehen, stellte Davenport einen reinen Alptraum dar.

Nun, vielleicht hatte Loyal ja etwas gehört. Seine Wohnung neben den Ställen war vielleicht nicht so schalldicht wie das massive Hauptgebäude.

Yvonne verließ Roanna und trat direkt vor Booley. »Ich habe gehört, was Sie gesagt haben«, sagte sie in sehr ruhigem Ton, obwohl ihre grünen Augen ein Loch in ihn brannten. »Sie bellen den falschen Baum an, Booley Watts. Mein Sohn hat Jessie nicht umgebracht. Egal, wie wütend er auch war, wehgetan hätte er ihr nie.«

»Unter normalen Umständen würde ich Ihnen beipflichten«, stimmte Booley zu. »Aber sie drohte, Lucinda dazu zu bringen, ihn aus ihrem Testament zu streichen, und wir alle wissen, was Davenport für ihn bedeutet ...«

»Bullshit«, meinte Yvonne aus tiefstem Herzen und ignorierte Glorias mißbilligend zusammengekniffenen Mund. »Webb hätte das nicht eine Sekunde lang geglaubt. Jessie hat bei ihren Tobsuchtsanfällen immer übertrieben.«

Booley blickte Lucinda an. Sie wischte sich über die Augen und bestätigte schwach: »Nein, ich hätte ihn nie enterbt.«

»Nicht mal im Fall einer Scheidung?« drängte er.

Ihre Lippen zitterten. »Nein. Davenport braucht ihn.«

Nun, so geht ein prima Motiv den Bach runter, überlegte Booley. Nicht, daß er es allzusehr bedauerte. Es wäre kein Spaß, Webb Tallant verhaften zu müssen. Er würde es tun, wenn die Beweise ausreichten, aber nur äußerst ungern.

In diesem Moment ertönte ein Gewirr von Stimmen an der Eingangstür, und alle erkannten Webbs tiefes Organ, mit dem er etwas Barsches zu einem der Deputies sagte. Jeder Kopf im Raum, außer dem von Roanna, wendete sich ihm zu, während er, von zwei Beamten flankiert, ins Zimmer marschierte. »Ich will sie sehen«, befahl er in scharfem Ton. »Ich will meine Frau sehen.«

Booley erhob sich. »Tut mir leid, Webb,« sagte er, und seine Stimme klang so müde, wie er sich fühlte. »Aber wir müssen Ihnen erst ein paar Fragen stellen.«