4

Roanna starrte Jessie nach, wie sie den Hof verließ und hinauf zu dem hügeligen Teil der Davenport-Ländereien ritt. Jessie bevorzugte gewöhnlich eine weniger anstrengende Route, über flache Felder oder Wiesen. Warum machte sie diesmal eine Ausnahme? Jetzt, wo sie daran dachte, fiel ihr auch ein, daß sie zuvor schon ein paarmal diesen Weg eingeschlagen hatte, und Roanna war zwar stutzig geworden, aber der Sache nicht weiter nachgegangen. Aus irgendeinem Grund kam ihr diesmal jedoch dabei etwas anders vor.

Vielleicht lag es ja daran, daß sie Jessie immer noch böse war wegen ihrer letzten gemeinen Bemerkung, obwohl sie schon schlimmere Angriffe auf ihr ohnehin zerbrechliches Selbstbewußtsein hatte ertragen müssen. Oder sie erwartete einfach grundsätzlich, im Gegensatz zu allen anderen, daß Jessie nichts Gutes im Schilde führte. Es konnte auch dieses verdammte Parfüm sein, beim Mittagessen hatte sie es noch nicht drangehabt. Ein so starker Geruch wäre ihr aufgefallen. Warum hatte sie sich also mit Parfüm überschüttet, bevor sie zu einem Alleinritt aufbrach?

Die Antwort dämmerte ihr mit blendender Klarheit. »Sie hat einen Liebhaber!« flüsterte sie zutiefst bestürzt. Jessie schlich hinter Webbs Rücken davon, um sich mit einem anderen Mann zu treffen! Roanna erstickte fast an ihrer Empörung. Wie konnte jemand, selbst Jessie, nur so bescheuert sein, eine Ehe mit Webb zu gefährden?

Rasch sattelte sie Buckley, ihr derzeitiges Lieblingspferd, und ritt in dieselbe Richtung, in der Jessie verschwunden war. Der große Wallach besaß einen langen, etwas unebenen Schritt, der einen weniger erfahrenen Reiter gehörig durchgeschüttelt hätte, aber man kam sehr schnell mit ihm voran. Roanna war an seinen Schritt gewöhnt und paßte sich seinem Rhythmus an, verschmolz mühelos mit seinen Bewegungen, während sie den Blick auf den Boden geheftet hielt, wo sie den frischen Spuren von Jessies Pferd folgte.

Ein Teil von ihr wollte nicht glauben, daß Jessie ein Verhältnis hatte – es wäre einfach zu schön, um wahr zu sein, und außerdem war Jessie viel zu gerissen, um ihr Brot mit der Butterseite nach unten fallen zu lassen –, aber sie konnte der erregenden Illusion, vielleicht doch recht zu haben, einfach nicht widerstehen. Voller Schadenfreude begann sie vage Rachepläne zu schmieden wegen all der Jahre, in denen Jessie sie malträtiert und gequält hatte, obwohl sie im Grunde mehr Verwirrung empfand als Vergeltungsgelüste. Eher würde sie Jessie eins auf die Nase geben, als sich irgendeinen raffinierten Verrat auszudenken und gar durchzuführen. Ersteres versprach außerdem ein gewisses Vergnügen. Und sie konnte sich die Gelegenheit, Jessie bei etwas Verbotenem zu ertappen, keinesfalls entgehen lassen; gewöhnlich war es nämlich sie, die Mist baute, und Jessie diejenige, die sie verpetzte.

Sie wollte die Cousine nicht zu rasch einholen, also zügelte sie Buckley zum Schritt. Die Julisonne brannte derart heiß und gnadenlos, daß sie eigentlich die Farbe der Bäume hätte auswaschen müssen, was freilich nur so aussah. Ihre Kopfhaut schwitzte vor Hitze. Gewöhnlich setzte sie sich eine Baseballmütze auf; aber sie hatte immer noch ihre feine Hose und die Bluse an, die sie zum Lunch getragen hatte, und die Baseballmütze lag, ebenso wie ihre Stiefel, in ihrem Zimmer.

Herumzutrödeln war nicht schwer bei diesen Temperaturen. Sie hielt an und ließ Buckley aus einem kleinen Bach saufen, dann setzten sie ihren gemütlichen Ritt fort. Eine leichte Brise strich ihr übers Gesicht, und das war auch der Grund, warum Buckley den Geruch von Jessies Pferd auffing und sie mit einem leisen Wiehern warnte. Sie ließ ihn sofort zurückgehen, da sie nicht wollte, daß das andere Pferd Jessie auf sie aufmerksam machte.

Nachdem sie Buckley an einer kleinen Tanne festgemacht hatte, schlich sie sich leise durch die Bäume und eine kleine Anhöhe hinauf. Mit ihren dünnen Sandalen rutschte sie auf den Tannennadeln aus und kickte sie ungeduldig von den Füßen, um den Rest des Wegs bis zur Spitze barfuß zurückzulegen.

Jessies Reittier befand sich etwa vierzig Meter links unter ihr und knabberte seelenruhig an einem kleinen Grasflecken. Ein großer, moosüberwucherter Felsblock überragte die Spitze der Anhöhe, und Roanna kroch dorthin, um sich dahinter zu verstecken. Vorsichtig spähte sie um den Felsen herum in der Erwartung, Jessie irgendwo zu entdecken. Sie hörte Stimmen, aber die Laute waren irgendwie komisch, keine richtigen Worte.

Dann sah sie sie, fast direkt unterhalb, und sank betroffen gegen den heißen Stein. Ihr Herz hämmerte wie eine Buschtrommel. Sie hatte erwartet, Jessie bei einem heimlichen Stelldichein mit einem Freund aus dem Country Club zu erwischen beim harmlosen Knutschen, aber doch nicht das hier. Sie war derart unerfahren und naiv, daß sie sich das Bild, das sich ihr bot, nicht einmal im Traum hätte vorstellen können.

Teilweise waren sie hinter einem Busch verborgen, aber sie konnte dennoch die Decke erkennen und Jessies weißen, schlanken Körper und den dunkleren, muskulöseren des Mannes, der auf ihr lag. Beide hatten nichts an, er bewegte sich und sie umklammerte ihn, während beide Laute ausstießen, die Roanna zusammenzucken ließen. Sie konnte nicht sagen, wer er war, erblickte lediglich den oberen Teil seines Rückens und den Kopf mit den schwarzen Haaren. Doch dann glitt er von Jessie herunter, kniete sich hin, und Roanna starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sie hatte noch nie einen nackten Mann gesehen, und diese Szene traf sie wie ein Dolchstoß. Er zog Jessie hoch, so daß sie auf Händen und Knien lag, schlug ihr dann klatschend aufs Hinterteil, wobei er rauh auflachte über den erstickten, kehligen Laut, den sie dabei ausstieß; dann rammte er sich wieder in sie hinein und trieb es mit ihr, wie Roanna es einmal bei Pferden beobachtet hatte. Und die feine, hochnäsige Jessie krallte sich in die Decke, machte einen Katzbuckel und rotierte ihren Hintern.

Roanna wurde speiübel, sie duckte sich hinter den Felsen und preßte ihre Wange an den Granit. Sie kniff die Augen zusammen und kämpfte mit dem Brechreiz. Wie betäubt und krank vor Verzweiflung, fragte sie sich, was Webb tun würde?

Sie war Jessie aus dem schadenfrohen Wunsch heraus gefolgt, ihre verhaßte Cousine in Schwierigkeiten zu bringen, aber sie hatte etwas viel Harmloseres erwartet: ein paar Küsse, falls überhaupt ein Mann in die Sache verwickelt war, vielleicht ein Treffen mit Freunden, um sich in einer Bar zu amüsieren. Vor Jahren, als sie und Jessie auf Davenport eingezogen waren, hatte Webb Jessies Boshaftigkeit strengstens Einhalt geboten, indem er ihr drohte, ihr den Hintern zu versohlen, wenn sie nicht aufhörte, Roanna zu quälen. Diese Drohung fand Roanna so herrlich, daß sie Tage damit zubrachte, Jessie zu provozieren, bloß um zu erleben, wie ihre Cousine den Allerwertesten poliert bekam. Belustigt hatte Webb sie schließlich beiseite genommen und ihr warnend mitgeteilt, daß die Strafe auch nach hinten, in ihre Richtung also, losgehen konnte, wenn sie keine Ruhe gab. Derselbe ungezogene Impuls hatte sie auch diesmal getrieben, doch was sie hier vorfand, überstieg bei weitem ihre Fassungskraft.

Roannas Hals war wie zugeschnürt vor ohnmächtiger Wut, und sie schluckte krampfhaft. So sehr sie ihre Cousine auch haßte und verabscheute, sie hätte nie geglaubt, daß Jessie ihre Existenz aufs Spiel setzen würde.

Wieder kam ihr der Magen hoch, und sie drehte sich rasch um, schlang die Arme um ihre angezogenen Knie und legte den Kopf darauf. Mit ihrer raschen Bewegung lösten sich ein paar Steinchen, aber sie war viel zu weit weg, als daß das leise Geräusch zu ihnen hätte dringen können, und im Moment war ihr außerdem viel zu schlecht, um sich darum zu kümmern. Im übrigen merkten die beiden ohnehin nicht, was um sie herum vorging. Sie waren viel zu sehr mit Ächzen und Stöhnen beschäftigt. Lieber Himmel, wie blöd das aussah ... und wie unmöglich. Gut, daß sie nicht noch näher dran war und daß der Busch sie zumindest teilweise verbarg ...

Sie hätte Jessie dafür umbringen können, daß sie Webb das antat.

Wenn Webb das erfuhr, würde er Jessie vielleicht selbst an den Kragen gehen, dachte Roanna, und ein kalter Schauder überlief sie. Obwohl er sich normalerweise in der Hand hatte, so wußte doch jeder, der Webb kannte, daß er ganz schön aufbrausen konnte, und vermied es wohlweislich, ihn zu reizen. Jessie aber war dumm, eingebildet und bösartig.

Aber vermutlich wiegte sie sich in Sicherheit, da Webb nicht vor heute abend aus Nashville zurückkehren würde. Bis dahin, dachte Roanna angeekelt, würde Jessie frisch geduscht und parfümiert sein, ihn mit einem hübschen Kleid und einem hübschen Lächeln erwarten und sich insgeheim über seine Ahnungslosigkeit lustig machen.

Webb verdiente das nicht, niemals! Aber sie konnte es ihm nicht sagen ... niemandem! Denn wenn sie es tat, dann würde sich Jessie aller Wahrscheinlichkeit nach mit Lügen herausreden und behaupten, daß Roanna bloß eifersüchtig war und Unruhe stiften wollte; jeder würde ihr glauben, da sie ja wirklich eifersüchtig war, was alle wußten. Und dann wären sowohl Webb als auch Großmutter zornig auf sie statt auf Jessie. Großmutter grollte ihr sowieso schon die meiste Zeit aus dem einen oder anderen Grund, aber sie könnte es nicht ertragen, wenn auch noch Webb auf sie böse wäre.

Andererseits glaubte Webb ihr am Ende doch. Dann könnte er Jessie möglicherweise wirklich umbringen und geriete in furchtbare Schwierigkeiten. Diese Vorstellung erdrückte sie fast – vielleicht fand er es ja auf andere Weise heraus, und dagegen war sie machtlos. Ihr blieb nichts anderes übrig, als den Mund zu halten und zu beten, daß er gegebenenfalls nichts tat, das ihn mit dem Gesetz in Konflikt brachte.

Roanna schlich sich aus ihrem Versteck hinter dem Felsblock und eilte rasch über den Hügel hinunter zu dem kleinen Tannenwäldchen zurück, wo Buckley gemütlich graste. Er blies sie sanft zur Begrüßung an und stubste sie mit den Nüstern. Gehorsam streichelte sie seinen großen Kopf und kraulte ihn hinter den Ohren, aber mit den Gedanken war sie ganz woanders. Sie stieg auf und entfernte sich leise von dem Ort, an dem Jessie Ehebruch begangen hatte. Mit hängenden Schultern ritt sie zurück zum Stall.

Sie verstand einfach nicht, was sie gesehen hatte. Wie konnte eine Frau, selbst Jessie, mit Webb nicht zufrieden sein? Roannas kindliche Heldenverehrung hatte sich in den letzten zehn Jahren, seit sie auf Davenport lebte, noch intensiviert. Mit siebzehn war sie sich nur zu schmerzlich bewußt, wie andere Frauen auf ihn reagierten; also wußte sie, daß sie mit ihrer Anbetung nicht allein dastand. Die Frauen starrten Webb mit unbewußter oder vielleicht gar nicht so unbewußter Sehnsucht an. Roanna vermied es, ihn so anzusehen, aber sie wußte, daß ihr das nicht immer gelang; denn Jessie sagte manchmal etwas in scharfem Ton darüber, daß sie Webb anhimmelte und sich wie eine Pest benahm. Aber sie konnte einfach nicht anders. Jedesmal, wenn sie ihn erblickte, machte ihr Herz einen großen Satz, bevor es anfing so heftig zu pochen, daß sie bisweilen gar keine Luft mehr bekam, und dann wurde ihr immer warm und kribbelig. Sauerstoffmangel, das mußte es sein. Liebe konnte ja nicht kribbeln.

Nichtsdestotrotz liebte sie ihn, liebte ihn mit einer Inbrunst, wie Jessie es nie können oder wollen würde.

Webb! Sein schwarzes Haar und die kühlen grünen Augen, das träge Grinsen, das sie ganz schwindlig machte vor Glück. Sein hochgewachsener, muskulöser Körper jagte ihr sowohl kalte als auch heiße Schauder über den Rücken, als ob sie Fieber hätte; diese ganz bestimmte Reaktion auf ihn plagte sie nun schon seit Jahren, und es wurde schlimmer, wenn sie ihm beim Schwimmen zusah und er nur eine enge Badehose anhatte. Ach, seine tiefe, lässige Stimme und die Art, wie er jeden grimmig ansah, bevor er sich nicht mit seiner morgendlichen Tasse Kaffee gestärkt hatte ... Er war erst vierundzwanzig, aber leitete Davenport uneingeschränkt, selbst Großmutter hörte auf ihn. Wenn er über irgend etwas ungehalten war, dann wurden seine grünen Augen ganz kalt, so kalt wie Gletscher, die Lässigkeit verschwand aus seiner Stimme, und seine Worte wurden mit einem Mal messerscharf.

Sie kannte seine verschiedenen Stimmungen, wußte, wie er aussah, wenn er müde war, wie er seine Hemden haben wollte. Roanna registrierte aufmerksam, welche Farben er am liebsten mochte, welche Sportmannschaften er favorisierte und was ihn zum Lachen brachte, was ihn ärgerte. Auch seine Lektüre verfolgte sie, seine politischen Interessen. Zehn Jahre lang hatte sie jedes kleinste Detail in sich aufgesaugt, hatte sich ihm zugewandt wie ein scheues Veilchen, das sich dem Licht entgegenreckt. Seit ihre Eltern tot waren, nahm Webb sowohl den Platz ihres Beschützers als auch ihres Vertrauten ein. Ihm hatte sie all ihre kindlichen Ängste gebeichtet, er hatte sie getröstet, wenn sie aus einem Alptraum erwachte oder wenn sie sich so schrecklich einsam und verloren fühlte.

Doch trotz all ihrer Liebe hätte sie nie eine Chance bei ihm gehabt, und das wußte sie. Es war immer Jessie gewesen. Allerdings tat es schrecklich weh, daß sie sich ihm mit Leib und Seele anbot und er dennoch Jessie geheiratet hatte. Jessie, die ihn manchmal sogar zu hassen schien. Jessie, die ihm untreu war!

Tränen brannten in Roannas Augen, und sie wischte sie unwillig fort. Weinen nutzte überhaupt nichts, doch sie konnte nicht anders, als Ohnmacht zu empfinden.

Von dem Tag an, als Jessie und sie auf Davenport einzogen, hatte Webb Jessie mit einem kühlen, besitzergreifenden Blick beobachtet. Jessie war auch mit anderen Jungs ausgegangen und er mit anderen Mädchen; aber er gestand ihr nur eine gewisse Länge an freier Leine zu und wenn sie das Ende erreicht hatte, zog er sie mit einem kräftigen Ruck wieder zurück. Von Anfang an besaß er die Oberhand in ihrer Beziehung. Webb war der einzige Mann, den Jessie nie hatte um den kleinen Finger wickeln oder mit ihren Wutanfällen einschüchtern können. Ein einziges Wort von ihm und sie parierte, etwas, das nicht einmal Großmutter fertigbrachte.

Roanna nährte die heimliche Hoffnung, daß Jessie ihn vielleicht doch nicht heiraten wollte; aber die Hoffnung war so schwach, daß sie kaum existiert hatte. Als Großmutter seinerzeit verkündete, daß Webb sowohl Davenport als auch ihren Geschäftsanteil am Unternehmen erben würde, was ganze fünfzig Prozent ausmachte, stand für alle Jessies Hochzeit mit Webb bombenfest – selbst wenn er der gemeinste, häßlichste Mann auf der Welt gewesen wäre, was ja keineswegs zutraf. Jessie hatte Janets fünfundzwanzig Prozent geerbt und Roanna die fünfundzwanzig Prozent ihres Vaters. Jessie hielt sich selbst für die Kronprinzessin von Davenport, mit der Aussicht, durch ihre Heirat einmal Königin zu werden. Niemals hätte sie einen darunterliegenden Status hingenommen, indem sie sich mit einem Fremden einließ.

Aber auch Jessie war durchaus fasziniert von Webb. Die Tatsache, daß sie ihn nicht beherrschen konnte so wie die anderen Jungen, ärgerte und provozierte sie, weshalb sie partout nicht aufhören konnte, um seine Flamme und nach seiner Pfeife zu tanzen. Sie war eitel genug, sich einzubilden, daß sie ihn, sobald sie einmal verheiratet waren, mit Sex würde beherrschen können, indem sie ihm ihre Gunst je nach Laune zuwandte oder entzog.

Wenn die Dinge so lagen, dann war sie jedenfalls ziemlich enttäuscht worden. Roanna wußte, daß es in ihrer Ehe kriselte, und hatte sich insgeheim darüber gefreut. Auf einmal jedoch schämte sie sich zutiefst, denn Webb verdiente es, glücklich zu sein, auch wenn es Jessie nicht zustand.

Aber welch diebische Genugtuung bereitete es ihr stets, wenn Jessie nicht ihren Willen bekam! Sie wußte immer Bescheid, denn auch wenn Webb seinen Zorn unter Kontrolle hielt, so machte sich Jessie nie diese Mühe. Wenn sie wütend war, dann tobte sie, schmollte und grollte. In den zwei Jahren ihrer Ehe hatten sie begonnen, sich immer häufiger zu streiten, wobei Jessie, sehr zu Großmutters Kummer, regelmäßig das ganze Haus zusammenbrüllte.

Nichts, was Jessie tat, konnte Webb jedoch von einer einmal gefällten Entscheidung abbringen. Sie stritten beinahe andauernd, und Webb mußte obendrein Davenport leiten und das Unternehmen nach bestem Vermögen in Gang halten, eine Aufgabe, die knochenhart war und ihn oft bis zu achtzehn Stunden am Tag beanspruchte. In Roannas Augen war Webb offensichtlich erwachsen und fähig, die Verantwortung zu tragen; dennoch war er erst vierundzwanzig und hatte ihr einmal anvertraut, daß er einigermaßen damit zu tun hatte, den älteren, etablierteren Geschäftsleitern zu beweisen, daß er seiner Aufgabe gewachsen war. Danach strebte er in erster Linie, und sie liebte ihn dafür.

Ein arbeitssüchtiger Ehemann war jedoch nicht das, was Jessie sich vom Leben wünschte. Sie wollte Europa bereisen, aber er hatte dauernd irgendwelche Geschäftstermine. Sie wollte zum Höhepunkt der Skisaison nach Aspen; er hielt das für reine Zeit- und Geldverschwendung, da sie weder Skifahren konnte noch Interesse daran hatte, es zu lernen. Ihr lag vor allem daran, zu sehen und gesehen zu werden. Als sie innerhalb von sechs Monaten vier Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens bekam und deshalb ihren Führerschein verlor, wäre sie ungerührt weitergefahren, im Vertrauen auf den Einfluß der Davenports, der sie schon aus jeglichen Schwierigkeiten herausholen würde. Aber Webb konfiszierte einfach all ihre Wagenschlüssel und verbot den andern, ihr deren Autos zu leihen; und dann ließ er sie einen Monat lang zu Hause herumsitzen, bevor er einen Chauffeur für sie anheuerte. Am meisten in Rage hatte sie gebracht, daß sie selbst einen Chauffeur engagieren wollte: das hingegen hatte Webb vorausgesehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen. Es gab nämlich in der Gegend nicht viele Firmen, die Limousinen vermieteten, und keine, die es sich mit ihm verscherzen wollte. Nur Großmutter war während dieses höllischen Monats Jessies messerscharfer Zunge entgangen, einem Monat, in dem sie wie ein rebellischer Teenager, der unter Hausarrest stand, rumhing.

Vielleicht ist mit anderen Männern zu schlafen ja Jessies Art, sich an Webb dafür zu rächen, daß er ihr nicht ihren Willen läßt, dachte Roanna. Bei ihrem selbstsüchtigen Wesen war ihr das durchaus zuzutrauen.

Bitter erkannte Roanna, daß sie Webb eine viel bessere Frau gewesen wäre als Jessie; aber keiner hatte das je in Betracht gezogen, am wenigsten Webb. Roanna besaß eine ungewöhnlich scharfe Beobachtungsgabe, einen Charakterzug, den sie entwickelt hatte, weil sie ihr Leben lang die zweite Geige spielen mußte. Sie liebte Webb, aber unterschätzte auch nicht seinen Ehrgeiz. Wenn Großmutter beispielsweise Roanna für ihre Nachfolge im Sinn gehabt hätte, so wie Jessie damals, dann wäre aller Wahrscheinlichkeit nach sie mit Webb verlobt worden. Zugegeben, Webb hätte sie nie so angesehen wie ihre Cousine, aber sie war ja bis dahin ein Kind gewesen. Mit Davenport in der Waagschale würde er wahrscheinlich sie gewählt haben, das wußte sie ganz genau. Es wäre ihr egal gewesen, bloß als Mittel zum Zweck zu dienen. Sie hätte Webb unter jeder Bedingung geheiratet und wäre dankbar für jegliches bißchen Zuneigung gewesen. Warum hatte es nicht sie sein können? Warum Jessie?

Weil Jessie bildschön und immer schon Großmutters Liebling gewesen war. Roanna hatte sich anfangs nach besten Kräften bemüht, es aber nie geschafft, auch nur annähernd so graziös und unterhaltsam zu sein wie Jessie, hatte nie deren guten Geschmack, was Kleidung und Einrichtung betraf, erreicht. Ganz sicher würde sie nie so hübsch werden. Roannas Spiegel war nicht mit Rosen überhaucht; sie sah ihr glattes, dichtes, unordentliches Haar, das mehr ins Bräunliche als Rote ging, nur allzu deutlich, und auch ihre leicht schrägstehenden braunen Augen, den Huckel auf ihrer langen Nase und ihren übergroßen Mund. Dazu kamen ihre Zaunlattenfigur sowie diese peinliche Ungeschicklichkeit. Mit wachsender Verzweiflung erkannte sie, daß keiner, ganz besonders kein Mann, sie Jessie vorziehen würde. Mit siebzehn war Jessie der Star der Schule gewesen, während Roanna im selben Alter keine einzige richtige Verabredung vorweisen konnte. Großmutter hatte bei diversen Anlässen, die zu besuchen Roanna gezwungen war, für eine männliche Begleitung gesorgt; aber die Jungen waren offensichtlich von ihren Müttern zu der Aufgabe verdonnert worden, und Roanna schämte sich jedesmal gräßlich und tappte stumm nebenher. Keiner der Zwangsverpflichteten hatte sich je um ein zweites Treffen mit ihr bemüht.

Aber seit Webbs Heirat gab sich Roanna immer weniger Mühe, sich in die passende Form pressen zu lassen, die die Großmutter für sie vorgesehen hatte, die Form der Davenports. Wozu auch? Webb war für sie verloren. Sie hatte angefangen, sich zurückzuziehen und so viel Zeit, wie sie nur konnte, mit den Pferden zu verbringen. Bei den Tieren war sie so entspannt, wie sie es in Gegenwart von Menschen nie sein konnte; den Pferden war es egal, wie sie aussah oder ob sie beim Abendessen wieder einmal ein Glas umgestoßen hatte. Die Rösser reagierten auf ihre sanfte leichte Hand, auf ihre ganz besondere Stimme, mit der sie zu ihnen sprach, reagierten auf die Liebe und Fürsorge, die sie ihnen entgegenbrachte. Auf einem Pferd fühlte sie sich nie unbeholfen. Irgendwie paßte sich ihr dünner Körper dann immer dem Rhythmus des mächtigen Tiers unter ihr an, und sie verschmolz mit seiner Stärke und Grazie. Loyal hatte gesagt, daß niemand so eine gute Figur beim Reiten mache wie sie, nicht einmal Mr. Webb, und der ritt, als ob er im Sattel geboren wäre. Ihr Talent als Reiterin war das einzige an ihr, was Großmutter je lobte.

Aber sie würde die Gäule mit Freuden aufgeben, wenn sie Webb dafür bekäme. Jetzt bot sich eine Chance, seine Ehe zerbrechen zu lassen – sie konnte sie jedoch nicht ergreifen, traute sich nicht. Sie brachte es einfach nicht über sich, ihm derart wehzutun, und wollte auf keinen Fall, daß er die Beherrschung verlor und einen nicht wiedergutzumachenden Fehler beging.

Buckley fühlte ihre Unruhe, das war bei Pferden so, und begann nervös hin- und herzutänzeln. Roanna lenkte ihre Gedanken in die Gegenwart zurück und versuchte, ihn zu beruhigen, klopfte ihm den Hals und murmelte freundlichen Unsinn, doch ihre Gedanken wanderten rasch wieder ab. Trotz der Hitze rannen ihr kalte Schauder über den Rücken, und erneut hatte sie das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

Loyal besaß normalerweise mehr Einfühlungsvermögen für Pferde als für Menschen; doch er runzelte die Stirn, als er ihr Gesicht sah, und kam zu ihr, um Buckleys Zügel zu übernehmen, während sie sich aus dem Sattel schwang. »Was ist los?« fragte er ohne Umschweife.

»Nichts«, erwiderte sie, dann wischte sie sich zitternd den Schweiß von der Stirn. »Ich glaube, mir ist einfach zu heiß geworden, das ist alles. Leider hatte ich meine Mütze vergessen.«

»Du solltest es wirklich besser wissen«, schimpfte er. »Geh ins Haus und trink ein Glas kalte Limonade, dann ruh dich ein bißchen aus, während ich mich um Buck kümmere.«

»Du hast gesagt, man soll sich immer selbst um sein Pferd kümmern«, protestierte sie, aber er unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Und jetzt sag ich, daß du gehen sollst. Los, ab mit dir. Wenn du nicht genug Verstand besitzt, um auf dich selbst zu achten, dann kannst du dich auch nicht um Buck kümmern.«

»Okay. Danke!« Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln, denn sie wußte, daß sie wirklich krank aussehen mußte, wenn Loyal mal eine Ausnahme machte, und sie wollte ihn nicht verärgern. Tatsächlich fühlte sie sich krank, im Herzen, und so voll ohnmächtiger Wut, daß sie glaubte, jeden Moment zu explodieren. Sie haßte, was sie gesehen hatte, haßte Jessie, daß sie es tat, haßte Webb dafür, daß er solch eine Situation – wenn auch unwissentlich – zuließ.

Nein, dachte sie, während sie zum Haus eilte, schon der Gedanke war unerträglich. Sie haßte Webb nicht, das würde sie nie können. Es wäre besser für sie, wenn sie ihn nicht lieben würde – aber das konnte sie genausowenig abstellen, wie sie die Sonne daran hindern konnte, an jedem Morgen aufzugehen.

Keiner sah sie, als sie durch die Vordertür huschte. In der prächtigen Eingangshalle hielt sich niemand auf, doch Tansys Gesang drang aus der Küche, und in einem der Zimmer lief ein Fernseher. Wahrscheinlich schaute Onkel Harlan eine seiner Game-Shows an, die er so liebte. Roanna ging auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, denn im Moment wollte sie niemandem begegnen.

Großmutters Suite lag nach vorne, zur Auffahrt hin; es war die erste Tür auf der rechten Seite. Jessies und Webbs Suite befand sich links davon. Über die Jahre hatte sich Roanna schließlich in einem der hinteren Räume eingerichtet, weit weg von allen anderen; aber zu ihrem Verdruß nisteten sich Tante Gloria und Onkel Harlan in der mittleren Suite auf der rechten Seite des Hauses ein; die Tür stand offen, und sie konnte Großmutter und Tante Gloria drinnen sprechen hören. Als sie noch aufmerksamer lauschte, hörte sie auch die Stimme von Bessie, der Haushälterin, die wohl die Koffer auspackte. Da sie vor allem Tante Gloria fürchtete, wendete sie sich in die andere Richtung und eilte durch die doppelte Glastür auf den Balkon hinaus, der das erste Stockwerk vollständig umspannte. Dann schritt sie entgegengesetzt ringsherum, bis sie ihre eigene Balkontür erreichte und rasch in ihr Zimmer schlüpfte.

Sie wußte nicht, ob sie Jessie je wieder in die Augen blicken könnte, ohne zu schreien und ihr albernes Lärvchen zu ohrfeigen. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie wischte sie zornig beiseite. Weinen hatte noch nie geholfen; es hatte Mom und Daddy nicht zurückgebracht, keiner mochte sie deswegen lieber, und es hatte schon gar nicht Webb davon abgehalten, Jessie zu heiraten. Seit langer Zeit kämpfte sie bereits ihre Tränen zurück und tat, als ob ihr nichts wirklich etwas ausmachte – selbst wenn sie an ihrem inneren Schmerz und dem Gefühl der Erniedrigung oft beinahe erstickte.

Aber es war ein solcher Schock gewesen, Jessie und den Mann zu sehen, wie sie sich tatsächlich vereinten. Sie war nicht dumm und schon öfter in Filmen für Erwachsene gewesen; aber dort sah man nie wirklich was, außer die Titten von der Frau, und alles war mit Softfilter geschönt und romantischer Musik untermalt. Und einmal hatte sie die Pferde dabei beobachtet, doch eigentlich nicht richtig, da sie sich zwar zu diesem Zweck in den Stall geschlichen, aber keinen guten Beobachtungsposten gefunden hatte. Die Laute jagten ihr Angst und Schrecken ein, und seitdem hatte sie es nie wieder versucht.

Doch die menschliche Realität war ziemlich anders und mitnichten romantisch. Hier war sie Roheit und Brutalität begegnet, die sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gelöscht hätte.

Sie nahm noch schnell eine Dusche, dann fiel sie physisch und emotional vollkommen erschöpft aufs Bett. Vielleicht würde sie ein wenig vor sich hin dösen; auf einmal war es dann viel dunkler im Zimmer, und draußen brach die Dämmerung herein, also hatte sie wohl das Abendessen verpaßt. Noch ein Minuspunkt auf dem Konto, dachte sie und seufzte.

Sie war jetzt ruhiger, fühlte sich ein wenig benommen. Zu ihrer Überraschung hatte sie sogar Hunger. Mit ein paar sauberen Sachen angetan, trottete sie die Hintertreppe zur Küche hinunter. Tansy hatte das Geschirr bereits abgewaschen und war heimgegangen; aber in dem enormen Kühlschrank aus Edelstahl gab es immer jede Menge Überbleibsel von den Mahlzeiten.

Während sie an einem kalten Hühnerbein und einer Semmel nagte, mit einem Glas Tee neben dem Ellbogen, ging auf einmal die Küchentür auf, und Webb spazierte herein. Er sah müde aus und hatte sowohl Jackett als auch Krawatte abgenommen. Das Jackett hatte er sich über die Schulter geworfen, wo es von einem abgewinkelten Finger baumelte. Die zwei obersten Knöpfe seines Hemds standen offen. Roannas Herz machte den üblichen Satz, als sie ihn erblickte. Selbst in diesem zerknitterten Zustand sah er himmlisch aus. Ihr wurde wieder ganz flau, als sie daran dachte, was Jessie ihm antat.

»Ißt du noch immer?« fragte er in gespieltem Erstaunen, und seine grünen Augen funkelten.

»Darf doch nicht vom Fleisch fallen«, gab sie zurück, um einen leichten Ton bemüht, der ihr jedoch nicht ganz gelang. In ihrer Stimme schwang ein Ernst, den sie nicht vollständig verbergen konnte, und Webb warf ihr einen scharfen Blick zu.

»Was hast du jetzt schon wieder angestellt?« erkundigte er sich, nahm ein Glas aus dem Schrank, öffnete den Kühlschrank und goß sich Eistee ein.

»Nichts Besonderes«, versicherte sie ihm und brachte sogar ein schiefes Lächeln zustande. »Ich hab beim Mittagessen meine große Klappe aufgerissen, und jetzt sind Großmutter und auch Tante Gloria stinksauer auf mich.«

»Also, was war es diesmal?«

»Wir haben uns über Autos unterhalten, und ich sagte, ich hätte neulich gelesen, daß protzige Autos oft bloß eine Penisverlängerung für den Eigentümer bedeuten.«

Seine breiten Schultern zuckten, während er versuchte, einen Lachanfall zu unterdrücken, der schließlich in einem Husten endete. Er ließ sich in den Stuhl neben ihr fallen. »Mein Gott, Ro!«

»Ich weiß.« Sie seufzte. »Es ist mir einfach so herausgerutscht. Tante Gloria hatte eine ihrer bissigen Bemerkungen über meine Tischmanieren gemacht, und da wollte ich ihnen eins auswischen.« Sie hielt inne. »Es hat funktioniert.«

»Und Lucinda?«

»Sie hat mich vom Tisch gewiesen. Ich hab sie seitdem nicht gesehen.«

Sie rupfte an ihrer Semmel herum, bis sie nur noch aus einem Haufen Brösel bestand; doch auf einmal legte sich Webbs starke Hand über ihre und machte ihrer Nervosität damit ein Ende.

»Hast du überhaupt etwas gegessen, bevor du rausgegangen bist?« fragte er, und in seiner Stimme lag ein strenger Ton.

Sie verzog das Gesicht, da sie wußte, was nun kommen würde. »Sicher – eine Semmel und etwas Thunfisch!«

»Eine ganze Semmel? Wieviel Thunfisch?«

»Nun, vielleicht nicht eine ganze.«

»Mehr, als du von der hier verspeist hast?«

Angestrengt beäugte sie das demolierte Brötchen auf ihrem Teller, so als ob sie jeden Krümel gewissenhaft in Betracht zöge. Sie war erleichtert, sagen zu können, daß es mehr war.

Nicht viel mehr, aber immerhin. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er sich nicht von ihr täuschen ließ, doch für den Moment gab er sich zufrieden. »Na schön. Wieviel Thunfisch? Wieviele Bissen?«

»Ich hab sie doch nicht gezählt!«

»Mehr als zwei?«

Langsam arbeitete sie sich durch ihr Gedächtnis. Es waren einige Bissen, um Tante Gloria zu zeigen, daß ihre scharfe Bemerkung sie nicht getroffen hatte. Sie konnte versuchen, der Wahrheit auszuweichen, doch Webb direkt anzulügen, brachte sie nicht fertig; da er das wußte, würde er fortfahren, sie mit seinen Fragen festzunageln. Leise seufzend gab sie zu: »Es werden wohl so zwei gewesen sein.«

»Hast du danach noch irgendwas gegessen? Bis jetzt, meine ich?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ro.« Er drehte seinen Stuhl so, daß er ihr zugewandt war, legte den Arm um ihre schmalen Schultern und drückte sie an sich. Seine Hitze und seine Stärke umhüllten sie, wie es immer der Fall war. Roanna barg ihren ungekämmten Haarschopf an seiner breiten Brust. Ein seliges Glücksgefühl stieg in ihr hoch. Als sie noch jünger gewesen war, hatten Webbs Umarmungen eine Zuflucht für ein zutiefst verstörtes, verängstigtes und ungeliebtes kleines Mädchen dargestellt. Jetzt war sie älter, und die Freude, die sie dabei empfand, hatte sich gewandelt. Seine Haut strömte einen verwirrenden, leicht moschusähnlichen Duft aus, bei dem ihr Herz immer zu holpern und zu rasen begann; gleichzeitig verspürte sie das überwältigende Bedürfnis, sich an ihn zu schmiegen und an ihm festzuhalten.

»Du mußt einfach essen, Baby«, drängte er sanft, aber mit einem unnachgiebigen Unterton. »Ich weiß, daß du dich aufregst und dann den Appetit verlierst – aber du hast eindeutig noch mehr Gewicht verloren. Du wirst noch deiner Gesundheit schaden, wenn du dich nicht vernünftiger ernährst.«

»Ich weiß, was du denkst«, warf sie ihm vor und hob den Kopf, um ihn aufgebracht zu mustern. »Aber ich bring mich nicht zum Übergeben oder sowas.«

»Mein Gott, wie könntest du auch? Du hast ja nie genug im Magen, um spucken zu können. Wenn du nicht mehr ißt, dann wirst du bald keine Kraft mehr haben, auf ein Pferd zu steigen. Ist es das, was du willst?«

»Nein!«

»Dann iß!«

Sie betrachtete das Hühnerbein mit einem zweifelnden Gesichtsausdruck. »Ich versuche es ja, aber die meisten Sachen schmecken mir einfach nicht, und alle mäkeln immer an mir herum, wie ich esse – und dann krieg ich diesen Knoten im Magen und kann einfach nichts mehr schlucken.«

»Du hast heute morgen Toast mit mir gegessen, und den schienst du ganz gut runterzukriegen.«

»Weil du mich ja auch nicht anschreist oder dich über mich lustig machst«, murmelte sie.

Er streichelte ihr Haar, strich die kastanienbraunen Strähnen aus ihrem Gesicht. Arme kleine Ro. Sie hungerte nach Tante Lucindas Anerkennung, war aber zu rebellisch, um ihr Verhalten entsprechend zu ändern. Vielleicht tat man ihr wirklich unrecht: sie war doch keine vorsätzliche Missetäterin oder etwas in der Art. Roanna kam ihm einfach wie ein wildes Blümchen vor, das inmitten eines wohlgepflegten und geordneten Rosengartens wuchs, und keiner konnte etwas mit ihr anfangen. Sie sollte wirklich nicht betteln müssen um die Liebe und die Anerkennung ihrer Familie; Tante Lucinda müßte sie so lieben, wie sie war. Aber für Tante Lucinda war ihre andere Enkelin, Jessie, der Inbegriff von Perfektion, und sie hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß Roanna ihr in keiner Hinsicht das Wasser reichen konnte. Webb preßte den Mund zusammen. Seiner Ansicht nach war Jessie alles andere als perfekt, und höchstwahrscheinlich würde sie nie aus ihrem Egoismus und ihrer Selbstsucht herauswachsen.

Jessies Haltung hatte ebenfalls viel mit Roannas Unfähigkeit, richtig zu essen, zu tun. Jahrelang fand nun schon dieses Gekabbel statt, während er sich der monumentalen Aufgabe widmete, das Management von Davenport und all der Davenport-Unternehmungen zu lernen. Er hatte vier Jahre College in dreien absolviert und dann seinen Doktor in Wirtschaft gemacht; doch es war unbestreitbar, daß sich die Situation nicht von allein lösen würde. Um Roannas willen mußte er intervenieren, und zwar bei Lucinda ebenso wie bei Jessie.

Roanna brauchte eine ruhige, friedliche Umgebung, wo sich ihre Nerven beruhigen und ihr Magen entspannen konnte. Wenn Großmutter und Jessie – und jetzt noch Tante Gloria – nicht damit aufhören konnten, andauernd an Roanna herumzukritisieren, dann würde er Roanna eben nicht mehr mit ihnen essen lassen. Lucinda bestand darauf, daß alle gemeinsam bei Tisch saßen, daß Roanna sich den gesellschaftlichen Gepflogenheiten beugte, aber in diesem Punkt würde er sie überstimmen. Wenn es ihr besser schmeckte in der friedvollen Umgebung ihres Zimmers oder sogar draußen im Stall, dann würde sie eben dort essen. Sollte sie sich allerdings durch die Trennung von den anderen noch ausgestoßener fühlen – statt erleichtert, wie er hoffte –, dann würde er eben mit ihr im Stall essen. So konnte es einfach nicht weitergehen, denn Roanna hungerte sich noch zu Tode.

Impulsiv hob er sie auf seinen Schoß, wie er es in ihren Kindertagen zu tun pflegte. Sie war jetzt etwa einsdreiundsiebzig, aber nicht viel schwerer, und sein Magen krampfte sich angstvoll zusammen, als er ihre erschreckend dünnen Handgelenke mit seinen langen Fingern umschloß. Seine kleine Cousine appellierte seit jeher an seinen Beschützerinstinkt; und ganz besonders hatte ihm immer ihr Mut, ihre Bereitschaft, sich zu wehren ohne Rücksicht auf die Folgen, gefallen. Sie steckte voller Schabernack und Ausgelassenheit; wenn doch Lady Davenport bloß aufhören wollte, eben jene Seiten an ihr auszuradieren!

Schon immer hatte sie sich wie ein Kätzchen an ihn geschmiegt, und das tat sie jetzt auch ganz automatisch und rieb ihre Wange an seinem Hemd. Ein leichtes Gefühl der Erregung durchzuckte ihn, verwirrt runzelte er die Stirn.

Er blickte zu ihr hinunter. Roanna war beklagenswert unterentwickelt für ihr Alter und konnte sich weder normal mit ihren Altersgenossen unterhalten, noch sich gegen ihre verbalen Übergriffe wehren.

Angesichts von Mißbilligung und Zurückweisung sowohl zu Hause als auch in der Schule, reagierte Roanna mit Rückzug, so daß sie nie gelernt hatte, mit anderen Siebzehnjährigen umzugehen. Aus diesem Grund hatte er sie unbewußt weiterhin für ein Kind gehalten, das seinen Schutz brauchte, und vielleicht brauchte sie ihn ja wirklich. Aber auch wenn sie noch nicht ganz erwachsen sein mochte, so war sie doch kein Kind mehr.

Webb konnte den sanften Schwung ihrer Wange sehen, die langen, schwarzen Wimpern, die fast durchsichtige Haut an ihren Schläfen, wo sich zarte blaue Venen ahnen ließen. Ihre Haut schimmerte und besaß einen warmen, weiblichen Duft. Ihre Brüste waren sehr klein, aber auch sehr fest, und er konnte eine Brustwarze fühlen, die sich hart wie eine Radiergummispitze an ihn drängte. Seine leichte Erregung wurde ganz plötzlich zu einem spürbaren Pochen in seinen Lenden, und mit einem Mal bemerkte er, wie rund ihre Pobacken waren und wie süß sie sich auf seinen Schenkeln anfühlten.

Mühsam unterdrückte er ein Stöhnen und rückte sie ein wenig von sich ab, bloß soviel, daß ihre Hüfte nicht mehr an seinen schwellenden Penis stieß. Roanna war erstaunlich unschuldig für ihr Alter, hatte noch nie einen Freund gehabt; er zweifelte, ob sie je geküßt worden war. Sie hatte keine Vorstellung, was sie mit ihm anstellte, und er wollte sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber seine brüderlichen Kontakte kamen nicht mehr in Frage. Von jetzt an mußte er einfach vorsichtiger sein, obwohl es sich hier wahrscheinlich nur um einen Ausrutscher handelte. Seit über vier Monaten hatte er nicht mehr mit Jessie geschlafen, weil er es einfach so verdammt satt hatte, wie sie immer noch versuchte, ihn mit ihrem Körper zu manipulieren. Bei ihren Begegnungen ging es nicht um Liebe, sondern schlicht um Machtkämpfe. Teufel nochmal, er bezweifelte, daß Jessie überhaupt begriff, was es hieß, sich zu lieben und aus Liebe intim zu werden, sich gegenseitig Lust und Freude zu schenken. Aber er war jung und gesund, und nach vier Monaten Abstinenz neigte er zur Reizbarkeit, daß sogar Roannas dürrer kleiner Körper ihn erregen konnte.

Er zwang sich, sich wieder auf das vorliegende Thema zu konzentrieren. »Ich will dir mal was sagen«, leitete er seine kleine Ansprache ein. »Ab sofort wird niemand mehr etwas über deine Tischmanieren sagen; falls es doch jemand tut, dann gib mir Bescheid, und ich kümmere mich darum. Du, meine Süße, wirst anfangen, regelmäßig zu essen. Mir zuliebe. Versprich es mir.«

Sie blickte zu ihm auf, und in ihre whiskeybraunen Augen trat der sanfte, bewundernde Glanz, der nur für ihn reserviert war. »Also gut«, flüsterte sie. »Dir zuliebe.« Bevor er auch nur ahnen konnte, was sie vorhatte, schlang sie den Arm um seinen Nacken und preßte ihren weichen, unschuldigen Mund auf den seinen.

Von dem Augenblick an, in dem er sie auf seinen Schoß genommen hatte, konnte Roanna beinahe nicht mehr atmen vor Sehnsucht und überwältigender Erregung. Ihre Liebe zu ihm wallte in ihr auf, und sie hätte am liebsten gestöhnt vor Glück über die Art, wie er sie berührte, wie er sie festhielt. Sie rieb ihre Wange an seinem Hemd und fühlte die Hitze und Festigkeit seiner Muskeln unter dem Stoff. Ihre Brustwarzen pochten, und sie preßte sich hemmungslos an ihn. Das Gefühl, das sie dabei durchfuhr, war so intensiv, daß es ihr wie ein Blitzschlag zwischen die Beine schoß und sie die Schenkel zusammenkneifen mußte, so heiß wurde ihr.

Dann spürte sie sie, die plötzliche Härte an ihrer Hüfte, und mit einem aufgeregten Kribbeln erkannte sie, was es war. Heute nachmittag hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen nackten Mann gesehen, und die Szene, derer sie Zeuge geworden war, hatte sie zutiefst schockiert und angewidert – aber das hier war Webb! Und es bedeutete, daß er sie wollte.

Sie war ganz benommen vor Glück und konnte nicht mehr denken. Er rückte sie ein wenig von sich ab, um einen Sicherheitsabstand zu schaffen, und er redete. Währenddessen studierte sie seinen wunderschönen Mund, ja hörte kaum, was er sagte. Er wollte, daß sie aß, ihm zuliebe.

»Also gut«, flüsterte sie. »Dir zuliebe.« Alles würde sie für ihn tun. Dann wurde ihre Sehnsucht so groß, daß sie sich einfach nicht mehr zurückhalten konnte – denn ihr ganzes bisheriges Leben hatte sie davon geträumt. Sie schlang den Arm um seinen Nacken und küßte ihn.

Seine Lippen waren sehr männlich und wiesen einen so köstlichen Geschmack auf, daß sie vor Verlangen erbebte. Da er heftig zusammenzuckte, war er offenbar erschrocken, und seine Hände schlossen sich um ihre Taille, als ob er sie von sich fortschieben wollte. »Nein«, schluchzte sie und hatte auf einmal schreckliche Angst, ihn wieder zu verlieren. »Webb, bitte. Halt mich!« Und sie schlang den Arm fester um ihn und küßte ihn noch stürmischer, ja wagte sogar, scheu über seine Lippen zu lecken, wie sie es einmal in einem Film gesehen hatte.

Er erbebte, ein langer Schauder überlief seinen muskulösen Körper, und seine Hände krampften sich um sie. »Ro ...«, begann er, und ihre Zunge glitt zwischen seine geöffneten Lippen.

Ein tiefes Stöhnen entrang sich ihm, und sein ganzer Körper verkrampfte sich. Dann, auf einmal, öffnete sich sein Mund und bewegte sich, und er übernahm die Initiative. Seine Arme schlossen sich um sie, ganz fest, und seine Zunge glitt in ihren Mund. Roannas Kopf fiel zurück unter der Heftigkeit seiner Umarmung; ihr schwanden beinahe die Sinne. Sie hatte viel übers Küssen nachgedacht, ja, es sogar nachts das eine oder andere Mal auf ihrem Kissen geübt; aber sie hätte nie gedacht, daß ein Kuß einen so aus dem Gleichgewicht werfen, so himmlisch schmecken oder eine so unsägliche Sehnsucht erwecken könnte. Sie wand sich auf seinem Schoß, wollte ihn noch enger spüren, und er drehte sie stürmisch zu sich herum, so daß nun beide Brüste an ihn gepreßt waren.

»Du hinterlistiger Bastard!«

Die kreischende Stimme traf wie ein Pfeil in Roannas Ohr. Sie schnellte von Webbs Schoß herunter und wirbelte mit kreidebleichem Gesicht zu ihrer Cousine herum. Jessie stand mit verzerrter Miene im Türrahmen und schleuderte Zornesblitze auf die beiden. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt, die Knöchel traten weiß hervor.

Webb erhob sich. Rote Flecken standen auf seinen Wangen, aber er musterte seine Frau mit distanziertem Blick. »Beruhige dich«, sagte er in gelassenem Ton. »Ich kann alles erklären.«

»Und wie du das kannst!« höhnte sie. »Ich bin richtig gespannt. Kein Wunder, daß du mich nicht mehr wolltest! Du hast es die ganze Zeit mit dieser heuchlerischen Schlampe getrieben!«

Roter Nebel ließ Roannas Blick verschwimmen. Nach allem, was Jessie heute nachmittag gemacht hatte, wagte sie es immer noch, Webb wegen eines einzigen Kusses so anzuschreien! Ohne es richtig zu merken, stand sie auf einmal vor Jessie und stieß sie an die Wand. Jessies Kopf flog dröhnend dagegen.

»Roanna, hör sofort auf!« sagte Webb scharf, packte sie grob und zog sie beiseite.

Jessie richtete sich auf und wischte sich die Haare aus den Augen. Geschmeidig wie eine Katze sprang sie an Webb vorbei und schlug Roanna mit aller Kraft die flache Hand ins Gesicht. Webb ergriff sie und schwang sie zur Seite, wobei er sie mit festem Griff am Kragen ihrer Bluse packte, während er mit der anderen Hand Roanna am Nacken festhielt.

»Das reicht, verdammt nochmal«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. Webb fluchte normalerweise nicht vor Frauen, und die Tatsache, daß er es diesmal tat, enthüllte sein Stimmungsbarometer. »Jessie, es hat keinen Sinn, das ganze Haus mit hineinzuziehen. Wir reden oben darüber.«

»... oben darüber«, äffte sie ihn nach. »Wir reden gleich hier darüber, du elender Wichser! Du willst, daß es niemand erfährt? Vergiß es! Morgen abend wird jeder in Tuscumbia wissen, daß du eine Schwäche für Kinderärsche hast, denn ich werde es an jeder Straßenecke herausschreien!«

»Halt den Mund«, knurrte Roanna, ohne auf ihre brennende Wange zu achten, und fixierte Jessie haßerfüllt. Sie versuchte, sich aus Webbs grausamem Griff zu befreien, aber der packte nur noch fester zu.

Jessie spuckte sie an. »Du bist schon immer hinter ihm hergewesen, du Luder«, zischte sie. »Du hast es geplant, daß ich euch beide so finde, nicht wahr? Du wußtest, daß ich in die Küche runterkommen würde. Es hat dir nicht genügt, ihn hinter meinem Rücken zu bumsen, du wolltest es mir ein für allemal unter die Nase reiben.«

Roanna war fassungslos über die Unverfrorenheit ihrer Attacke. Sie warf Webb einen raschen Blick zu und sah das plötzlich aufkeimende Mißtrauen, sah den verächtlichen Blick, mit dem er sie maß. »Haltet den Mund, ihr Schreihälse«, knurrte er, und seine Stimme war so leise und eisig, daß ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. »Jessie! Ab nach oben. Sofort!« Er ließ Roanna los und steuerte Jessie am Kragen zur Tür. Dort hielt er kurz inne und streifte Roanna mit einem derart kalten Blick, daß sie zusammenzuckte, als hätte sie eine Peitsche getroffen. »Um dich kümmere ich mich später!«

Die Tür schwang hinter den beiden zu. Roanna sank mit zitternden Knien gegen einen Küchenschrank und schlug die Hände vors Gesicht. O Gott, so etwas hatte sie ganz bestimmt nicht gewollt. Jetzt haßte Webb sie, und sie glaubte nicht, daß sie das ertragen konnte. Ein brennender Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus und schnürte ihr die Kehle zu, ja, erstickte sie fast. Jessies Raffinesse und Bosheit war sie noch nie gewachsen gewesen, und das hatte die Ältere soeben wieder bewiesen; mühelos spie sie genau die Lüge aus, die Webb gegen sie aufbrachte. jetzt glaubte er, sie hätte das alles absichtlich inszeniert. Jetzt würde er sie nie, niemals mehr mögen.

Auch Großmutter würde ihr das alles keinesfalls verzeihen. Sie wiegte sich zutiefst verzweifelt hin und her, und fragte sich, ob man sie jetzt wohl fortschickte. Jessie versuchte Lucinda schon seit einiger Zeit dazu zu bewegen, Roanna in einem Mädchenpensionat irgendwo im Norden der Vereinigten Staaten anzumelden. Aber bis jetzt hatte Roanna sich standhaft geweigert, und Webb hatte sie unterstützt – doch nun bezweifelte sie, daß Webb auch nur einen Finger rühren würde, und wenn sie sie in die Wüste Gobi verbannten. Sie hatte ihn in so große Schwierigkeiten gebracht, daß er ihr wohl nie verzieh, sollte sie ihn auch davon überzeugen können, daß Jessie gelogen hatte. Allerdings war ihrer Erfahrung nach die Cousine sowieso immer die glaubwürdigere.

Innerhalb weniger Minuten lag ihre Welt in Scherben vor ihr. Sie war so glücklich gewesen, diese paar wunderschönen, süßen Augenblicke lang, in denen sie in seinen Armen lag; jedoch im Handumdrehen verwandelte sich alles in eine Hölle. Bestimmt mußte sie fort und verlor Webb für immer.

Genau genommen lag der Schwarze Peter natürlich bei Jessie. Aber Roanna wagte es nicht, das zu sagen, egal was auch passierte. Sie hatte gar keine Chance, sich gegen die abscheulichen Lügen zu wehren, die Jessie jetzt, in diesem Augenblick, über sie ausspie.

»Ich hasse dich«, flüsterte sie leise, womit natürlich ihre Cousine gemeint war. Roanna kauerte sich nieder und kuschelte sich wie ein ängstliches kleines Tierchen an die Küchenschränke. Ihr Herz zerriß ihr mit seinem Hämmern schier die Brust, so daß sie einer Ohnmacht nahe war. »Ich wünschte, du wärst tot.«