20

Drinnen herrschte noch Aufruhr, als Webb und Roanna zurückkehrten. Corliss hockte hysterisch heulend auf der Treppe und flehte Lucinda um ein Dach überm Kopf an. Doch nicht einmal ihre eigene Mutter stellte sich diesmal auf ihre Seite; betrunken zu sein war schlimm genug, aber den Bruder anzuspucken überstieg alles bisher Dagewesene.

Von Brock fehlte jede Spur; wahrscheinlich hatte er sich klugerweise entfernt, bevor er sich noch an seiner Schwester vergreifen konnte.

Lucinda musterte die heulende Corliss mit einem kalten Blick. »Du hast recht, Corliss. Auch wenn ich schon mit einem Bein im Grab stehe, gehört das Haus immer noch mir. Und als Eigentümerin von Davenport erteile ich Webb uneingeschränkte Vollmacht, in meinem Namen zu handeln – ohne irgendwelche Rückfragen!«

»Nein, nein«, heulte Corliss. »Ich kann nicht ausziehen, du verstehst nicht ...«

»Selbstverständlich ziehst du aus!« erwiderte Lucinda absolut unnachgiebig. »Du widerst mich an. Ich empfehle dir, jetzt gleich auf dein Zimmer zu gehen, bevor mir Webbs Vorschlag, dich bereits morgen vor die Tür zu setzen, noch verlockender erscheint als ohnehin schon.«

»O Mom!« wandte sich Corliss mit tränenüberströmten Wangen flehentlich an ihre Mutter. »Sag ihr, daß sie mich bleiben lassen soll!«

»Ich bin zutiefst von dir enttäuscht!« Lanette machte kehrt und ging an ihrer Tochter vorbei die Treppe hinauf.

Greg beugte sich vor und riß Corliss auf die Füße. »Ab mit dir«, sagte er streng, drehte sich herum und stieß sie die Stufen hinauf. Alle sahen zu, bis die beiden oben waren und bis zu Corliss' Zimmer miteinander rangelten. Ihr ungezogenes Geheule brachte alle nur noch mehr auf.

Lucinda sank erschöpft in sich zusammen. »Dieses Biest«, murmelte sie. Ihr Gesicht wirkte noch wächserner als vorher. »Ist mit den Pferden alles in Ordnung?« fragte sie Roanna.

»Keins hat sich verletzt, und alle sind wieder ruhig.«

»Gut.« Lucinda fuhr sich mit zitternder Hand an die Stirn, holte dann tief Luft und straffte ihre Schultern.

»Webb, könnte ich dich kurz sprechen, bitte? Wir müssen uns über ein paar Dinge unterhalten.«

»Aber sicher.« Er ergriff ihren Ellbogen und stützte sie auf dem Weg zum Arbeitszimmer. Kurz bevor er die Tür erreichte, warf er einen Blick über die Schulter auf Roanna. Sie sahen sich an. Seine Augen waren zärtlich und voller Verheißung. »Iß du bitte fertig«, sagte er mit Nachdruck.

Als er und Lucinda allein im Arbeitszimmer waren, ließ sie sich schwer auf die Couch sinken. Ihr Atem kam stoßweise, und der Schweiß stand ihr auf der Stirn. »Der Arzt sagte, mein Herz läßt auch langsam nach, verdammt nochmal«, schimpfte sie. »Siehst du, jetzt habe ich auch noch geflucht.« Sie warf einen verstohlenen Blick auf Webb, um zu sehen, wie er reagierte.

Unfreiwillig grinste er. »Das hast du früher auch, Lucinda. Diesen Rotschimmel, dein Leib-und-Magen-Roß, hast du doch verflucht, daß ihm von Rechts wegen die Ohren hätten abfallen müssen.«

»War schon ein Prachtstück, dieses Tier, nicht wahr?« meinte sie liebevoll. So starrköpfig das Pferd auch gewesen sein mochte, Lucinda hatte immer die Oberhand behalten. Noch vor wenigen Jahren war sie mit beinahe jedem Exemplar fertiggeworden, auf das sie sich setzte.

»Also worüber wolltest du mit mir reden?«

»Über mein Testament«, sagte sie direkt. »Morgen werde ich den Anwalt kommen lassen. Besser, ich mache es gleich; denn es sieht so aus, als ob mir weniger Zeit bleibt, als ich glaubte.«

Webb setzte sich neben sie auf das Sofa und nahm eine ihrer knochigen, zittrigen Hände in die seinen. Sie war zu gerissen und auch zu stolz, als daß sie sich mit Platitüden von ihm hätte trösten lassen; daher versuchte er es erst gar nicht. Aber es gefiel ihm nicht, sie gehen lassen zu müssen. Ganz und gar nicht! »Ich liebe dich«, sagte er. »Damals war ich stinkwütend auf dich, weil du bei dem Mord an Jessie nicht zu mir gehalten hast. Es hat verteufelt weh getan, daß du mich dazu für fähig gehalten hast. Ganz bin ich immer noch nicht drüber weg, aber ich hab dich trotzdem lieb.«

Tränen traten ihr in die Augen, doch sie blinzelte sie energisch weg. »Natürlich bist du noch nicht drüber weg. Ich habe nie angenommen, daß du mir endgültig verzeihen würdest, und der Himmel weiß, ich hab es auch nicht verdient. Aber ich liebe dich auch, Webb, und halte dich seit jeher für Davenports besten Treuhänder.«

»Überlaß es Roanna«, sagte er. Diese Worte sprudelten von ganz allein aus seinem Mund. Er hatte Davenport immer als sein Eigen betrachtet, als etwas, das einmal ihm gehören würde, und alle seine Kräfte darin investiert. Aber ganz plötzlich wußte er, daß es anders richtiger war. Davenport stand Roanna zu. Trotz allem, was Lucinda dachte, ja auch trotz allem, was Roanna dachte, war sie mehr als in der Lage, die Zügel zu übernehmen.

Roanna war stärker und klüger, als alle annahmen, einschließlich ihrer selbst. Webb begann erst jetzt langsam ihren Charakter zu begreifen. Jahrelang hatte sie jeder für zart und schwach gehalten, alle hatten gedacht, daß das emotionale Trauma von Jessies Ermordung Roannas Ruin war; doch statt dessen hatte sie sich in sich selbst zurückgezogen, ausgeharrt, Kraft gesammelt. Man brauchte schon eine besondere Art von Stärke zum Ausharren in unabänderlichen Situationen – sich sozusagen einfach hinzuhocken und die Sache auszusitzen. In letzter Zeit jedoch kam Roanna mehr und mehr aus ihrem Panzer hervor, zeigte stückweise ihre Persönlichkeit, stand mit einer Reife und Gelassenheit für sich ein, die eher unauffällig sein mochte, aber gleichwohl vorhanden war.

Lucinda blinzelte ihn überrascht an. »Roanna? Glaubst du nicht, ich hätte nicht schon längst mit ihr darüber geredet? Sie will Davenport nicht.«

»Nein, sie will bloß nicht ihr Leben mit Finanz- und Papierkram verbringen sowie dem Studium von Börsenberichten«, korrigierte er. »Aber sie liebt Davenport. Überlaß es ihr.«

»Du meinst, das Erbe aufsplitten?« fragte Lucinda vollkommen verwirrt. »Ihr das Haus überlassen und dir alles übrige?« Sie klang geschockt; das war unausdenkbar. Davenport und alles was dazugehörte, hatte immer in einer Hand gelegen.

»Nein, ich meine, überlaß alles ihr. Es steht ihr auch rechtmäßig zu.« Roanna brauchte ein Zuhause, das hatte sie ihm selbst gesagt; sie brauchte etwas, das nur ihr gehörte, was ihr niemand mehr wegnehmen konnte. »Sie hat nie das Gefühl gehabt, irgendwo daheim zu sein; wenn du alles mir überläßt, wird sie glauben, sie wäre nicht tüchtig genug gewesen, um Davenport zu bekommen – natürlich würde sie sich mit jedem Testament einverstanden erklären. Aber dann fehlt ihr ihr Nest, Lucinda. Auf Davenport sollten Davenports leben, und sie ist die letzte.«

»Aber ... aber selbstverständlich wird sie hier leben.« Lucinda blickte ihn unsicher an. »Du würdest sie nie wegschicken. Ach, du meine Güte! Das wird komisch aussehen, nicht wahr? Die Leute hätten was zum Tratschen.«

»Sie hat mir erzählt, sie möchte sich etwas Eigenes kaufen.«

»Und Davenport verlassen?« Allein der Gedanke erschreckte Lucinda. »Aber hier ist doch ihr Zuhause.«

»Genau«, erwiderte Webb leise.

»Also, sieh mal an!« Lucinda lehnte sich zurück und dachte über diese Wendung der Dinge nach. Doch eigentlich war es ja ganz einfach. Sie würde alles so belassen, wie es war, mit Roanna als Alleinerbin. »Aber ... was wirst du tun?«

Er lächelte, ein langsames Lächeln, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitete. »Sie kann mich anheuern, um den Geschäftskram für sie zu erledigen«, sagte er leichthin. Auf ein mal wußte er ganz genau, was er wollte, und ihm war, als würde ihm endlich eine Erleuchtung zuteil. »Oder noch besser, ich heirate sie!«

Das verschlug Lucinda wirklich die Sprache. Sie brauchte eine volle Minute, bevor sie ein »Wie bitte?« hervorkrächzen konnte.

»Ich heirate sie«, wiederholte Webb mit wachsender Entschlossenheit. »Gefragt hab ich sie noch nicht, also sag vorerst nichts.« Ja, er würde sie ehelichen, so oder so. Ihm war, als ob auf einmal der Groschen gefallen wäre, als ob die Dinge zu guter Letzt an ihren richtigen Platz rückten. Es fühlte sich richtig an. Nichts war ihm je richtiger vorgekommen. Roanna hatte immer zu ihm gehört – und er immer zu ihr.

»Webb, bist du dir sicher?« fragte Lucinda besorgt. »Roanna liebt dich, aber sie verdient es, wiedergeliebt zu werden ...«

Er betrachtete sie vollkommen ernst. Seine grünen Augen funkelten, und sie verfiel in erstauntes Schweigen. »Da sieh mal einer an«, wiederholte sie.

Nun begann er zu erklären. »Jessie – ich war besessen von ihr, glaube ich, und irgendwie habe ich sie wohl geliebt, weil wir zusammen aufgewachsen sind; aber das Ganze stimmte später nicht mehr. Ich hätte sie nie heiraten dürfen; aber ich war derart verrannt in die Idee, Davenport zu erben und die Kronprinzessin zu heiraten, daß ich über den Verlauf unserer Ehe nie genügend nachdachte. Aber Roanna ... ich glaube, ich liebe sie schon, seit sie auf der Welt ist. Als sie noch klein war, habe ich sie wie ein großer Bruder geliebt; aber jetzt ist sie erwachsen, und unsere Beziehung hat sich geändert.« Er seufzte und dachte an all die Jahre, in denen seine Gefühle und sein Erbe miteinander rangen. »Wenn Jessie nicht getötet worden wäre, hätten wir uns scheiden lassen. Ich hab das ernst gemeint, was ich an dem Abend sagte. Wir hatten uns gegenseitig satt. Und wenn wir amtlich auseinandergegangen wären, hätte ich Roanna schon vor langer Zeit geheiratet. Jessies Tod stellte ein unüberwindliches Hindernis zwischen uns dar, und ich hab wegen meines Grolls zehn Jahre vergeudet.«

Lucinda blickte forschend in sein Gesicht, und was sie dort fand, ließ sie erleichtert zusammensinken. »Du liebst sie wirklich!«

»So sehr, daß es weh tut.« Sanft drückte er Lucindas Hand. »Sie hat mich sechsmal angelächelt«, gestand er. »Und einmal gelacht.«

»Gelacht!« Wieder schossen Lucinda die Tränen in die Augen, und diesmal ließ sie sie rinnen. Ihre Lippen zitterten. »Ich würde sie so gerne wieder lachen hören, bloß noch einmal.«

»Sie wird wieder glücklich werden«, versprach Webb. »Wann wollt ihr heiraten?«

»So bald wie möglich; das heißt, wenn ich sie dazu überreden kann.« Er wußte, daß Roanna ihn liebte; aber sie davon zu überzeugen, daß er sie ebenfalls liebte, mochte einige Mühe kosten. Früher einmal hätte sie ihn mit fliegenden Fahnen genommen; doch nun würde sie vermutlich schweigen und auf stur schalten, wenn sie mißtrauisch war. Andererseits wollte er jedoch, daß Lucinda ihre Hochzeit noch erlebte, also mußte es rasch gehen – ihre Kräfte verlöschten zusehends. Und vielleicht gab es ja noch einen privateren Grund für eine unverzügliche Eheschließung.

»Ach was!« meinte Lucinda wegwerfend. »Du weißt, sie würde durchs Feuer gehen, um dich heiraten zu können!«

»Ich weiß, daß sie mich liebt; aber ich habe einsehen müssen, daß sie nicht mehr blindlings alles tut, worum ich sie bitte. Die Zeiten sind längst vorbei. Außerdem hätte ich ungern eine Fußmatte zur Frau. Sie soll selbstbewußt sein und für das einstehen, was sie will.«

»So, wie sie für dich einstand.«

»Wie sie immer für mich eingestanden ist!« Als er verlassen auf dem Friedhof stand, war Roanna an seiner Seite gewesen, hatte ihre schmale Hand in die seine geschoben und ihm Trost geboten, soweit sie ihn geben konnte. Sie war weit stärker als er, stark genug gewesen, um als erste auf ihn zuzugehen und ihm ihre Rechte zu reichen. »Sie verdient das Erbe«, beharrte er. »Außerdem möchte ich nicht, daß sie je das Gefühl hat, es mir recht machen zu müssen, nur um ihr Zuhause zu behalten.«

»Möglicherweise denkt sie dasselbe im Hinblick auf dich«, meinte Lucinda. »Immer wenn du nett zu ihr bist, wird sie sich fragen, ob du es vielleicht nur deshalb bist, weil sie die Hand auf dem Geldbeutel hat. Ich befinde mich selbst in dieser Situation«, fügte sie trocken hinzu, wobei sie zweifelsohne an Corliss dachte.

Webb zuckte mit den Schultern. »Naja, sie hat es nicht gerade mit einem armen Schlucker zu tun, wie du verdammt gut weißt, da du mir ja so einen dezenten Privatdetektiv nachgeschickt hast. Ich hab meine Grundstücke und Investitionen in Arizona, und die werden ein hübsches Vermögen wert sein, bevor ich mit ihnen fertig bin. Sicherlich hat Roanna den Bericht auch gelesen, also weiß sie über meine finanzielle Lage Bescheid. Insofern sind wir uns ebenbürtig; sie wird hoffentlich merken, daß ich mit ihr zusammen bin, weil ich sie liebe, und aus keinem anderen Grund. Wenn sie wirklich nicht daran interessiert sein sollte, werde ich mich um die Geschäfte kümmern, aber das ist gar nicht gewiß, daß sie damit aufhören will. Sie sagt es zwar, aber hat trotzdem das Davenport-Händchen, wenn es um Geschäfte geht, nicht wahr?«

»Ein etwas anderes allerdings!« Lucinda lächelte. »Sie achtet mehr auf die Leute als auf die Zahlen in den Bilanzen.«

»Du weißt, was sie wirklich tun möchte, nicht wahr?«

»Nein, was?«

»Pferde trainieren.«

Lucinda lachte leise. »Das hätte ich eigentlich wissen können! Loyal arbeitet seit Jahren mit ihren Trainingstips, und ich muß sagen, daß wir fast die mustergültigsten Pferde in der Gegend haben.«

»Sie kann einfach wundervoll mit Tieren umgehen. Dort liegt ihr Herz, also soll sie das meinetwegen auch in die Tat umsetzen. Du hast Pferde immer aus Liebhaberei gehalten, weil du verrückt nach ihnen bist; aber Roanna möchte einen Beruf daraus machen.«

»Du hast dir alles schon zurechtgelegt, stimmt's?« Sie lächelte ihn liebevoll an, denn schon als Junge war Webb immer strategisch vorgegangen und, ohne nach rechts oder links zu blicken, dabei geblieben. »Keiner hier weiß, daß du Grundstücke in Arizona besitzt. Die Leute werden sich das Maul zerreißen, das ist dir doch hoffentlich klar.«

»Du meinst, sie bringen das Geld ins Spiel? Daß ich mir Davenport mit allem Mitteln aneignen wollte? Daß ich Jessie deswegen geheiratet hätte, um mich dann, nachdem sie tot war, an Roanna ranzumachen?«

»Wie ich sehe, hast du alle Fallstricke bedacht.«

Webb winkte ab. »Die Fallstricke sind mir scheißegal, solange Roanna es nicht auch glaubt.«

»Das wird sie nicht. Sie liebt dich seit zwanzig Jahren und wird dich noch weitere zwanzig lieben.«

»Mehr als das, hoffe ich doch.«

»Weißt du eigentlich, wieviel Glück du hast?«

»Oh, ich ahne es ungefähr«, sagte er leise. Es überraschte ihn, daß er so lange gebraucht hatte, bis er auf den Gedanken gekommen war. Auch wenn er gewußt hatte, daß er Roanna liebte, so hatte er diese Liebe nie als eine romantische, erotische Liebe betrachtet; er hatte sich immer für ihren großen Bruder gehalten, selbst nachdem sie sich das erste Mal geküßt hatten und er beinahe die Beherrschung verlor. Erwacht war er erst – und das mit einem kräftigen Ruck –, als sie in dieser Bar in Nogales auf ihn zukam, eine erwachsene Frau, die er zehn Jahre lang nicht gesehen und somit auch ihre Entwicklung nicht mitbekommen hatte. Diese Nacht war unauslöschlich in sein Gedächtnis gebrannt, und trotzdem hatte er danach mit der Fehlannahme, Roanna vor seiner Lüsternheit beschützen zu müssen, zu kämpfen gehabt. Gott, was für ein Schwachkopf er doch gewesen war. Sie liebte seine Lüsternheit geradezu, was ihn zum glücklichsten Mann auf Gottes Erdboden machte.

Jetzt mußte er sie nur noch dazu überreden, ihn zu heiraten, und diesen kleinen Mordversuch an ihm klären.

Roanna stand auf dem Balkon und beobachtete den Sonnenuntergang, als er ihr Zimmer betrat. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, als sie die Tür aufgehen hörte. Die letzten Strahlen der Sonne schienen auf sie nieder und verwandelten ihre Haut in goldenen Samt und ihr Haar in ein schimmerndes Meer. Er kam durch den Raum und trat zu ihr hinaus auf den Balkon. Mit dem Rücken lehnte er sich ans Geländer, so daß er das Gesicht dem Haus und ihr zuwandte. Sie anzusehen gefiel ihm so verdammt gut. Immer wieder entdeckte er Neues in ihren ausgeprägten Zügen, mit den feingemeißelten Wangenknochen, den tanzenden Lichtern in ihren whiskeyfarbenen Augen. Der Kragen ihrer Bluse stand offen, so daß er ein Stück seidiger Haut sehen konnte, das ihn daran erinnerte, wie seidig sie überall sonst noch war.

Er fühlte, wie er allmählich hart wurde, stellte ihr aber dennoch eine knurrige Frage. »Hast du aufgegessen?«

Sie zog die Nase kraus. »Nein, das Essen war kalt, also hab ich mir statt dessen eine Zitronencremeschnitte genehmigt.«

Er runzelte die Stirn. »Tansy hat nochmal Schnitten gemacht? Davon hat sie mir gar nichts gesagt.«

»Es ist bestimmt noch was übrig«, tröstete sie ihn. Sie blickte in den rot-lila-streifigen Himmel hinauf. »Willst du Corliss wirklich rausschmeißen?«

»O ja!« Erleichterung und Entschlossenheit waren aus diesen zwei kurzen Worten zu hören.

Sie wollte etwas sagen, hielt jedoch inne.

»Sag es ruhig«, ermutigte er sie, »... wenn du glaubst, daß ich unrecht habe.«

»Nein, das glaube ich nicht. Lucinda braucht jetzt ihren Frieden und nicht dauernde Querelen.« Ihre Gedanken wanderten in die Ferne. »Bloß, ich weiß noch, wie es ist, kein Zuhause zu haben und nicht zu wissen, wo man hin soll.«

Er streckte die Hand aus und wickelte sich eine Haarlocke um den Finger. »Als deine Eltern starben?«

»Ja, und auch später, bis – bis ich siebzehn war.« Bis Jessie starb, meinte sie, sagte es jedoch nicht. »Ich hab mich immer davor gefürchtet, fortgeschickt zu werden, wenn ich es nicht recht machte.«

»Das wäre niemals geschehen«, meinte er in felsenfester Überzeugung. »Du bist hier zu Hause. Lucinda hätte dich nie fortgeschickt.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Sie haben darüber gesprochen. Lucinda und Jessie, meine ich. Sie wollten mich in einem College anmelden. Nicht bloß Tuscaloosa, sondern in einem Mädchencollege irgendwo in Virginia, glaube ich. Weit genug weg, damit ich nicht regelmäßig nach Hause kommen konnte.«

»Das war nicht der Grund.« Er klang geschockt. An die Debatte erinnerte er sich durchaus. Lucinda hatte gedacht, es wäre gut für Roanna, einmal von ihnen allen fortzukommen, damit sie erwachsen werden konnte, und Jessie hatte natürlich in dasselbe Horn getutet. Im nachhinein verstand er, daß Roanna den Eindruck gehabt hatte, man wollte sie loswerden.

»So hab ich es jedenfalls aufgefaßt«, setzte sie hinzu.

»Warum hat sich das geändert, als du siebzehn wurdest? Lag es daran, daß Jessie tot war und das Thema nicht mehr zur Sprache bringen konnte?«

»Nein.« Wieder trat jener entrückte Ausdruck in ihre Augen. »Auf einmal war es mir egal. Fortzugehen erschien mir das Beste. Ich wollte weg von Davenport, von den Leuten, die mich kannten und bemitleideten, weil ich so beklagenswert aussah, ein linkischer Trampel war und mich nicht vernünftig unterhalten konnte.« Ihr Ton blieb ganz sachlich, als ob sie eine Speisekarte herunterleierte.

»Teufel nochmal«, sagte er müde. »Jessie hatte sich es wirclich zur Lebensaufgabe gemacht, dich runterzudrücken, nicht wahr? Eine fürchterliche Lage. Es sollte ein Gesetz dagegen geben, daß Leute unter fünfundzwanzig heiraten. Ich hab mich für den reinsten King gehalten, als ich Anfang zwanzig war. Glaubte fest daran, daß ich Jessie zähmen und in eine passende Ehefrau verwandeln könnte – was ich für passend hielt, natürlich. Aber Jessie hat immer etwas gefehlt, die Fähigkeit zu lieben vielleicht, denn geliebt hat sie niemanden. Weder mich, noch Lucinda, ja nicht mal sich selbst. Und ich war zu jung, um das zu erkennen.« Er rieb sich die Stirn und dachte an jene schrecklichen Tage nach dem Mord zurück. »Nun, vielleicht hat sie am Ende ja doch jemanden geliebt. Vielleicht den Mann, dessen Kind sie erwartete. Aber das werde ich nie erfahren.«

Roanna schnappte geschockt nach Luft. Sie drehte sich zu ihm. »Du wußtest Bescheid?« fragte sie fassungslos.

Webb stieß sich vom Geländer ab und blickte sie scharf an. »Ich hab es nach ihrem Tod erfahren.« Er packte sie aufgeregt bei den Schultern. »Und woher wußtest du es?«

»Ich – ich hab sie im Wald zusammen gesehen.« Sie wünschte, sie hätte sich nicht verraten; doch zu hören, daß er über Jessies Affäre im Bilde war, kam allzu überraschend. All die Jahre hatte sie dieses Geheimnis für sich behalten, und er hatte es die ganze Zeit über gewußt! Ihr hingegen hatte niemand verraten, daß Jessie schwanger gewesen war bei ihrer Ermordung, und deshalb wurde ihr jetzt speiübel.

»Wer war es?« fragte er hart.

»Ich weiß nicht, hab ihn nie zuvor gesehen.«

»Kannst du ihn beschreiben?«

»Eigentlich nicht, nein!« Sie biß sich auf die Lippe und dachte an jenen Tag. »Es war nur ein kurzer Blick auf die beiden, an Jessies Todestag, und das auch nur aus der Ferne. Ich habe es dir damals nicht erzählt, weil ich Angst hatte ...« Sie hielt inne und ein Ausdruck tiefer Traurigkeit glitt über ihre Züge. »Ich hatte Angst, du würdest ausrasten und etwas Dummes tun, dich in Schwierigkeiten bringen. Also hab ich den Mund gehalten.«

»Und nachdem Jessie getötet worden war, hast du auch nichts gesagt; du dachtest, man würde mich dann verhaften und behaupten, ich hätte sie aus Eifersucht umgebracht.« Aus demselben Grund hatte er geschwiegen und war beinahe daran erstickt. Ihm tat das Herz weh, wenn er daran dachte, das Roanna das gleiche Geheimnis bewahrt hatte, und zwar aus demselben Beweggrund. Sie war noch so jung gewesen, außerdem unter Schock angesichts der Leiche ihrer Cousine – und weil man sie vorübergehend des Mordes verdächtigt hatte; hinzu kam die Kränkung seiner Zurückweisung, und trotz allem hatte sie den Mund gehalten.

Roanna nickte und blickte ihm forschend ins Gesicht. Die Sonne verschwand jetzt rasch hinter dem Horizont, und die Dämmerungsschatten drangen mit ihren mysteriösen, blaulila Schleiern hervor. Es war jener kurze Moment, in dem die Erde zwischen Tag und Nacht verharrte, als würde die Zeit stillstehen und alles ringsum süßer und reicher werden. Von seiner undurchdringlichen Miene ließ sich nicht ablesen, was er dachte oder fühlte.

»Also hast du es für dich behalten«, sagte er leise. »Um mich zu schützen. Ich wette, du bist beinahe daran erstickt, als Jessie reinkam und uns lauthals beschuldigte, miteinander zu schlafen, wo du sie erst wenige Stunden zuvor mit einem anderen ertappt hast.«

»Ja«, sagte sie kläglich; diesen Alptraum würde sie nie vergessen.

»Hat sie dich gesehen?«

»Nein, ich hab mich nicht gemuckst. Damals war ich ziemlich gut im Anschleichen.« Sie warf ihm einen Blick zu, der sagen wollte, was für ein verwegenes Ding sie doch damals gewesen war.

»Ich weiß«, bestätigte er ihr trocken. »Erinnerst du dich noch, wo sie sich getroffen haben?«

»Es war auf irgendeiner Waldlichtung. Ich könnte dich ungefähr hinführen, glaube aber nicht, daß ich die exakte Stelle wiederfinden würde. Es ist zehn Jahre her und die Lichtung wahrscheinlich längst zugewachsen.«

»Wenn sie auf der Lichtung waren, warum kannst du den Mann dann nicht beschreiben?«

»Weil sie Sex hatten!« stieß sie heftig hervor. »Er war nackt. Ich hatte noch nie einen nackten Mann gesehen. Offen gestanden hab ich nicht auf sein Gesicht geachtet!«

Webb ließ erstaunt die Hände sinken und sah sie im schwindenden Licht der Dämmerung mit zusammengekniffenen Augen an. Dann fing er an zu lachen. Er lachte nicht bloß einmal auf, sondern röhrte vor Vergnügen, und es schüttelte ihn geradezu. Eigentlich wollte er aufhören, doch sie zeigte einen so verdatterten Blick, daß er fröhlich weiterwieherte.

Sie boxte ihn an die Schulter. »Hör auf«, brummte sie.

»Also ich kann mir Booley so richtig vorstellen«, keuchte Webb prustend. »T-tut mir leid, Sheriff, ich hab sein Gesicht nicht gesehen, weil ich seinen – Whoff!« Diesmal versetzte sie ihm einen Magenschwinger. Er stieß zischend die Luft aus und klappte, sich den Bauch haltend, zusammen.

Roanna reckte das Kinn. »Ich hab mir nicht«, sagte sie würdevoll, »seinen Whoff angesehen.« Sie stapfte in ihr Zimmer und machte Anstalten, ihm die Balkontür vor der Nase zuzuknallen. Im letzten Moment zwängte er sich durch den verbleibenden Spalt. Roanna stellte den Alarm an und zog die Vorhänge zu.

Er schlang den Arm von hinten um sie, bevor sie ihm entschlüpfen konnte, und zog sie fest an sich. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Ich weiß, daß dich das Ganze ziemlich aus der Fassung gebracht haben muß.«

»Es hat mich krank gemacht«, sagte sie heftig. »Ich haßte sie dafür, daß sie dich betrog.«

Mit gesenktem Kopf rieb er sein stoppeliges Kinn in ihrem Haar. »Ich glaube, sie hatte vor, mir das Baby unterzuschieben und mir weiszumachen, daß es meins wäre. Dafür mußte sie mich aber erst dazu bringen, mit ihr zu schlafen, und ich hatte sie seit vier Monaten nicht mehr angerührt. So, wie die Dinge standen, konnte sie es unmöglich als meins deklarieren. Als sie uns beim Küssen erwischte, hat sie wahrscheinlich ihren ausgeklügelten Plan in Rauch aufgehen sehen. Sie wußte verdammt gut, daß ich das Baby nicht als meins ausgeben würde, bloß um einen Skandal zu vermeiden. Ich hätte mich so schnell von ihr scheiden lassen, daß sie nicht mehr gewußt hätte, wo vorn und hinten ist. Ohnehin war sie krankhaft eifersüchtig auf dich. Wenn sie mich mit einer anderen erwischt hätte, wäre sie längst nicht so wütend gewesen.«

»Auf mich?« fragte Roanna fassungslos und schaute verwundert auf. »Eifersüchtig auf mich? Aber warum denn? Sie hatte doch alles.«

»Aber dich habe ich immer beschützt – und das meistens vor ihr. Grundsätzlich stand ich auf deiner Seite, und das konnte sie einfach nicht ertragen. Sie mußte überall und bei jedem an erster Stelle rangieren.«

»Kein Wunder, daß sie immer versucht hat, Lucinda dazu zu überreden, mich aufs College zu schicken!«

»Sie wollte dich aus dem Weg haben.« Er strich ihr Haar beiseite und küßte ihren Hals. »Bist du sicher, daß du den Mann nicht beschreiben kannst?«

»Er war mir völlig unbekannt. Und da sie am Boden lagen, kam sein Gesicht fast überhaupt nicht in Sichtweite. Damals hielt ich ihn für älter, aber ich war ja erst siebzehn. In dem Alter erscheint einem Dreißig schon hoffnungslos.«

Zärtlich knabberte er an ihrem Hals, und sie erschauerte genüßlich. Sie fühlte, wie er buchstäblich das Interesse an seinen Fragen verlor; seine Erektion wuchs alarmierend und stieß an ihr Hinterteil. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an ihn. Eine wohlige Wärme breitete sich in ihr aus.

Langsam glitten seine Hände über ihren Leib und umfingen ihre Brüste. »Genau wie ich dachte«, murmelte er und verlagerte seine Liebesbisse an ihr Ohrläppchen.

»Was?« keuchte sie, griff nach hinten und stützte sich mit den Händen an seinen harten Oberschenkeln ab.

»Deine Nippel sind schon steif.«

»Bist du etwa auf meine Brüste fixiert?«

»Muß wohl so sein«, murmelte er. »Und auf andere erlesene Regionen.«

Er war jetzt sehr hart. Roanna begann zu zappeln, und er drängte sie rückwärts zum Bett. Sie fielen darauf nieder, wobei Webb sich mit den Armen abstützte, um sie nicht zu erdrücken; in der kühlen Dunkelheit fanden ihre Körper mit einer Leidenschaft zueinander, die sie schwach und zitternd in seinen Armen zurückließ.

Eng schmiegte sie sich an ihn; ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Roanna, deren Glieder sich wie Gummi anfühlten, war vollkommen entspannt und merkte, wie ihr die Augen zufielen. Offenbar hatte er recht, was ihre Schlaflosigkeit betraf; der Streß und die Anspannung hatten sie zehn Jahre lang nicht einschlafen lassen – aber wenn er sie geliebt hatte, überließ sie sich bereitwillig ihren Träumen. Aber schlafen war eine Sache, im Schlaf zu wandeln eine ganz andere. Es verstörte sie auf einer weit peinlicheren Ebene. Sie sagte: »Ich muß mein Nachthemd anziehen.«

»Keinesfalls.« Das kam entschieden und ohne Umschweife. Seine Arme schlossen sich fester um sie, als ob er sie davon abhalten wollte, aufzustehen.

»Aber wenn ich wieder schlafwandle ...«

»Das wirst du nicht. Ich halte dich die ganze Nacht lang fest. Du kommst nicht aus dem Bett, ohne mich aufzuwecken.« Er küßte sie lange und gründlich. »Schlaf jetzt, mein Süßes. Ich werd' schon auf dich aufpassen.«

Aber sie konnte nicht. Sie fühlte, wie die Anspannung langsam wieder von ihr Besitz ergriff, wie ihre Muskeln sich erneut verkrampften. Eine zehn Jahre alte Gewohnheit ließ sich nicht in wenigen Nächten austreiben. Webb mochte ja verstehen, wie sehr ihr davor graute, hilflos durch die Nacht zu geistern; aber er konnte ihre Panik, ihre Hilflosigkeit nicht nachempfinden, wenn sie an einem anderen Ort als dem erwachte, an dem sie sich schlafen gelegt hatte. Nicht zu wissen, wie sie dahin gekommen oder was in der Nacht passiert war!

Da er ihre Nervosität spürte, umarmte er sie fester, versuchte sie mit zärtlichen Worten zu beruhigen; doch schließlich sah er ein, daß wohl nichts half, außer kompletter Erschöpfung.

Sie hatte geglaubt, sich an seine Art zu lieben gewöhnt zu haben, das Ausmaß seiner Sinnlichkeit zu kennen. Aber das stellte sich als Irrtum heraus.

Er brachte sie zuerst mit seinen Fingern zum Orgasmus, dann mit seinem Mund. Dann ließ er sie auf seinem harten, muskulösen Oberschenkel zur Erfüllung reiten, obwohl sie sich an ihn klammerte und ihn anflehte, sie zu nehmen. Schließlich tat er es, indem er sie vom Bett herunterzog und umdrehte, so daß sie davor kniete, das Gesicht ins Laken gedrückt. Nun drang er von hinten in sie ein, stieß klatschend an ihren Po, griff gleichzeitig um sie herum und streichelte ihre nasse Scheide. Sie keuchte auf, was von der Matratze erstickt wurde, und kam ein viertes Mal; aber immer noch war er nicht fertig mit ihr. Roanna zerschmolz, erreichte einen Zustand, in dem ihr Orgasmus gar nicht mehr abklang, sondern andauerte, endlos, wie die Wellen von Ebbe und Flut. Es passierte von neuem, und sie griff nach hinten, packte seine Hüften, um ihn kräftig in sich zu ziehen, während sie um ihn zitterte und pulste. Ihre Bewegung traf ihn unerwartet, er stieß einen tiefen, gutturalen Schrei aus, zuckte, bockte und schleuderte seinen Samen tief in sie hinein.

Beide schlotterten danach förmlich und waren so geschwächt, daß sie kaum mehr aufs Bett zurückkriechen konnten. Ihre Körper troffen vor Schweiß, und sie klammerten sich aneinander wie Schiffbrüchige. Diesmal konnte sie den Schlaf ebensowenig abwehren, wie sie Webb hatte abwehren können.

Einmal wachte sie auf, um festzustellen, daß er sie noch hielt, wie er es versprochen hatte.

Beim nächsten Erwachen wollte sie sich erheben, und Webbs lange Finger schlossen sich fest um ihr Handgelenk. »Nein«, flüsterte er bestimmt. »Du gehst nirgendwo hin.«

Aufatmend überließ sie sich wieder ihrer Nachtruhe.

Das letzte Mal, als sie erwachte, dämmerte es, und er verließ das Bett. »Wohin gehst du?« fragte sie gähnend und setzte sich auf.

»In mein Zimmer«, erwiderte er und streifte sich die Hose über. Er lächelte sie an, und wieder wallten Glücksgefühle in ihr auf. Wie er so vor ihr stand, mit zerzaustem Rabenhaar und Ein-Tage-Bart, sah er rauh und sexy aus. Seine Stimme war noch heiser vom Schlaf und seine Lider ein wenig geschwollen, was ihm einen trägen Hatte-gerade-Sex-Look verlieh. »Ich muß was holen«, sagte er. »Bleib liegen, hörst du? Rühr dich nicht vom Fleck.«

»Okay, ich bin ganz brav.« Leise stakste er hinaus, und sie kuschelte sich wieder unter die Decke. Sie war gar nicht sicher, ob sie überhaupt aufstehen konnte. Die vergangene Nacht hatte ihr allerhand Freuden beschert. Ihre Scheide war ganz wund, und ihre Oberschenkel zittrig und überdehnt. Es gab also Intimitäten zwischen Mann und Frau, die sie sich nie hätte erträumen lassen, und doch wußte sie, daß noch ein tieferes Glück, grenzenlosere Seligkeit darauf warteten, von ihnen entdeckt zu werden.

Einen Augenblick später war er wieder zurück, in der Hand eine Plastiktüte mit dem Namen einer Apotheke darauf. Die Tüte wanderte auf das Nachtkästchen.

»Was ist das?« fragte sie.

Er schlüpfte wieder aus der Hose und zu ihr ins Bett. Dann nahm er sie in die Arme. »Ein Schwangerschaftsfrüherkennungstest.«

Sie erstarrte. »Webb, ich glaube wirklich nicht ...«

»Es ist möglich«, unterbrach er sie. »Warum willst du es nicht wissen?«

»Weil ich ...« Diesmal hielt sie inne und blickte mit ernsten Augen zu ihm auf. »Weil ich nicht will, daß du dich verpflichtet fühlst.«

Er wurde ganz still. »Verpflichtet?« hakte er vorsichtig nach.

»Wenn ich schwanger bin, wirst du dich verantwortlich fühlen.«

»Verdammt richtig. Ich bin auch dafür verantwortlich«, schnaubte er.

»Ich weiß, aber ich will nicht ... du sollst mich um meiner selbst willen nehmen«, sagte sie leise und versuchte die Sehnsucht in ihrer Stimme zu verbergen, was ihr nicht ganz gelang. »... nicht weil wir unvorsichtig waren und ein Baby gemacht haben!«

»Dich um deiner selbst willen nehmen«, wiederholte er ebenso leise. »Haben dir das die letzten Nächte denn nicht bewiesen?«

»Körperlich begehrst du mich freilich.«

»Ich begehre dich ganz und gar.« Er nahm ihr Gesicht in seine großen Hände und strich mit dem Daumen über ihren weichen Mund. Dann hub er feierlich an: »Ich liebe dich, Roanna Frances. Willst du meine Frau werden?«

Ihre Lippen zitterten unter seinem Daumen. Als sie siebzehn war, liebte sie ihn mit einer solchen Verzweiflung, daß sie jede Gelegenheit zu einer Hochzeit mit größtem Jubel ergriffen hätte, egal unter welchen Umständen. Jetzt war sie siebenundzwanzig und liebte ihn immer noch verzweifelt – so sehr, daß sie ihn nicht in eine weitere Ehe drängen wollte, in der er bloß unglücklich werden würde. Sie kannte Webb, wußte, wie tief sein Verantwortungsgefühl reichte. Wenn sie schwanger war, würde er alles tun, um für sein Kind zu sorgen, und das beinhaltete auch, die Mutter über seine Gefühle für sie anzulügen.

»Nein«, sagte sie mit fast unhörbarer Stimme und lehnte das ab, was sie sich am meisten auf der Welt wünschte. Eine Träne kullerte ihr aus dem Auge.

Er drängte sie nicht, verlor nicht die Beherrschung, wie sie es fast befürchtet hatte, sondern blickte sie nach wie vor aufmerksam an. Die Träne wischte er sanft mit dem Daumen fort. »Warum nicht?«

»Weil du mich bloß fragst, weil du ein Baby witterst.«

»Falsch. Ich frage, weil ich dich liebe!«

»Das sagst du bloß so!« Und sie wünschte, er würde mit diesem Thema aufhören. In wievielen Träumen hatte sie ihn eben jene Worte flüstern hören? Es war einfach nicht fair, daß er sie jetzt äußerte, in ihrer prekären Lage. Gar keine Frage, sie liebte ihn – aber auch sie wollte unbedingt um ihrer selbst willen geliebt werden. Zumindest das war ihr vollkommen klar, und auf diesen letzten Traum würde sie niemals verzichten.

»'Bloß so' sage ich überhaupt nichts! Ich liebe dich, Ro, und du mußt mich heiraten.«

Hinter seinem ernsten Gesichtsausdruck lauerte eine gewisse Selbstzufriedenheit. Sie blickte ihm forschend in die Augen, blickte ihm mit ihrem tiefen Ernst in die Seele. Ja, da stand definitiv ein selbstzufriedenes Glitzern in seiner Miene, ein wilder Triumph, wie sie ihn immer dann an ihm beobachtete, wenn er ein besonders raffiniertes Geschäft über die Bühne gebracht hatte.

»Was hast du angestellt?« fragte sie alarmiert.

Er grinste. »Als Lucinda und ich uns gestern abend unterhielten, sind wir übereingekommen, das Testament in seiner jetzigen Ausführung zu belassen. Davenport ist bei dir besser aufgehoben.«

Sie wurde kreidebleich. »Was?« flüsterte sie, und so etwas wie Panik stahl sich in ihren Ausdruck. Als sie versuchte, sich von ihm loszumachen, hielt er sie nur noch fester, drückte sie an sich, so daß ihr nächster Protest gedämpft von seinem Hals erklang.

»Aber das alles ist dir versprochen, seit du vierzehn warst! Du hast dafür gearbeitet, ja sogar ...«

»... sogar Jessie deswegen geheiratet«, beendete er ruhig ihren Satz. »Ich weiß.«

»So war es abgemacht. Du kommst zurück, wenn Lucinda ihr Testament wieder zu deinen Gunsten abändert.« Angst krallte sich um ihr Herz. Davenport war der Köder, der ihn wieder zurückgeholt hatte; aber sie und Lucinda wußten, daß er sich ein eigenes Leben in Arizona aufgebaut hatte. Vielleicht mochte er Arizona ja lieber als Alabama. Ohne Davenport als Anreiz würde er, wenn Lucinda starb, wahrscheinlich wieder fortgehen – und nach den letzten beiden Nächten würde sie das nie und nimmer ertragen können.

»Das ist nicht ganz richtig. Ich bin nicht wegen dieser Abmachung zurückgekommen, sondern weil ich alte Wunden heilen wollte. Es ging mir vor allem um Frieden mit Lucinda; sie war lange Zeit ein sehr wichtiger Teil meines Lebens, und ich schulde ihr eine ganze Menge. Sie sollte nicht das Zeitliche segnen, bevor die Dinge zwischen uns geklärt waren. Daven port ist etwas Besonderes, aber ich habe mir in Arizona auch etwas aufgebaut«, sagte er gelassen. »Ich brauche Davenport nicht, und Lucinda dachte, du willst es nicht ...«

»Das ist richtig«, sagte sie energisch. »Ich hab dir doch gesagt, daß ich kein Leben will mit Geschäftskonferenzen und mit dem Studieren von Börsenberichten.«

Er lächelte sie zärtlich an. »Ein Jammer, wo du so gut darin bist. Nun, dann wirst du mich leider heiraten müssen, damit ich es für dich erledige! Wenn wir dann getraut sind, kannst du von mir aus gerne dein Leben mit der Erziehung unserer Kinder und unserer Pferde verbringen; letzteres hättest du ohnehin getan, auch wenn Lucinda Davenport mir überlassen hätte. Der einzige Unterschied ist, daß das Ganze jetzt mit allem Drum und Dran doch dir gehören wird. Du bist der Boß.«

Ihr schwirrte der Kopf. Sie war sich nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte oder nicht. Davenport würde ihr gehören und er blieb auch? Davenport würde ihr gehören ...

»Ich kann die Rädchen in deinem Kopf schnurren hören«, murmelte er. Er bog ihren Kopf zurück, so daß sie ihn ansehen mußte. »Und ich bin noch aus einem anderen Grund zurückgekommen, dem wichtigsten von allen: Nämlich wegen dir!«

Sie schluckte. »Wegen mir?«

»Richtig!« Behutsam strich er mit einem Finger an ihrer Wirbelsäule entlang bis zu ihrem Po und wieder zurück. Sie erschauerte leicht und schmolz in seinen Armen dahin. Er wußte genau, was er mit dieser kleinen Liebkosung bezweckte. Sie sollte nicht erregt, sondern beruhigt werden, Sicherheit spüren und jenes Vertrauen in jeder Hinsicht empfinden, mit dem sie ihm ihren Körper beim Liebesakt schenkte. Allein die Tatsache, daß er in diesem Moment nicht mir ihr schlafen wollte, war ein Beweis für seine Aufrichtigkeit.

»Wollen sehen, ob ich die Dinge für dich noch ein wenig klarer machen kann«, überlegte er leise und hauchte einen Kuß auf ihre Stirn. »Ich habe dich geliebt, als du eine Rotznase warst, die so viel angestellt hat, daß mein Haar vorzeitig hätte ergrauen können. Als du ein Teenager warst, liebte ich deine dünnen Streichholzbeine und deine Augen, die einem das Herz brachen, wenn man sie erblickte. Und jetzt bist du eine Frau, die mein Gehirn in Mus verwandelt, die mir die Knie weich und den Schwanz hart macht. Wenn du einen Raum betrittst, dann will mir fast mein Herz in der Brust zerspringen. Lächelst du mich an, habe ich das Gefühl, den Nobelpreis gewonnen zu haben. Und deine Augen sind zutiefst in meinem Gemüt verankert.«

Seine romantische Liebeserklärung war der süßeste Balsam für ihre Seele; sie saugte sie in sich auf, in jede Zelle ihres Körpers, in ihr ganzes Inneres. Sie wollte ihm so gerne glauben, und genau deshalb hatte sie Angst, es zu tun, mißtraute ihrer Sehnsucht.

Da sie weiterhin schwieg, fuhr er fort, sie auf diese zarte, zurückhaltende Weise zu streicheln. »Jessie hat es dir ganz schön gegeben, nicht wahr? Ihretwegen bist du dir immer so ungeliebt und ungewollt vorgekommen, daß du heute noch nicht damit fertig bist. Hast du denn nicht kapiert, daß Jessie log? Ihr ganzes Leben war eine einzige Lüge. Weißt du nicht, daß Lucinda ganz vernarrt in dich ist? Nachdem Jessie tot war, hat sie dich endlich so kennenlernen können wie du bist, ohne daß jemand ständig Gift versprühte. Sie hält verdammt große Stücke auf dich.« Er zog ihre Hand an die Lippen und küßte jeden einzelnen Finger, dann knabberte er an den weichen Handballen. »Jessie ist seit zehn Jahren unter der Erde. Wie lange willst du dir noch dein Leben von ihr vergällen lassen?«

Roanna legte den Kopf zurück und erforschte mit einigem Erstaunen sein Gesicht. Verblüfft erkannte sie, daß er nie entschlossener, nie resoluter ausgesehen hatte. Seine Miene ver kündete, daß er sich entschieden hatte und verdammt nochmal alles tun würde, um an sein Ziel zu gelangen. Er wollte sie nicht heiraten, weil Davenport ihr gehören würde, denn er hätte selbst alles haben können. Lucinda hätte sich in jedem Fall an ihre Abmachung gehalten. Auch wegen einer etwaigen Schwangerschaft wollte er sie nicht heiraten ...

Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, und vielleicht konnte er das ja tatsächlich, sagte er: »Ich liebe dich. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr, denn mir fehlen die Worte. Ich würde es gerne versuchen, aber ich bin kein Poet. Es spielt keine Rolle, ob du schwanger bist oder nicht. Ich will dich heiraten, weil ich dich liebe. Punktum.«

»Also gut«, wisperte sie und fing an zu zittern, als ihr klar wurde, was für einen Sprung ins Glück diese Entscheidung bedeutete. Reinste Seligkeit breitete sich in ihr aus.

Sie ächzte, als er sie mit einem Mal an seinen breiten Brustkorb quetschte. »Du weißt aber wirklich, wie du einen Mann zum Jaulen bringst«, sagte er leidenschaftlich. »Beinahe wollte ich schon verzagen. Was hältst du davon, wenn wir gleich nächste Woche heiraten?«

»Nächste Woche?« quiekte sie so laut, wie es ihr in diesem Schwitzkasten möglich war.

»Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dir Zeit lasse, es dir nochmal zu überlegen?« Sie konnte das Lächeln in seiner Stimme hören. »Wenn du wirklich auf eine Riesenhochzeit versessen bist, dann werde ich mich wohl oder übel ein wenig gedulden – aber nur wenn die Vorbereitungen nicht zu lange dauern. Lucinda ... Also, ich finde, wir sollten es auf jeden Fall noch in diesem Monat über die Bühne bringen.«

Tränen schossen ihr in die Augen. »So bald? Ich hatte gehofft ... ich hatte gehofft, daß sie wenigstens den Winter noch übersteht, vielleicht den Frühling erlebt ...«

»Das glaube ich nicht. Der Arzt hat gesagt, daß ihr Herz auch langsam nachläßt.« Er rieb sein Gesicht trostsuchend in ihrem seidigen Haar. »Sie ist ein zäher alter Vogel«, sagte er heiser vor Rührung. »Aber sie hat ihren Frieden gemacht. Man kann es in ihren Augen sehen.«

Schweigend hielten sie einander einen Moment lang fest und trauerten jetzt schon um die Gestalt, die so lange der Mittelpunkt der großen Familie war. Aber Webb gehörte nicht zu den Leuten, die sich lange von einem gesteckten Ziel abhalten ließen. Er lehnte sich zurück und blickte sie fragend an. »Also, was diese Hochzeit angeht ...«

»Ich will keine Riesenhochzeit«, sagte sie heftig und erschauderte schon bei dem bloßen Gedanken. »So was hattest du mit Jessie, und das will ich nicht nochmal erleben. Der Tag war einfach schrecklich für mich.«

»Was für eine Hochzeit willst du dann? Wir könnten hier im Garten heiraten oder im Country Club. Willst du nur Verwandtschaft dabeihaben oder auch unsere Freunde? Ich weiß, daß du welche hast, und vielleicht kann ich ja auch ein paar auftreiben.«

Für diese Bemerkung zwickte sie ihn. »Du weißt verdammt gut, daß du welche hast, wenn du dich bloß dazu durchringen könntest, ihnen zu verzeihen – und sie wieder Freunde sein läßt. Ich will im Garten heiraten und will unsere Freunde dabeihaben. Und dann will ich auch noch, daß mich Lucinda zum Altar führt, wenn sie es schafft. Eine Riesenhochzeit wäre sowieso zu viel für sie.«

Seine Mundwinkel zuckten, als er all diese »Ich-wills« vernahm. Er befürchtete, daß Roanna, obwohl sie behauptete, jedenfalls geschäftlich gar nichts zu wollen, über kurz oder lang ihre hinreißende Nase in die Davenport-Unternehmungen stecken und ihm wegen einiger seiner Finanzentscheidungen ganz schöne Duelle liefern würde.

Aber der Gedanke, daß Roanna endlich mal wieder aus der Haut fuhr, machte ihn so selig, daß er am liebsten in die Luft gesprungen wäre. Ihren Sturkopf hatte er schon immer ge mocht und hoffte nur auf ein wenig veränderte Methoden. »Über die Einzelheiten unterhalten wir uns noch«, sagte er. »Aber nächste Woche wird geheiratet, spätestens jedoch in zwei, okay?«

Sie nickte und lächelte gerührt.

Nummer sieben, registrierte er begeistert. Und dieses Lächeln war ganz spontan gekommen, als ob sie auf einmal keine Angst mehr hätte, Freude zu zeigen.

Er reckte sich und langte nach der Plastiktüte auf dem Nachtkästchen. Der Inhalt purzelte aufs Bett, Webb öffnete die Schachtel, las den Beipackzettel und reichte ihr dann den kleinen Plastikstab mit dem Loch an einem Ende. »Also«, sagte er streng, »jetzt mach schön Pipi auf den Stab.«

Zehn Minuten später klopfte er an die Badezimmertür. »Was treibst du da drinnen?« fragte er ungeduldig. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, ertönte es dumpf.

Als er die Tür öffnete, fand er sie nackt vor dem Waschbecken, wie sie schockiert auf das Plastikstäbchen starrte, das auf dem Beckenrand lag. Sie war ganz blaß.

Webb folgte ihrem Blick. Der Schlitz war weiß gewesen – und jetzt blau! Es handelte sich um einen einfachen Test: die Farbveränderung am Schlitz wies auf positiv. Er schlang die Arme von hinten um sie und zog sie an seinen großen, warmen Körper. Sie erwartete sein Baby! »Du hast wirklich nicht daran geglaubt, stimmt's?« fragte er neugierig.

Fassungslos schüttelte sie den Kopf. »Ich ... ich fühl mich gar nicht anders.«

»Das wird sich höchstwahrscheinlich bald ändern.« Seine großen Hände glitten hinab zu ihrem flachen Bauch, wo sie sie zärtlich massierten. Sie konnte fühlen, wie sein Herz an ihrem Rücken hämmerte. Sein Penis wurde steif und drückte sich beharrlich an ihren Hüftknochen.

Er war aufgeregt und zugleich stimuliert. Das verblüffte sie. Sie hatte geglaubt, er würde sich für das Baby verantwortlich fühlen, nicht mehr; nie wäre ihr auch nur im Traum eingefallen, daß ihn die Aussicht, Vater zu werden, mit Freude und Erregung erfüllte. »Du wünschst dir das Baby«, zweifelte sie etwas. »Es gefällt dir, daß ich schwanger bin?«

»Weiß Gott, das tut es!« Seine Stimme war rauh, und er umarmte sie fester. »Magst du es denn nicht?«

Ihre Hand glitt tiefer und legte sich leicht über die Stelle, an der ihr Kind, sein Kind, in ihr wuchs. Überraschung und Glück breiteten sich auf ihrem Gesicht aus, und ihr strahlender Blick begegnete Webbs im Spiegel. »O doch«, beteuerte sie leise.