12

Zehn Tage später spazierte Webb durch die Haustür, als ob das Anwesen ihm gehörte, was ja auch neuerdings wieder stimmte.

Es war acht Uhr in der Früh und die Sonne schien hell und fröhlich durch die Fenster, so daß die beigen Fliesen in der Diele einen goldenen Glanz annahmen. Roanna stieg gerade die Treppe herunter. Sie hatte um neun ein Treffen mit ihrem Börsenmakler, der aus Huntsville herüberkam, und wollte vor seinem Eintreffen noch einiges mit Lucinda durchsehen. Für diesen Termin hatte sie ein leichtes, eng geschnittenes, pfirsichfarbenes Seidenkleid gewählt mit einem dazu passenden Blazer; danach mußte sie eine Landratsversammlung besuchen. Sandfarbene Schlangenlederpumps und Perlohrringe komplettierten ihr Outfit. Sie trug nur ganz selten Schmuck, doch ihre Kommilitoninnen hatten ihr beigebracht, wie wichtig gediegener, unauffälliger Schmuck für ein Geschäftstreffen sein konnte.

Die Haustür ging auf, und sie blieb auf der Treppe stehen, weil die unversehens hereinflutende Sonne sie vorübergehend blendete. Sie blinzelte und starrte die dunkle Gestalt an, deren breite Schultern und breitkrempiger Hut sich dort aufbauten. Dann trat er ein, schloß die Tür hinter sich und ließ eine lederne Reisetasche auf den Boden plumpsen. Ihr blieb fast das Herz stehen, als sie ihn erkannte.

Es war zehn Tage her, seit er sie nach Hause geschickt hatte, und seine Ankunft kam nun überraschend. Sie hatte schon angefangen zu fürchten, daß er sich am Ende doch anders entschiede, obwohl Webb bisher immer sein Wort gehalten hatte. Vielleicht hielt er Davenport ja doch nicht für der Mühe wert; sie hätte es ihm kaum vorwerfen können.

Aber da war er, nahm seinen Hut ab und blickte sich mit verengten Augen um, als ob er jede Veränderung, die die letzten zehn Jahre gebracht hatten, in sich aufnehmen wollte. Es waren nur ein paar, aber sie hatte das Gefühl, daß er jede einzelne wahrnahm. Sein Blick verharrte sogar einen Augenblick lang auf dem Treppenläufer. Der war früher dunkler gewesen, jetzt erinnerte er an Hafermehl und besaß ein engeres Webmuster.

Sein plötzliches Auftauchen warf sie beinahe um. Ihn tatsächlich dort unten stehen zu sehen, mit derselben natürlichen Autorität wie eh und je, vermittelte ihr das unheimliche Gefühl, die Zeit wäre stillgestanden.

Aber die Veränderung konnte sie nicht leugnen. Er war nicht nur älter, sondern trug jetzt auch Jeans und Cowboystiefel statt der Leinenhosen und Halbschuhe. Früher hatte er seine starke Persönlichkeit mit gutem alten Südstaatencharme gebremst, jetzt bremste er sie nicht mehr. Er strahlte eine unheimliche Autorität aus, ein Mann, der sich nicht die Bohne darum scherte, was andere von ihm dachten.

Ihre Brust fühlte sich auf einmal recht eng an, und sie mußte sich anstrengen, genug Luft zu bekommen. Sie hatte ihn nackt gesehen, hatte nackt in seinen Armen gelegen. Er hatte an ihren Brustwarzen gesaugt, war in sie eingedrungen. Die Unwirklichkeit des Ganzen machte sie aufs neue schwindlig. In den anderthalb Wochen, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, war ihr Abenteuer mehr und mehr in Traumnähe gerückt; doch sein Anblick, wie er so leibhaftig vor ihr stand, brachte ihr Blut sofort wieder in Wallung und ihren Körper zum Kribbeln, als ob er sich gerade erst aus ihr zurückgezogen hätte und sie ihn noch zu spüren glaubte.

Sie fand ihre Stimme wieder. »Warum hast du nicht angerufen? Es hätte dich jemand vom Flughafen abholen können. Du bist doch geflogen, oder?«

»Gestern. Ich hab mir einen Wagen gemietet. Mutter und ich sind gestern abend in Huntsville mit Tante Sandra zusammen gewesen, und vorhin bin ich dann losgefahren.«

Seine durchdringenden grünen Augen waren nun auf sie gerichtet, nahmen ihr Kostüm in sich auf, verglichen vielleicht ihre modische Erscheinung mit dem linkischen, ungeschickten Geschöpf von einst. Oder vielleicht verglich er sie ja mit der nackten Frau, die sich unter ihm gewunden und aufgebäumt hatte, die schrie, als er sie zum Höhepunkt brachte. Nun, er hatte sie schnell genug wieder fallengelassen, also konnte der Anblick nicht allzu faszinierend gewesen sein.

Sie errötete heftig und wurde dann ebenso schnell wieder blaß.

Aber einfach so dastehen und ihn anstarren, das ging auch nicht. Roanna holte tief Luft, riß sich zusammen und kam die wenigen verbliebenen Stufen zu ihm hinunter. »Lucinda ist im Arbeitszimmer. Wir wollten gerade einige Papiere durchsehen, aber ich bin sicher, daß sie lieber mit dir allein reden möchte.«

»Ich bin zurückgekommen, um mich um die Geschäfte zu kümmern«, sagte er kurzangebunden und marschierte auch schon mit langen Schritten den Flur entlang zum Arbeitszimmer. »Bring mich auf den neuesten Stand. Die Willkommensparty kann warten.«

Irgendwie schaffte sie es, ihre ausdruckslose Fassade aufrechtzuerhalten, während sie ihm folgte. Sie warf sich nicht schluchzend an seinen Hals und schrie: »Du bist wieder daheim, du bist wieder daheim!«, obwohl das ihr erster Impuls gewesen wäre. Weder jauchzte sie vor Freude, noch heulte sie. Sie sagte einfach zu seinem Rücken: »Ich freue mich, daß du wieder da bist. Willkommen daheim.«

Lucinda saß nur selten an dem riesigen Schreibtisch, der ihrem Mann gehört hatte, da das Sofa viel bequemer für ihre alten Knochen war. Dort saß sie auch jetzt und blätterte die neuesten Börsenberichte durch. Sie blickte bei Webbs Eintreten auf, und Roanna, die direkt hinter ihm stand, sah die Verwirrung, die beim Anblick des großen, kühlen Fremden, der in ihre Domäne eindrang, über ihre Züge glitt. Dann blinzelte sie und das Wiedererkennen breitete sich wie die Sonne auf ihrem runzligen Gesicht aus. Freudige Erregung verjagte den grauen Schleier, den das Alter und die schlechte Gesundheit über sie geworfen hatten. Sie kämpfte sich auf die Beine, wobei die Blätter achtlos auf den schweren Aubusson-Teppich fielen.

»Webb! Webb!«

Da war sie, die enthusiastische, tränenreiche Begrüßung, die Roanna ihm so gerne bereitet hätte, es aber nicht wagte. Lucinda eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, ohne seine stumme Zurückhaltung zu sehen oder zu beachten. Er breitete seine Arme nicht aus, aber das hielt sie nicht davon ab, ihm die ihren um den Hals zu werfen und ihn ganz fest und mit Tränen in den Augen zu umarmen.

Roanna wandte sich zum Gehen, um ihnen einen privaten Moment zu gönnen; wenn sie und Webb ein besonderes Verhältnis zueinander gehabt hatten, als sie noch jünger war – zumindest ihrer Auffassung nach –, dann hatte er ganz gewiß ein besonderes und sehr enges Verhältnis zu Lucinda gehabt – eins, das dem zu seiner Mutter fast gleichkam. Auch wenn Webb wegen Lucinda zurückgekommen war, so standen immer noch viele unausgesprochene Dinge zwischen ihnen, die erst bereinigt werden mußten.

»Nein, bleib«, sagte Webb, als er merkte, was Roanna vorhatte. Er nahm Lucinda bei den Armen und rückte sie sanft von sich ab, ohne sie jedoch loszulassen. Er blickte erst auf sie nieder. »Wir unterhalten uns später«, versprach er. »Zunächst mal habe ich jede Menge aufzuholen. Wir können hiermit anfangen.« Er nickte in Richtung der Papiere, die auf dem Teppich verstreut lagen.

Wenn Lucinda etwas verstand, dann die Notwendigkeit, sich ums Geschäftliche zu kümmern. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und nickte energisch. »Natürlich. Unser Makler kommt um neun. Roanna und ich haben es uns zur Gewohnheit gemacht, zuvor immer noch unsere Börsengeschäfte durchzugehen, damit wir uns einig sind, bevor der junge Mann eintrifft.«

Er nickte und bückte sich, um die Papiere aufzusammeln. »Ist es immer noch Lipscomb?«

»Nein, mein Lieber, er starb, das war, nun ... ach ja, vor drei Jahren, nicht wahr, Roanna? Herzkrankheiten liegen in seiner Familie, weißt du. Unser Makler ist jetzt Sage Whitten, von den Birmingham Whittens. Wir sind recht zufrieden mit ihm, meistens jedenfalls; aber er neigt ein wenig zum Konservativen.«

Roanna sah den trockenen Ausdruck, der über Webbs Züge huschte. Er mußte sich erst wieder an die Art, wie man im Süden Geschäfte abwickelte, gewöhnen. Hier vermengte man eben alles mit Bekanntschaft und Familienangelegenheiten. Wahrscheinlich war er inzwischen an eine viel direktere, ehrlichere Methode, die Dinge zu erledigen, gewöhnt.

Er hatte sich bereits in die Papiere, die er aufgehoben hatte, vertieft, während er zum Schreibtisch schlenderte. Schon wollte er in den Sessel sinken, als er gerade noch innehielt und Roanna einen fragenden Blick zuwarf, wie sie auf seine spontane Art der Übernahme von Macht und Territorium reagierte.

In ihr stritten sich das Lachen und das Weinen. Sie hatte ihre Arbeit nie wirklich gemocht, sich aber dennoch ihren Platz darin erobert. Weil dies das einzige war, wozu sie sie je in ihrem Leben gebraucht hatten, ob Lucinda oder irgend jemand anderes, hatte sie sich mit großem Fleiß und enormer Willenskraft ihrer neuen Aufgabe gewidmet. Mit Webbs Rückkehr verlor sie dieses Betätigungsfeld; bald war sie überflüssig. Andererseits würde es sie ziemlich erleichtern, nicht mehr diese endlosen Konferenzen mit Geschäftsleuten und Politikern durchstehen zu müssen, die ihren Entscheidungen und ihrer Kompetenz höchstens mit Nachsicht begegneten. Auf diese lästigen Pflichten konnte sie gerne verzichten, hatte aber gleichzeitig keine Ahnung, was sie danach mit sich anfangen sollte.

Sie ließ sich allerdings nichts vom Widerstreit ihrer Gefühle anmerken; sorgfältig achtete sie darauf, der Welt ihre übliche glatte Fassade zu präsentieren. Lucinda nahm wieder auf dem Sofa Platz und Roanna ging zu einem der Aktenschränke, wo sie eine dicke Mappe herauszog.

Die Faxmaschine piepte und produzierte schnurrend eine Nachricht. Webb warf einen Blick darauf und ließ ihn dann über die übrige elektronische Ausstattung schweifen, die seit seinem Weggang angeschafft worden war. »Sieht aus, als befänden wir uns jetzt auf dem Informations-Superhighway.«

»Nun, ohne die Geräte müßte ich die meiste Zeit mit Herumreisen verbringen«, erwiderte Roanna. Auf dem Schreibtisch stand ein kleiner PC. »Wir verfügen über zwei getrennte Systeme. Dieser Computer samt Drucker ist für unsere privaten Zwecke. Mit dem anderen ...«, sie wandte sich den Geräten zu, die auf einem speziell angefertigten Computertisch aus massiver Eiche standen, »halten wir Kontakt zur Außenwelt.« Der zweite Computer war an ein Modem angeschlossen. »Wir haben eine eigene Faxleitung, E-Mail und zwei Laserdrucker. Ich kann dir die Programme erklären, wann immer du willst. Außerdem haben wir noch einen Laptop, den wir auf Reisen mitnehmen.«

»Selbst Loyal hat mittlerweile auf Computer umgerüstet«, sagte Lucinda lächelnd. »Die Stammbäume sind sorgfältig aufgelistet und dokumentiert, und er hält außerdem auf den Disketten Zuchtzeiten, Zuchtergebnisse, tierärztliche Behandlungen und eventuelle Krankheitsverläufe fest sowie die Identifikationsmarken. Er ist so stolz auf sein System, als ob es vier Beine hätte und wiehern könnte.«

Webb warf einen Blick auf Roanna. »Reitest du immer noch so viel wie früher?«

»Dafür ist keine Zeit.«

»Vielleicht jetzt wieder!« Daran hatte sie noch gar nicht gedacht, daß mit Webbs Rückkehr auch das Reiten wieder möglich wurde. Ihr Herz machte einen aufgeregten kleinen Satz. Sie vermißte die Pferde schrecklich, aber was sie gesagt hatte, war die reine Wahrheit: ihr blieben nur wenige Stunden für sich. Sie ritt, wann immer sie konnte, was ausreichte, um nicht aus der Übung zu kommen, aber lange nicht genug für ihre Bedürfnisse. Jetzt mußte sie Webb erst mal alles zeigen und erklären, doch schon bald – bald! – könnte sie wieder anfangen, Loyal zu helfen.

»Wie ich dich kenne«, sagte Webb gemächlich, »planst du bereits bald wieder deine Tage im Stall zu verbringen. Glaub ja nicht, du könntest alles mir aufhalsen und dich davonstehlen! Ich werde alle Hände voll zu tun haben mit den Belangen hier und dann auch noch mit meiner Ranch in Arizona – also wirst du aller Voraussicht nach bestimmte Ressorts behalten müssen.«

Sie würde weiterarbeiten? Zusammen mit Webb? Nie hätte sie damit gerechnet, daß er sie um sich haben wollte oder daß sie danach noch irgendwie von Nutzen wäre. Bei der Aussicht, ihn jeden Tag sehen, mit ihm zusammensein zu können, vollführte ihr Herz einen weiteren Purzelbaum.

Nun konzentrierte er sich auf die Diagramme und Analysen ihrer Aktien und deren weitere Handhabung. Als Sage Whitten schließlich eintraf, wußte Webb ziemlich genau, wo sie auf dem Aktienmarkt standen.

Mr. Whitten war Webb noch nie begegnet; aber seinem überraschten Ausdruck bei der Vorstellung nach zu schließen, hatte er den Klatsch gehört. Falls er von Lucindas Erklärung, Webb würde in Zukunft alle Davenport-Geschäfte handhaben, irgendwie betroffen war, so ließ er sich nichts anmerken. Egal, was die Leute glauben mochten, Webb Tallant war nie wegen Mordes an seiner Frau angeklagt worden, und Geschäft blieb Geschäft.

Sie waren schneller fertig als gewöhnlich. Kaum hatte Mr. Whitten das Haus verlassen, als schon Lanette ins Arbeitszimmer geschneit kam. »Tante Lucinda, da steht so eine Art Reisetasche im Flur. Hat Mr. Whitten vielleicht ...?« Abrupt brach sie ab und starrte Webb an, der hinter dem Schreibtisch saß.

»Die Tasche gehört mir.« Er blickte kaum vom Computer auf, wo er gerade ein paar Aktiendividenden studierte. »Ich trage sie später nach oben.«

Lanette erbleichte, doch sie fing sich rasch wieder und stieß ein gekünsteltes Lachen aus. »Webb! Ich wußte gar nicht, daß du angekommen bist. Keiner hat uns verraten, daß du heute eintreffen würdest.«

»Nun, ich hab es auch niemandem gesagt.«

»Oh, ach so! Also dann, willkommen daheim!« Ihre Begrüßung war ebenso verlogen wie ihr Lachen. »Ich werde Mama und Daddy Bescheid sagen. Sie sind gerade mit dem Frühstück fertig und werden dich sicher begrüßen wollen.«

Webb zog sarkastisch die Augenbrauen hoch. »Wirklich?«

»Ich gehe sie schnell holen«, sagte sie und floh.

»Also, was die Tasche betrifft ...« Webb lehnte sich zurück und drehte sich mit dem Stuhl, so daß Lucinda, die noch auf der Couch saß, in sein Blickfeld geriet. »Wo soll ich sie hinbringen?«

»Wo immer du willst«, erwiderte Lucinda in festem Ton. »Deine alte Suite ist vollkommen neu hergerichtet worden. Corliss wohnt jetzt darin, aber wenn du sie willst, bekommt sie ein anderes Zimmer.«

Er lehnte ihr Angebot mit einem leichten Kopfschütteln ab. »Ich nehme an, Gloria und Harlan haben auch eine Suite, und Lanette und Greg die vierte.« Roanna warf er einen rätselhaften Blick zu. »Du bist natürlich immer noch in deinem alten Gemach im rückwärtigen Teil des Hauses!«

Das schien er zu mißbilligen, obwohl sich Roanna beim besten Willen nicht vorstellen konnte, warum. Da sie nicht wußte, was sie sagen sollte, hielt sie den Mund.

»Und Brock bewohnt ein Einzelzimmer auf der linken Seite«, ergänzte Lucinda und bestätigte somit seine vorherigen Vermutungen. »Das Ganze ist aber wirklich kein Problem. Ich habe mir überlegt, was man tun könnte, und das beste wäre wohl, einfach zwei einzelne Räume mit einer Tür zu verbinden und eins davon in ein Wohnzimmer zu verwandeln. Das wäre in einer Woche zu erledigen.«

»Nicht notwendig! Ich wohne gern in den hinteren Zimmern ... das neben Roannas würde mir gefallen. Es hat doch ein Doppelbett, oder?«

»Alle Zimmer sind jetzt damit ausgestattet, außer Roannas.«

Wieder erfolgte eine Musterung. »Magst du keine großen Betten?«

Die Motelliege, auf der sie sich geliebt hatten, war auch nichts Besonderes gewesen. Eigentlich zu schmal für zwei, doch wenn der eine auf dem anderen lag, brauchte man nicht so viel Platz. Roanna konnte ein Erröten gerade noch abwenden. »Für mich genügt etwas Kleineres.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und stand erleichtert auf, als sie sah, wie spät es war. »Ich muß zur Landratsversammlung, dann habe ich eine Verabredung zum Lunch mit dem Krankenhausverwalter in Florence. Um drei bin ich wieder da.«

Sie beugte sich vor und küßte die faltige Wange, die Lucinda ihr entgegenhielt. »Fahr vorsichtig«, mahnte Lucinda wie gewöhnlich.

»Das werde ich.« Ihr Aufbruch besaß etwas Fluchtartiges, und so wie Webb sie ansah, schien es ihm aufgefallen zu sein.

Nach dem Lunch kehrten Webb und Lucinda ins Arbeitszimmer zurück. Er hatte Gloria und Harlans peinlich heuchlerische Begrüßung über sich ergehen lassen, Corliss' Geschmolle und schlechtes Benehmen ignoriert, und sich von Tansy und Bessie umsorgen und betüteln lassen. Es war sonnenklar, daß ihn nur Roanna und Lucinda hatten zurückhaben wollen; der Rest der Familie wünschte unumwunden, er wäre in Arizona geblieben. Der Grund dafür lag ebenfalls auf der Hand: Seit Jahren schon schnorrten sie sich auf Lucindas Kosten durch und hatten nun Angst, daß er sie mit einem Tritt hinausbefördern würde. Und es reizte ihn auch, das mußte er zugeben. Oh, nicht Gloria und Harlan. So wenig wie er sie auch ausstehen konnte, sie waren beide über siebzig, und die Gründe, die er Roanna vor zehn Jahren genannt hatte, als sie einzogen, galten heute mehr denn je. Doch was die anderen betraf ...

Er hatte nicht vor, sofort etwas zu unternehmen. Noch wußte er nicht genau über jede einzelne Situation Bescheid, und es war vernünftiger, sich vorher zu informieren und dann zu handeln – als durch vorschnelle Entschlüsse angerichtete Schäden wiedergutmachen zu müssen.

»Sicherlich möchtest du mir ein paar Dinge vorhalten«, gab Lucinda sich reumütig und nahm wieder auf dem Sofa Platz. »Der Himmel weiß, ich habe es verdient. Nun, hier ist deine Chance, dir alles von der Seele zu reden, also laß es ruhig raus. Ich werde einfach sitzenbleiben und dir aufmerksam zuhören.«

Sie ist genauso willensstark und unbeugsam wie früher, dachte er, aber erschreckend eingefallen. Als sie ihn umarmte, hatte er gespürt, wie zerbrechlich ihre alten Knochen waren, hatte die fast durchsichtige Blässe ihrer Haut bemerkt. Sie sah gar nicht gut aus, und ihr Energiepegel war ziemlich niedrig. Aus den Briefen von Yvonne wußte er, daß Lucindas Gesundheit rapide abnahm; aber er hätte nicht gedacht, daß es so schlecht um sie stand. Ihr Tod war nur mehr eine Frage von Monaten; er bezweifelte, daß sie den Frühling noch erleben würde.

Sie war ein Markstein in seinem Leben gewesen, ein Fels. Zwar hatte sie ihn im Stich gelassen, als er sie am meisten brauchte; doch nun war sie bereit, sich seinem Zorn zu stellen. Er kannte ihren Charakter, hatte seine eigene Stärke und wachsende Männlichkeit immer daran gemessen, ob er sich ihr gegenüber durchsetzte. Verdammt nochmal, er war noch nicht bereit, sie gehen zu lassen.

Webb lehnte sich an eine Schreibtischkante. »Darauf komme ich noch«, sagte er und fuhr dann mit kaum unterdrückter Wut fort: »Aber zuerst möchte ich wissen, was, zur Hölle, ihr mit Roanna gemacht habt!«

Lucinda dachte lange still nach, und Webbs Anschuldigung stand bedrohlich zwischen ihnen. Sie starrte aus dem Fenster, hinaus auf das sonnenüberflutete Land, über das die Schatten flockiger Schäfchenwolken hinwegzogen.

Davenport-Land, so weit das Auge reichte. Stets hatte sie Trost geschöpft aus diesem Anblick und liebte ihn immer noch; aber nun, da ihr Leben sich neigte, waren ihr andere Dinge wichtiger.

»Ich habe zunächst gar nichts bemerkt«, sagte sie schließlich, den Blick in die Ferne gerichtet. »Jessies Tod war – nun, darüber reden wir später. Ich steckte so tief in meinem eigenen Kummer, daß ich Roanna erst bemerkte, als es schon fast zu spät war.«

»Wie – zu spät?« bellte er.

»Sie wäre beinahe gestorben«, gestand Lucinda. Ihr Kinn zitterte, aber sie hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. »Ich dachte immer, Jessie wäre diejenige, die unbedingt Liebe bräuchte, wegen der Umstände ihrer Geburt, weiß du ... dabei übersah ich, daß Roanna sie sogar noch dringender brauchte; doch sie verlangte nicht danach, nicht so wie Jessie. Seltsam, nicht wahr? Ich liebte Jessie vom ersten Augenblick an – aber sie hätte mir niemals so geholfen wie Roanna, oder auch nur annähernd eine so wichtige Rolle in meinem Leben übernommen. Roanna bedeutet mir mehr als meine rechte Hand; ich wüßte nicht, wie ich die letzten Jahre ohne sie hätte überstehen sollen.«

Webb wischte das alles ungeduldig beiseite. Ihn interessierte nur eins. »Wie konnte sie fast sterben?« Der Gedanke erschütterte ihn in seinen Grundfesten, und eine eiskalte Angst keimte in ihm auf, als er an ihr verzweifeltes, schuldbewußtes Gesicht dachte, an dem Tag von Jessies Beerdigung. Sie hatte doch nicht etwa versucht, sich umzubringen?

»Sie hörte auf zu essen. Hat ja auch davor schon oft gestreikt, also fiel mir lange Zeit nichts auf, fast zu lange. Alles war so durcheinander, jeder aß, wann es ihm einfiel, und ich nahm wohl an, sie würde dasselbe tun. Sie hielt sich überwiegend in ihrem Zimmer auf, gar nicht mal absichtlich, glaube ich«, erklärte Lucinda leise. »Sie ... sie hat eben einfach das Interesse an allem verloren. Als du gingst, zog sie sich vollkommen zurück. Sie gibt sich an allem die Schuld, weißt du.«

»Warum?« fragte Webb. Roanna hatte gesagt, sie hätte es nicht absichtlich gemacht, aber vielleicht ja doch – und es Lucinda anvertraut?

»Es dauerte lange, bevor sie darüber reden konnte; erst vor ein paar Jahren hat sie mir dann erzählt, was in der Küche geschehen ist, daß sie sich dir buchstäblich an den Hals geworfen hat. Sie wußte nicht, daß Jessie herunterkommen würde, und natürlich war es typisch Jessie, eine Riesenszene daraus zu machen; aber Roanna glaubt, sie wäre an allem schuld, weil sie dich geküßt hat. Wenn sie es nicht getan hätte, dann hätte Jessie keinen Streit angefangen, du wärst nicht des Mordes an ihr beschuldigt worden und hättest auch nicht die Stadt verlassen. Doch als du fort warst ...« Lucinda schüttelte den Kopf. »Sie hat dich immer innig geliebt. Als sie noch klein war, haben wir uns alle lustig darüber gemacht, haben gedacht, du seist ihr edler Ritter, eine fixe Idee – aber das war es nicht, stimmt's?«

»Keine Ahnung!« Doch er wußte es. Roanna hatte ihm gegenüber nie irgendwelche Ausflüchte benutzt. Lieber Himmel, sie hatte ja nicht mal lügen können. Ihre Gefühle standen ihr immer vollkommen offen ins Gesicht geschrieben. Ihre Bewunderung war permanent dagewesen, wie ein Sonnenstrahl in seinem Leben; er hatte sie als selbstverständlich hingenommen, kaum darauf geachtet, nicht erkannt, wieviel sie ihm bedeutete. Und deshalb war er auch so verdammt wütend gewesen, als er glaubte, sie hätte ihn hintergangen, bloß um Jessie eins auszuwischen.

Lucinda warf ihm einen weisen Blick zu, der ihm verriet, daß sie sich von seiner Antwort nicht täuschen ließ. »Nach Davids und Karens Tod wurden wir beide, du und ich, zu den Zentralfiguren in ihrem Leben. Sie brauchte unsere Liebe und unseren Beistand, die wir ihr größtenteils vorenthielten. Nein, das stimmt nicht: ich habe sie ihr vorenthalten, die Schuld trifft in erster Linie mich. Aber so lange du da warst, um sie zu beschützen, kam sie zurecht. Als du gingst, gab es niemanden mehr für sie, und da hat sie kapituliert. Sie hing nur noch an einem seidenen Faden, als ich endlich aufmerksam wurde«, sagte Lucinda traurig. Eine Träne kullerte über ihre runzlige Wange, und sie wischte sie unwirsch fort. »Sie wog nur noch knapp vierzig Kilo. Vierzig Kilo! Bei ihren einsdreiundsiebzig sollte sie mindestens sechzig wiegen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie bejammernswert sie aussah. Aber eines Tages habe ich sie wirklich angesehen, sie mir zum ersten Mal wirklich vorgeknöpft, und mir war klar, daß ich etwas unternehmen mußte, wenn ich sie nicht auch noch verlieren wollte.«

Webb fehlten die Worte. Er stand auf und trat ans Fenster. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt und tief in die Taschen seiner Jeans geschoben. Stocksteif stand er mit dem Rücken zu Lucinda und rang nach Luft. Panik stieg in ihm auf und drohte ihn zu ersticken. Mein Gott, sie war fast gestorben, und er hatte nichts davon gewußt.

»Einfach nur zu sagen, 'du mußt essen', hätte nichts genützt«, fuhr Lucinda fort, und die Worte purzelten aus ihr hervor, als ob sie sie zu lange in sich verschlossen gehalten hätte und sich nun unbedingt jemandem anvertrauen mußte. »Sie brauchte einen Grund zum Weiterleben, ein Ziel. Also sagte ich, ich bräuchte ihre Hilfe.«

Sie hielt inne und schluckte hart, bevor sie fortfuhr. »Keiner hat je zu ihr gesagt, daß er sie braucht. Ich wußte doch gar nicht ... Nun, jedenfalls machte ich ihr verständlich, daß ich nicht ohne sie auskam, daß mir allein alles zuviel wird. Mir war gar nicht bewußt, wie recht ich damit hatte«, fügte Lucinda trocken hinzu. »Sie hat sich wieder erholt. Es war ein langer, harter Kampf, und eine Weile fürchtete ich, daß es zu spät wäre – doch sie schaffte es. Es dauerte ein Jahr, bevor sie sich so weit erholt hatte, daß sie aufs College gehen konnte, ein Jahr, bevor sie aufhörte, uns nachts mit ihren Schreien zu wecken.«

»Schreie?« fragte Webb. »Alpträume?«

»Ja – von Jessie.« Lucindas Stimme war ganz leise, voller Gram. »Sie hat sie gefunden, weißt du noch? Und so schrie sie immerfort wie damals, als ob sie gerade erst ins Zimmer marschiert und – und in Jessies Blut getreten wäre.« Ihre Stimme zitterte, festigte sich dann jedoch wieder, als ob sich Lucinda solche Schwächen nicht erlauben dürfte. »Aus den Alpträumen wurde Schlaflosigkeit, als ob Wachbleiben die einzige Methode wäre, ihnen zu entkommen. Sie leidet immer noch darunter, und in manchen Nächten kann sie überhaupt nicht schlafen. Sie macht hier und da ein Nickerchen. Wenn du sie also tagsüber irgendwo schlafen siehst, dann wecke sie, um Gottes willen, nicht auf; denn wahrscheinlich ist das die einzige Ruhe, die sie finden kann. Ich habe es zur Regel gemacht, daß sie von niemandem, unter keinen Umständen, geweckt werden darf. Corliss ist die einzige, die sich nicht daran hält. Sie läßt etwas fallen oder knallt eine Tür zu – und behauptet dann, es wäre ein Versehen.«

Webb drehte sich vom Fenster zu ihr herum. Seine Augen sprühten grünes Feuer. »Vielleicht passiert ihr das noch einmal, aber das ist dann garantiert das letzte Mal«, schnaubte er.

Lucinda lächelte schwach. »Gut. Es fällt mir nicht leicht, das von meiner eigenen Familie zu sagen – aber Corliss hat eine gemeine, hinterhältige Ader. Es ist gut für Roanna, daß du wieder da bist.«

Aber ich bin nicht dagewesen, als sie mich am meisten gebraucht hätte, klagte es in seinem Innern. Er hatte sich aus dem Staub gemacht, hatte sie mit ihrer Angst und ihren Alpträumen allein gelassen. Was mußte er da noch hören? Roanna war in Jessies Blut getreten? Das hatte er nicht gewußt und auch nichts von dem enormen Streß, unter dem sie offenbar stand. Seine Frau war gerade ermordet worden, und man beschuldigte ihn; er hatte selbst genug Probleme um die Ohren und ihren Streß als Schuldgefühle interpretiert. Er hätte es besser wissen müssen, denn er stand Roanna näher als jeder andere.

Es fiel ihm ein, wie sie die einhellige Verdammung der Stadt ignoriert und ihre magere Hand in die seine geschoben hatte, damals bei Jessies Beerdigung, um ihm Trost zu spenden. In Anbetracht der wilden Gerüchte, die um sie kursierten, daß Jessie ihn angeblich beim Bumsen mit Roanna erwischt hatte, mußte es sie schon eine ganze Menge Mut gekostet haben, so auf ihn zuzugehen. Aber sie hatte es trotzdem getan, ohne Rücksicht auf ihren Ruf – weil sie glaubte, er würde sie brauchen. Statt ihre Hand zu drücken, irgend etwas zu tun, das ihr Vertrauen signalisiert hätte, stieß er sie damals zurück.

Sie war für ihn dagewesen, aber er nicht für sie.

Überlebt hatte sie, aber um welchen Preis?

»Ich hab sie zuerst gar nicht erkannt«, überlegte er fast abwesend. Sein Blick ließ Lucinda keine Sekunde los. »Sie ist nicht nur älter geworden, sondern hat sich vollkommen verschlossen.«

»Nur so konnte sie mit allem zurechtkommen. Sie ist jetzt stärker; ich glaube es hat ihr einen ganz schönen Schrecken eingejagt, als ihr klar wurde, wie nah sie am Abgrund stand. So weit hat sie es nie wieder kommen lassen. Aber sie schaffte es nur, indem sie die Außenwelt auf Distanz hielt und sich innerlich vollkommen verschloß. Mir scheint, sie fürchtet sich, zu viel zu empfinden, also läßt sie überhaupt keine Gefühle mehr zu. Ich dringe nicht zu ihr durch, und der Himmel weiß, ich habe es versucht – aber auch das geht auf mein Konto.«

Lucinda straffte ihre Schultern, wie um eine Altlast zurechtzurücken, die ihr so vertraut geworden war, daß sie sich an sie gewöhnt hatte. »Als sie Jessie fand und schrie, sind wir alle ins Zimmer gerannt und haben sie bei der Leiche stehen sehen. Gloria nahm sofort an, daß Roanna Jessie getötet hätte, und das haben sie und Harlan auch dem Sheriff erzählt. Booley hat einen Deputy zu ihrer Bewachung abgestellt, während er die Sache näher untersuchte. Wir saßen alle auf der einen Seite des Wohnzimmers und Roanna auf der anderen, ganz allein, bis auf den Deputy. Ich werde nie vergessen, wie sie uns angesehen hat, als ob wir ihr ein Messer in den Rücken gejagt hätten. Ich hätte zu ihr gehen müssen, so wie ich zu dir hätte gehen müssen, aber ich habe es nicht getan. Seitdem hat sie mich nie wieder Großmutter genannt«, flüsterte Lucinda nun. »Ich dringe einfach nicht zu ihr durch. Sie tut, was nötig ist, aber ihr liegt gar nichts mehr an Davenport. Als ich zu ihr sagte, daß ich mein Testament wieder zu deinen Gunsten ändern würde, wenn sie es schaffte, dich zurückzuholen – da hat sie nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ich wollte, daß sie mir widerspricht, daß sie wütend wird, daß es ihr nicht egal ist. Aber sie rührte sich nicht!« Lucindas Stimme machte ihre Fassungslosigkeit deutlich, denn wie konnte jemandem ihr geliebtes Davenport egal sein?

Dann seufzte sie. »Weißt du noch, wie sie früher war, ein kleiner Schachtelteufel, ein Stehaufmännchen? Immer ist sie gerannt, die Treppen rauf und runter, hat Türen geknallt, war zu laut ... Also ich schwöre, sie hatte überhaupt kein Benehmen. Nun, jetzt würde ich alles darum geben, sie nur einmal wieder hüpfen zu sehen. Immer hat sie die falschen Dinge zur falschen Zeit gesagt, und jetzt sagt sie gar nichts mehr. Man kann unmöglich wissen, was in ihr vorgeht.«

»Lacht sie überhaupt noch jemals?« fragte Webb mit heiserer Stimme. Er vermißte ihr Lachen, ihr ansteckendes Kichern, wenn sie wieder irgendwelchen Unsinn aushecken wollte, oder ihr herzliches, kehliges Lachen über einen Witz, den er gerade erzählt hatte, ihr glückliches Glucksen, wenn sie den Fohlen auf der Weide beim Herumtoben zusah.

Lucindas Augen verschatteten sich. »Nein. Sie lächelt fast nie, und das Lachen hat sie ganz verlernt. Seit zehn Jahren lacht sie nicht mehr.«