Der hohe Turm
026
Wir betraten den Van Cortlandt Park und folgten dem ausgewiesenen Wanderweg, der zum Croton-Aquädukt führen sollte. Will ging auf dem Waldpfad immer schneller vor mir her, während ich mir Gedanken darüber machte, was wir eigentlich tun wollten, wenn wir Dee tatsächlich erwischten. Wenn er so mächtig war, dass er mit unsichtbaren Kraftfeldern Massenunfälle verursachen, Gebäude sprengen und Großbrände auslösen konnte, welche Chance hatte ich dann gegen ihn?
»Ich verstehe nicht, wie wir von hier in den High-Bridge-Turm hineinkommen wollen«, riefich Will schließlich zu. Er blieb gerade vor einem kleinen, rechteckigen Steingebäude stehen, dessen Tür verbarrikadiert und mit einem Vorhängeschloss gesichert war. »Was ist das?«
»Eine Wartungsanlage, die auch dazu genutzt wurde, überschüssige Wassermengen abzuleiten«, sagte er und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Das Holz knarrte, zersplitterte dann und war plötzlich einfach nicht mehr da. Durch den Staub der aufgebrochenen Tür sah ich Steinstufen, die nach unten führten. »Wir gehen unterirdisch weiter«, erklärte Will und nahm meine Hand. »Komm. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Während ich ihm folgte, schnippte ich mit den Fingern, um eine kleine Flamme zu erzeugen, mit deren Hilfe ich zumindest ein bisschen sehen konnte. Am Fuß der Treppe spiegelte sich mein Flämmchen in einer schwarzen Wasseroberfläche, die kleine Lichtwellen über einen gewölbten Tunnel aus Mauerstein schickte, von dessen Decke Stalaktiten hingen. Baumwurzeln hatten sich durch Ritzen des Mauerwerks gedrängt und sich unter dem Deckengewölbe zu einem komplizierten Gewebe verflochten. Es sah aus wie das Tor zur Unterwelt, aber inzwischen wusste ich, wo wir waren.
»Der alte Croton-Aquädukt«, sagte ich laut.
»Ja. Er führt direkt zum High-Bridge-Wasserturm.« Will tat von der letzten Stufe einen Schritt ins Wasser, das, wie ich erleichtert feststellte, nur wenige Zentimeter tief war. Dennoch fühlte ich ein unbestimmtes Grauen davor, es zu berühren.
»Komm«, sagte er und hielt mir seine Hand hin. »Du bist gestern durch sämtliche Wasserleitungen geschwommen.«
»Als Gruppe körperloser Moleküle«, antwortete ich und machte nun doch den entscheidenden Schritt. »Und außerdem war das reines Trinkwasser. Das …« Das Nass strömte um meine Füße, und kleine, langgezogene Wellen reflektierten schwarz und weiß im Feuerschein. »Das sieht aus, als könnte es …«
»Sprich es nicht aus!«, befahl Will, packte mich am Arm und zog mich rasch mit sich. »Je näher wir Dee kommen, desto mehr sind wir seinem Einfluss ausgesetzt. Er wird alle Ängste aufspüren, die er in deiner Stimme hört, die du vielleicht sogar nur denkst, und sie wahr werden lassen.«
Na toll, dachte ich. Das Wort Schlangen hatte ich noch gar nicht ausgesprochen, aber nun war es das Einzige, das mir durch den Kopf spukte, höchstens noch begleitet von Begriffen wie Ratten und riesigen mutierten Krokodilen. »Du hast aber doch gesagt, Dee würde uns nicht sehen, wenn wir uns dem Turm unterirdisch näherten.«
»Ich hoffe, dass er uns nicht sieht, aber selbst, wenn er das nicht tut, dann wird er in den Tunneln ein paar Fallen ausgelegt haben. Aber denk jetzt einfach nicht daran – halte dich nahe bei mir.«
Will ging so schnell, dass mir gar nicht mehr genug Luft blieb, um zu sprechen. Das ließ meiner Fantasie viel Raum, über die verschiedensten Schrecken nachzugrübeln, die uns hier unten in dem ausgemusterten Aquädukt erwarten mochten. Um sie einzudämmen, versuchte ich mich auf den glühend heißen Zorn zu konzentrieren, den ich empfand, seit ich erfahren hatte, dass Dee meine Mutter getötet hatte. Ich rief mir seinen Anblick ins Gedächtnis, wie er bei dem brennenden Autowrack stand und ein so unbeteiligtes, kaltes Gesicht machte, während meine Mutter verbrannte. Aber statt der Wut, die in mir hätte aufsteigen sollen, spürte ich Entsetzen angesichts der Vorstellung, dass sie ihren Tod in den Flammen gefunden hatte. Auch diesen Gedanken versuchte ich wegzuschieben. Ebendieses Bild hatte ich mir niemals vergegenwärtigen wollen. Sie war schon tot, als das Auto explodierte, versuchte ich mir einzureden. Oder: Die Explosion war so heftig, dass sie gar nichts gespürt hat. Aber wenn ich nun an John Dee dachte, wie er neben diesem Feuer stand, hörte ich auch die Schreie meiner Mutter und wusste, dass ihre letzten Minuten auf der Erde die Hölle gewesen waren.
»Wir sind fast an der Brücke.« Wills Stimme riss mich aus meinen schmerzvollen Gedanken. Ich war dankbar für die Ablenkung, aber als ich sah, was vor uns lag, sank mir der Mut. Das Aquädukt fiel ein wenig ab und verlor sich in einer dichten Nebelbank. »Dies ist die Schleusenkammer, in der das Wasser zur Brücke hochgepumpt wurde. Dee hat sie mit Nebel gefüllt, damit sie nicht so leicht zu durchqueren ist. Wir müssen ganz besonders vorsichtig sein. Es gibt Sackgassen und Kanaldüker, die steil den Berghang hinunterführen. Kannst du mit deiner Flamme den Nebel durchdringen?«
Ich hielt meinen Daumen empor und ließ die kleine Flamme kraft meines Willens zu einem größeren Licht anwachsen. Doch selbst als dreißig Zentimeter hohe Fackel konnte sie den Nebel nicht vertreiben, sondern enthüllte stattdessen Formen in der Düsternis – wabernde Kleckse wie riesige Amöben, die sich wanden, anschwollen, teilten … und dann wieder anschwollen.
»Was ist das?«, fragte ich und stellte entsetzt fest, dass einige dieser Kleckse annähernd menschliche Gestalt annahmen.
»Das ist die Zellmaterie des Nebels. Die Dunstschwaden nehmen mit Hilfe negativer Energie konkrete Formen an. Sie befinden sich noch im proterozonischen Stadium, aber je stärker sie werden, desto mehr wird der Nebel mit Energie aufgeladen, um schließlich die Form jedes beliebigen mentalen Bildes annehmen zu können, das ihm begegnet.«
»Also werden die Menschen in der Stadt im Geiste ihren schlimmsten Alpträumen begegnen, selbst wenn es ihnen gelingt, sich körperlich davon fernzuhalten.«
»Ganz genau. Schon jetzt kann sich der Dunst, wenn er auf ein mentales Bild von genügend großer Stärke trifft, in ebendiese Gestalt verwandeln. Da du inzwischen von den vier Elementen ausgebildet wurdest, könnte dein Geist durchaus Bilder senden, die ihn zum Leben erwecken könnten. Versuche am besten, deinen Kopf ganz frei zu bekommen.«
Er wandte sich zu mir um und lächelte, aber in dem scheußlich gelben Licht des Nebels wirkte es wie ein höhnisches Grinsen. »Und bitte bleib dicht bei mir. Wir müssen uns hier hindurchtasten.«
Will hakte mich unter, und wir schritten langsam den abfallenden Weg hinab. Der Boden unter unseren Füßen war glitschig, und nachdem wir den Nebel erreicht hatten, nicht einmal mehr zu sehen. Ich rutschte einige Male aus, aber Will fing mich immer wieder auf. Ich versuchte, mich fester an ihn zu klammern, aber meine Hände waren feucht vom Dunst und zitterten vor Kälte. Seine Hände waren so kühl und dünn wie nackte Knochen, Fleisch, das seit hundert Jahren tot war … und schließlich war er das ja auch, seit schon viel längerer Zeit.
»Es ist nicht mehr weit.« Sein körperloses Flüstern erklang direkt neben mir. Der Nebel war so dicht, dass ich nicht einmal mehr ihn sehen konnte … wusste ich denn wirklich sicher, dass es Will war, an dem ich mich da festhielt? Ich versuchte, durch den dicken Dunst einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen. Selbst die Züge eines Vampirs – einer untoten Kreatur – wären mir jetzt ein willkommener Anblick gewesen. Ich beugte mich näher zu ihm … und ein weißer Schädel ragte aus den Schwaden, der mich mit leeren Augenhöhlen angrinste. Ich kreischte auf und wich zurück, wand meine Hand aus dem Griff der Skelettfinger, die sie gepackt hatten, wie ich jetzt sah.
»Garet!« Die Stimme drang aus der Lücke über dem lockeren, wackligen Kieferknochen.
Wieder wich ich zurück – und stürzte. Will – oder was auch immer dieses Wesen an meiner Seite war – war zu weit entfernt, um mich festzuhalten. Ich rutschte über Schlamm und Dreck den steilen Abhang hinunter und landete schließlich in einer Pfütze übelriechenden Wassers. Zwar konnte ich Wills Stimme von weiter oben hören, aber ich sah nichts außer dem entsetzlichen, grinsenden Schädel.
Es ist der Nebel, sagte ich mir, aber eine andere Stimme fügte hinzu: Aber er zeigt ihn als das, was er wirklich ist – ein vierhundert Jahre alter Leichnam.
Also blieb ich still und reagierte nicht auf Wills Ruf. Ich rappelte mich auf und begann, die Steigung auf der anderen Seite wieder emporzuklettern. Ich würde allein in den Turm vordringen, Dee die Schatulle abnehmen, und dann würde sich der scheußliche Nebel auflösen und Will – der echte Will – wieder zu mir stoßen. Alles würde wieder ganz normal sein. Darauf musste ich mich nun konzentrieren – darauf, dass mein Leben wieder zu seiner alten Stabilität und Normalität zurückfand. Mein Vater würde aus dem Krankenhaus entlassen werden, und wir würden irgendeine Möglichkeit finden, den Kredit zurückzuzahlen. Becky und Jay würden sich wieder vertragen und einen Kompromiss für die Zukunft der Band finden. Und ich würde Detective Kiernan beweisen, dass mein Vater nichts mit dem Einbruch zu tun hatte. Weiter und weiter kletterte ich nach oben, beschäftigte meine Gedanken mit diesen Alltagssorgen, die mir vor einigen Tagen noch so unüberwindlich erschienen waren und mir nun sogar Trost boten. Irgendwie schienen sie tatsächlich eine Art Gegengift zum Nebel zu bieten. Als ich oben angekommen war, verzog sich der Dunst ein wenig, und ich konnte den Tunneleingang zur High Bridge sehen. Auf mein Fingerschnippen hin erschien eine kleine, zuckende Flamme, die ich hochhielt, um die Öffnung zu beleuchten … und die Gestalt des Mannes, der dort stand.
Ich schrie auf. Der Mann fuhr herum und blendete mich mit dem Strahl einer Taschenlampe, die er unversehens auf mich richtete.
»Garet James, sind Sie das?«
Die Stimme klang vertraut, und als der Mann die Taschenlampe leicht senkte, erkannte ich Detective Joe Kiernan. »Was machen Sie denn hier?«, keuchte ich.
»Wir haben gesehen, dass Sie nach dem High-Bridge-Wasserturm recherchiert haben, und daher dachte ich mir, dass Sie hierherkommen würden«, erklärte der Polizist und rief in den Tunnel: »Sie ist hier. Ich habe sie gefunden.«
Zwei Personen traten aus der Düsternis, Jay und Zach Reese. Nie war ich über das Erscheinen zweier Menschen glücklicher als in diesem Augenblick.
»Wir haben uns ausgerechnet, was geschehen ist«, sagte Jay. »Und wir kommen, um dir zu helfen.«
»Du hättest nicht versuchen sollen, das alles allein durchzustehen«, ergänzte Zach.
»Ich wollte gar nicht …«, erwiderte ich und sah hinter mich. Was war mit Will passiert? »Ich hatte nicht erwartet, dass mir irgendjemand glauben würde«, erklärte ich schnell.
»Es ist ja auch ziemlich unglaublich«, nickte Kiernan. »Andererseits geschehen über uns gerade ebenfalls ziemlich unglaubliche Dinge. Überall Feuer und Explosionen. Kommen Sie. Wir müssen versuchen, diesen Dee zu finden und ihn daran hindern, die Stadt in Schutt und Asche zu legen.« Joe Kiernan lächelte ermutigend. Es war ein so sauberes, ehrliches Lächeln, dass ich mich fragte, wieso ich den Polizisten früher eigentlich nicht gemocht hatte. Er wollte doch nur helfen. Nun nahm er meinen Arm und führte mich in den Tunnel. Jay hakte mich auf der anderen Seite unter, und Zach marschierte hinter uns her. Ich konnte seine Schritte auf dem Eisengerüst der Brücke vibrieren hören, ein Dröhnen, das mir im Herzen wehtat.
»Das ist ziemlich cool«, meinte Jay und deutete mit seiner Taschenlampe auf den Boden. »Schau mal, die Pylone der Brücke sind hohl. Man kann bis zum Fluss hinunterschauen.«
Zwischen uns tat sich ein schwindelerregender Abgrund auf, und ich keuchte.
»Keine Sorge«, sagte Jay. »Ich passe schon auf, dass dir nichts passiert.« Und dann flüsterte er mir ins Ohr: »Du weißt doch, wie ich für dich empfinde, nicht wahr?« Sein Atem roch jetzt, da er mir so nahe kam, irgendwie nach Kupfer. Ich wandte mich zu ihm um, aber er drehte das Gesicht weg, so dass ich nur sein Profil sehen konnte.
»Sie erwidert deine Gefühle nicht«, sagte Joe Kiernan. »Du und Becky, ihr seid ihr ziemlich egal. Sie hat doch regelrecht zugesehen, wie Becky ins Unglück stürzte.«
»Und ihr Vater ebenfalls«, fügte Zach hinzu. Ich versuchte, mich zu ihm umzudrehen, um ihn direkt anzusehen, aber Kiernan verstärkte seinen Griff an meinem Arm.
»Das stimmt«, nickte der Polizist. »Sie haben diese Männer zu ihrem Haus geführt, damit sie Ihren Vater erschießen konnten, nicht wahr? Wäre er gestorben, hätte das für Sie eine bequeme Lösung Ihrer Probleme bedeutet. Und Sie hätten nicht den Rest Ihres Lebens damit verschwenden müssen, einen senilen alten Mann zu betreuen, der Ihr Erbe verschleudert hat.«
»Du hast ihm den Tod gewünscht, genau wie deiner Mutter«, hörte ich Zachs Stimme hinter mir. Aber es war nicht Zach. Die beiden Wesen, die mich über die Brücke führten, waren auch nicht Joe Kiernan und Jay. Sie waren Dämonen, die ich aus dem Nebel heraufbeschworen hatte. Ich schloss meine Augen und sagte: »Ihr seid nicht real.«
Die drei Männer lachten. »Sind wir nicht?«, fragte derjenige, der Jays Gestalt angenommen hatte. »Wir wissen alles über dich. Erinnerst du dich daran, wie wir die Schule geschwänzt haben und mit der Fähre nach Staten Island gefahren sind? Ich wollte dich an dem Tag küssen, aber du musstest die ganze Zeit von diesem Typ erzählen, in den du dich verknallt hattest.«
»Und weißt du noch, was dein Vater bei der Beerdigung deiner Mutter gesagt hat?«, fragte Zach. »Ich war der Einzige, der nahe genug stand, um es zu hören. Er sagte, er wünschte, du seiest an ihrer Stelle gestorben.«
»Das ist nicht wahr!«, kreischte ich und kämpfte mich nun so weit frei, dass ich mich zu Zach umdrehen konnte. »Er hat gesagt, wenn ich auf dem Beifahrersitz gesessen hätte, dann wäre ich tot gewesen.«
»Aber das hat er gedacht.« Kiernan schnalzte mit der Zunge. »Was für ein schrecklicher Gedanke für einen Vater, aber er war schon immer sehr selbstsüchtig. Wenn Sie ihm wirklich wichtig gewesen wären, dann hätte er nicht Ihr ganzes Geld verzockt.«
Ich riss mich nun endlich von Kiernan los, und er gab mich plötzlich frei. Jay löste seinen Griff um meinen anderen Arm. Ich machte einen Schritt nach vorn, aber dann sah ich nach unten und stellte fest, dass wir am Rand eines der großen Pylone der Brücke standen. Tief unter mir sah ich die aufgewühlten Fluten des Hudson River.
»Mach schon, Garet«, flüsterten die drei Männer wie aus einem Mund. »Spring!«
Mit angehaltenem Atem wartete ich, ob sie mich herunterstoßen würden, aber nichts geschah. So viel Kraft besaßen sie nicht – noch nicht. Sie bestanden aus Luft und Wasser, und wie mir plötzlich einfiel, hatte ich Macht über beides. Ich wandte mich um und sah sie an. »Ihr seid nur Wasser«, sagte ich laut. Die Gestalten wurden grau und begannen in der Luft zu schwanken. Dann hob ich beide Arme – so wie ich es bei Ariel gesehen hatte, als sie den Sturm herbeirief – und horchte auf das Lied des Windes. Ich fühlte, wie er über die High Bridge strich und das Wasser unter mir berührte, wie er in den Spalten zwischen den Steinen hauchte und flüsterte. Dann fuhr er wie ein Güterzug durch den Tunnel und hob mich kurzzeitig von den Füßen. Die Umrisse der drei Nebelmänner lösten sich auf, bis nur noch ein kleiner Dunstfaden blieb, den der Wind aus der anderen Seite des Tunnels hinausblies.
»Danke«, sagte ich laut.
Ein Seufzen regte die Luft, dann war es vorbei. Stattdessen hörte ich meinen Namen.
»Garet? Bist du da?« Es war Will.
»Ich bin hier«, erwiderte ich. Schließlich sah ich ihn aus dem Dunkel treten, das Gesicht blass und angespannt, aber offenbar unverletzt. Der Nebel war verschwunden. Es war der echte Will.
»Gott sei Dank!«, sagte er und zog mich in seine Arme. »Ich fürchtete schon, ich hätte dich verloren.«
»Es war der Nebel. Er hat mich schreckliche Dinge sehen lassen, aber nun ist er weg.«
»Nicht für lange«, sagte Will, hielt mich auf Armeslänge von sich und deutete zur Bronx-Seite des Tunnels, wo sich eine Nebelbank erstreckte, die sich wie eine zusammengerollte Schlange hin und her wand. »Wir sollten uns beeilen.«
Am Ende der Brücke lag auch hier eine Schleusenkammer, die wir durchschreiten mussten, um das Fundament des Turmes zu erreichen. Ohne Nebel konnten wir uns leichter zurechtfinden, aber es war dennoch ein sehr schwieriger Abstieg. Meine Beine zitterten, als wir ihn hinter uns hatten. Kurz lehnte ich mich gegen die Ziegelmauer, um etwas Atem zu schöpfen, und als ich dann nach oben sah, erblickte ich eine Wendeltreppe aus Locheisenblechen, die sich so weit in die Höhe reckte, wie das Auge reichte.
Hinter einer der Windungen befand sich eine schmale, vertikale Öffnung in der Wand, die wie eine der Schießscharten aussah, durch die im Mittelalter die Bogenschützen ihre Pfeile abschossen. Es war ein gedämpftes, orangefarbenes und gelbes Glühen zu erkennen, das mich verwunderte, daher trat ich ein paar Schritte näher, und als ich sah, woher der seltsame Schein stammte, zog ich scharf die Luft ein. Das unverglaste Fenster blickte auf einen Wohnblock, und zwei Gebäude am Ende der Straße standen in Flammen. Mir schauderte bei dem Gedanken, wie viele funkenübersäte Tentakel sich durch die Stadt winden mochten und wie viel von der Stadt schon in Schutt und Asche liegen würde, wenn es uns endlich gelang, Dee zu überwinden, aber es gab keinen anderen Weg, als es zu versuchen. Als ich mich wieder zu Will umwandte, der selbst genug eigene Sorgen hatte, tat ich so, als sei ich von dem hellen, bernsteinfarbenen Licht abgelenkt gewesen, das zäh wie Honig von der Spitze des Turmes floss.
»Immerhin liegt hier kein Dunst«, sagte ich zu Will.
Er nickte, aber ich bemerkte, dass er erschöpft wirkte. »Hast du heute Nacht schon Nahrung gefunden?«, fragte ich. »Ich dachte, deswegen seiest du vielleicht unterwegs gewesen, bevor du zu mir kamst.«
»Dein Ruf hat mich davon abgebracht«, sagte er.
»Kann ich dir …«
Er winkte ab. »Du brauchst deine Kraft. Hier in diesem Turm ist etwas, das Energie abzieht. Fühlst du das nicht?«
Nun, da er es aussprach, merkte ich es auch. Es war, als ob die Schwerkraft sich hier stärker bemerkbar machte als sonst und einen Druck ausübte, der uns beinahe zu Boden gehen ließ. Ich musste mich am Eisengeländer der Treppe festhalten, um mich auf die erste Stufe zu ziehen. Sobald meine Füße das Eisenblech berührten, fühlte ich die Spannung – eine elektrische Ladung, die mit der Wucht eines Dreißigtonners gegen meinen Körper prallte.
»Wow«, sagte ich und sank auf die Knie. »Was ist das
»Dee hat eine Energiespirale aufgebaut. Die Treppe bietet die perfekte Möglichkeit dazu. Damit treibt er auch den Nebel in die Stadt – sie funktioniert wie ein riesiges Gebläse.«
»Wie kommen wir daran vorbei?«
Will antwortete nicht. Als ich mich umwandte, sah ich ihn am Boden kauern, das Gesicht aschgrau. »Will!« Ich rief seinen Namen und nahm seine Hand. Ein Energiestrom sprang von mir auf ihn über. Sofort verlor seine Haut die graue Färbung, und er öffnete die Augen. Mit einem Ruck setzte er sich auf und sah mich an; seine silbernen Augen blitzten wie Spiegel. »Wie hast du das gemacht?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht.« Ohne den Kontakt zu ihm abreißen zu lassen, drehte ich die Handfläche nach oben und sah, dass der Kompasskiesel unter meiner Haut glühte. »Oberon sagte, der Stein würde mich erden. Zwar fühle ich die Energie immer noch, aber nun fließt sie durch mich hindurch.« Ich stand auf und half Will mühelos auf die Beine. Die Energie pulsierte durch meinen Körper, zog mich aber nicht länger hinab. Es fühlte sich vielmehr so an, als stünde ich unter einem kühlenden Wasserfall … als würde mir das Kraftfeld Energie verleihen. »Komm«, sagte ich, »halte dich an meiner Hand fest.«
Nun war es leicht, die Treppe zu erklimmen. Es war, als brächte mich eine spiralförmige Rolltreppe weiter nach oben. Die ganze Treppe bebte vor Energie und verursachte ein leises Summen, das mich an das Lied erinnerte, das ich im Wind gehört hatte. »Irgendwie verstehe ich das nicht«, sagte ich über meine Schulter zu Will. »Ich dachte, Dee würde Dämonen herbeirufen, aber diese Energiewelle fühlt sich überhaupt nicht böse an – sie ist toll!«
Will lachte. »Wie kommst du darauf, dass sich das Böse nicht gut anfühlen könnte? Du hast letzte Nacht mit einem Dämon geschlafen. Willst du mir vielleicht sagen, das hätte sich nicht gut angefühlt?«
Wieder sah ich mich zu ihm um. Er leuchtete wie eine von Licht durchflutete Alabastervase und sah viel eher wie ein Engel denn wie ein Dämon aus. »Du bist kein Dämon«, sagte ich.
»Da würden dir einige widersprechen.« Er lächelte traurig und berührte mein Gesicht. Der Energiekontakt ließ ein paar Funken fliegen. »Aber so oder so ist diese Energie weder gut noch böse, sie ist nur eine Kraft, ein Motor, der eben das vorantreibt, wofür man ihn einsetzt. Die beiden Dämonen, die Dee heraufbeschworen hat, lassen mich wie ein Engel aussehen. Wir sollten uns beeilen.«
Er sah so wunderschön aus, dass ich mich kaum von seinem Anblick losreißen konnte, aber er hatte Recht. Ich stieg die Treppe weiter hinauf, aber auf dem nächsten Absatz legte mir Will die Hand auf den Arm und hielt mich zurück. »Warte.« Er deutete auf die Stufen über unseren Köpfen. »Dort ist irgendjemand – oder irgendetwas – auf der Treppe über uns.«
Ich sah auf und erkannte, was er meinte. Da die Stufen aus gelochten Eisenblechen waren, konnte man bis ganz nach oben sehen. Auf der nächsten Ebene blockierte etwas das Licht – etwas Großes und Dunkles. Ich beobachtete es eine kleine Weile, ohne eine Bewegung wahrnehmen zu können. »Wir schauen besser nach, was es ist«, flüsterte ich.
Langsam und leise schlichen wir die letzten Windungen der Treppe nach oben. Als wir um die letzte Ecke bogen, entdeckte ich, dass der große, bewegungslose Körper Oberon gehörte. Er war mit einem Gewebe aus Ketten an die Treppe geschnallt, als hätte eine Spinne ein feines Eisennetz gesponnen, in dem er sich verfangen hatte. Seine Augen waren offen und starrten mit leerem Blick zur Spitze des Turms empor.
»Ist er tot?«, fragte ich.
»Es ist nicht leicht, einen Elfen zu töten. Ich vermute, er ist nur in Eisen gelegt
»Aber er hat gesagt, dass nur die kleineren Unirdischen das Eisen fürchten müssen.«
»Normalerweise stimmt das auch, aber das hier ist sehr viel Eisen, und Dee muss ein richtiges Netz konstruiert haben, um ihn festzusetzen.«
Ich kniete mich hin und sah Oberon ins Gesicht. Seine Augen waren blassblau wie Milchglas – Murmeln ohne Leben. Sein Gesicht war von heftigem Schmerz verzerrt. Er hatte mich hintergangen, mich dem Tod überlassen, aber ich konnte es dennoch nicht ertragen, den König der Elfen wie eine Stubenfliege geleimt zu sehen. Als ich ihm die Hand auf die Brust legte, um seinen Herzschlag zu fühlen, bewegten sich die eisblauen Augen in ihren Höhlen und blickten in meine Richtung.
»Marguerite?« Es war ein heiseres Krächzen, das kaum hörbar über seine trockenen, gesprungenen Lippen kam.
»Ich bin es, Garet«, sagte ich. »Warte, ich nehme dir diese Ketten ab …« Mit den Fingern zog ich an einer der Ketten, aber sie war seltsam schwer. Ich versuchte es mit mehr Gewalt, konnte aber nichts erreichen. Als ich Will um Hilfe bitten wollte, schüttelte er den Kopf.
»Er hat dich gelähmt zurückgelassen. Wieso sollten wir ihm helfen?«
Oberon bewegte schwach den Kopf hin und her. »Er hat Recht. Es gibt für dich keinen Grund, mir je wieder zu vertrauen. Davon abgesehen – solange die Schatulle offen ist, sorgt ihre Kraft dafür, dass diese Ketten fest mit dem Eisen der Treppe unter mir verbunden bleiben. Aber sobald du die Schatulle schließt, werden sie von mir abfallen.«
»Und dann wird er versuchen, dir das Kästchen abzujagen«, sagte Will. »Wir sollten ihn erledigen.«
»Nein!«, sagte ich mit viel mehr Nachdruck, als ich beabsichtigt hatte. »Ich werde den König der Elfen nicht töten. Er hat nur getan, was er für richtig hielt, und davon abgesehen wird ihn das Eisen zu sehr geschwächt haben, als dass er mich aufhalten könnte, sobald ich die Schatulle habe.«
»Das stimmt«, sagte Oberon. »Geh! Nur noch eines … wenn du die Schatulle in die Hände bekommst … mach sie sofort zu … sieh nicht hinein.«
Es klang wie eine dieser Warnungen im Märchen, aber immerhin kam sie auch von einem Elfen. Beinahe hätte ich nach dem Grund gefragt, aber es war keine Zeit dafür. Es schien nicht weiter schwer zu sein, ihm das zu versprechen. »Okay«, sagte ich. »Wir kommen und holen dich.«
Oberon verzog die gesprungenen Lippen über den Zähnen, und ich erkannte, dass er zu lächeln versuchte. »Klar«, sagte er. »Ich warte hier auf euch.«