Riesenmaul
006
Mein Vater schlief, als ich in sein Krankenzimmer schaute. Der nette Rettungssanitäter von gestern, der, wie ich erfuhr, mit Vornamen Obie hieß, versicherte mir, es ginge Roman gut. »Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde heute Nacht auf ihn aufpassen. Gehen Sie ruhig nach Hause.« Er warf einen Blick aus dem Fenster neben dem Bett meines Vaters. »Sieht so aus, als ob schlechtes Wetter von Süden aufzieht.«
Obie Smith hatte Recht. Kalte, nadelspitze Regentropfen fielen, als ich das Krankenhaus verließ. Ich klappte meinen Kragen hoch, zog den Kopf ein und wünschte, einen Hut oder einen Schirm mitgenommen zu haben. Aber als ich das Haus verlassen hatte, war es noch trocken und klar gewesen. An der 7th Avenue Ecke 12th Street blickte ich nach Norden in Richtung Stadtmitte. Die Lichter der Avenue leuchteten klar vor einem kobaltblauen Himmel. Aber wenn ich mich nach Süden wandte, konnte ich durch den Nebel kaum bis zur nächsten Straßenecke sehen. Es war, als sei die Südspitze Manhattans komplett von Dunst verschluckt.
Komisches Wetter, dachte ich beim Überqueren der Straße, vielleicht wieder ein Zeichen für die globale Erwärmung. Aber das war nicht weiter beunruhigend. Es kamen mir ja viele Leute auf der Greenwich Avenue entgegen …
An der Ecke der Jane Street blieb ich stehen und sah mich um. Alle Fußgänger kamen mir entgegen. Sie gingen auf die 7th Avenue zu, kein Einziger spazierte wie ich zur 8th. Gab es vielleicht irgendwo eine Parade, von der ich nichts mitbekommen hatte? Aber welche Parade fand Mitte Dezember statt? Vielleicht wollten sie alle zum Irving Place und sich London Dispersion Force anhören, überlegte ich, fest entschlossen, positiv zu denken.
Auf der Jane Street war der Nebel noch schlimmer – ein hässlicher Klumpen geronnener Sahne, leicht gelblich eingefärbt und ein wenig nach faulen Eiern riechend, ganz ähnlich dem Geruch, den die Schattenmänner an sich gehabt hatten. Das konnte doch nicht allein ein seltsames Wetterphänomen sein – entweder war ein Kanalrohr gebrochen, oder es trat irgendwo Gas aus. Vielleicht sollte ich zurückgehen – aber wohin? Ich war erschöpft. Ich wollte nichts lieber, als in meinem eigenen Haus in meinem Bett liegen. Das Geländer unseres Treppenaufgangs ragte aus dem Nebel. Drinnen würde ich mir die Nachrichten im Fernsehen ansehen; vielleicht fand ich ja dann heraus, was hier vor sich ging.
Nachdem ich die Tür geöffnet, den Alarmcode eingegeben hatte und eingetreten war, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Tür, als wollte ich den Nebel mit aller Gewalt draußen halten. Aber der Nebel schien schon im Haus zu sein. Der Flur war düster, die schattenumlagerten Ecken verschwommen und unscharf. Vermutlich kündigte sich ein neuer Migräneanfall an. Der auffällig gezackte blinde Fleck, der den Kopfschmerzen stets vorausging und den ich mir inzwischen immer als böse, schwebende Wassernymphe vorstellte, trieb bereits durch mein Blickfeld. Nach all dem, was hinter mir lag, war das kein Wunder. Ich brauchte nichts weiter als zwei Schmerztabletten und zehn Stunden Ruhe in einem verdunkelten Zimmer. Das war alles.
Müde schleppte ich mich die beiden Treppen empor und musste daran denken, dass meine Mutter stets gesagt hatte, wenn sie einmal alt sei, würden wir einen Lift einbauen müssen.
»Du wirst niemals alt sein«, hatte Roman dann immer erwidert und natürlich damit gemeint, dass meine wunderschöne Mutter niemals alt aussehen, und nicht, dass sie mit einundsechzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben kommen würde. In einer Hinsicht hatte Roman allerdings Recht gehabt: Margot James sah immer noch aus, als sei sie noch nicht einmal vierzig, als sie starb.
Als ich meine Wohnungstür öffnete, stellte ich fest, dass Becky und Jay auch hier oben gewesen waren. Jemand hatte das Flockenkonfetti aufgefegt und das Fingerabdruckpulver weggewischt. Außerdem hatte jemand (vermutlich Becky, die bei ihrem Sommereinsatz für eine Hilfsorganisation in Mittelamerika beinahe ein kleiner Zimmermann geworden war) ein Brett vor das kaputte Oberlicht genagelt. Zwischen dem Holz und dem Rahmen konnte ich allerdings ein kleines Stück Himmel sehen, und ich hoffte, dass Becky beim Errichten von billigem Wohnraum für die Armen in Ecuador etwas gründlicher gewesen war. Es machte sogar den Anschein, als hätte meine Freundin endlich in die Tat umgesetzt, was sie mir schon so lange angedroht hatte: meine Regale mit dem Schmuckzubehör und dem Altmetall abzustauben und blankzuwischen. Die verbogenen Straßenschilder und weggeworfenen Fahrradräder, die verschieden langen Ketten und verbeulten Autoteile, die ich auf den Straßen der Stadt eingesammelt oder in verlassenen Lagerhäusern gefunden hatte, schimmerten wie fabrikneue Spielzeuge. Selbst die Acetylen- und Sauerstoffflaschen sahen aus, als seien sie mit einem Lappen gesäubert worden. Das einzige Ding, was nicht gereinigt worden war, war die Drachenskulptur, die über dem Arbeitstisch hing. Becky fand sie unheimlich. Das konnte ich ihr nicht verübeln.
Der Kopf bestand aus einem hydraulischen Rettungsspreizer, den ich auf einer Müllhalde in Greenpoint gefunden hatte. Selbst zwischen dem Abfall sah er schon wie die Schnauze eines Monsterreptils aus. Es war das Monster, das ich jede Nacht in meinen Träumen sah. In der Realität war es mir tatsächlich einmal begegnet, an jenem Tag, als meine Mutter starb.
Ich war damals sechzehn. Meine Mutter hatte ein Auto gemietet, um mich zu einem Vorstellungstermin bei der Rhode Island School Of Design zu bringen. Wir fuhren durch einen Schneesturm und hatten uns den ganzen Weg über gestritten, wo ich mein Studium beginnen wollte. Schließlich war ich so sauer, dass ich mich auf den Rücksitz setzte, nachdem wir kurz angehalten hatten, um zu tanken. Ich hatte beschlossen, dass ich lieber in der Stadt bleiben und das FIT besuchen wollte. Es kostete erheblich weniger als ein privates Institut wie die RISD und war nicht so steif und hochnäsig. Meine Mutter hingegen betonte immer wieder, dass sie die Mittel schon aufbringen würde, um mich auf die RISD schicken zu können. »Du kannst alles werden, was du willst, Garet. Du musst die freie Wahl haben … und es ist besser, wenn du aus dem Haus kommst.«
»Damit ich nicht mehr mit anhören muss, wie du dich mit Dad streitest?«, fragte ich, setzte die Kopfhörer meines Walkmans auf und drehte das Gesicht zum Fenster, vor dem der Schnee wie eine Nebelwand wirbelte. Ich starrte noch immer aus dem rechten hinteren Seitenfenster, als der Fahrer eines roten Ford Expedition die Spur wechselte, ohne auf den toten Winkel zu achten, und dabei unseren Mietwagen rammte. Wir überschlugen uns und rutschten über drei Fahrbahnspuren. Ein zweiter Geländewagen prallte gegen den leicht hochgebogenen linken hinteren Kotflügel, und unser Auto begann sich zu drehen, bis es gegen eine niedrige Mauer krachte. Dann war ich eingeklemmt zwischen zwei Metallwänden, der hinteren Beifahrertür und der Tür auf der anderen Seite, die wie eine Ziehharmonika gefaltet war. Ich sah den Hinterkopf meiner Mutter und hörte, wie sie wieder und wieder meinen Namen sagte.
»Garet, kannst du mich hören? Ist alles in Ordnung? Garet?«
»Ich bin hier, Mom. Mir geht es gut, aber ich kann mich nicht bewegen. Ist dir etwas passiert?«
Zunächst antwortete meine Mutter nicht; dann sagte sie, es ginge ihr gut. Es täte ihr leid, dass wir uns wegen des Colleges gestritten hätten, aber sie würde mir zutrauen, dass ich selbst die richtige Entscheidung treffen würde. »Marguerite«, sagte sie und nannte mich dabei bei meinem französischen Namen, den sie stets wie eine Liebkosung aussprach, »vertrau immer deinem Instinkt. Du bist ein seltener Vogel … einzigartig … denke immer selbstständig …«
Sie sagte noch etwas anderes, das im Lärm der Sirenen, die plötzlich um uns herum erschollen, unterging. Das Gesicht eines Mannes mit Feuerwehrhelm erschien am Fahrerfenster, und meine Mutter sagte etwas zu ihm, das ich nicht hören konnte. Dann war der Mann an meinem Fenster, und das Blinklicht hinter ihm strahlte sein Gesicht rot und bedrohlich an.
»Da gibt es noch etwas, das ich dir sagen muss«, rief meine Mutter über das Sirenengeheul hinweg.
»Es ist alles in Ordnung, Mom, sie holen uns raus«, schrie ich zurück.
»Ja, ja, mein Schatz, aber nur für den Fall …«
Was meine Mutter sonst noch hatte sagen wollen, ging im Kreischen von auseinanderbrechendem Metall unter. Etwas bohrte sich in die verzogene Tür. Es sah aus wie die Schnauze eines riesigen Ungeheuers, und ich sah mit ehrfürchtigem Entsetzen zu, wie es seine Kiefer öffnete und einen gequälten Schrei ausstieß.
Später begriff ich, dass die Feuerwehr einen hydraulischen Rettungsspreizer einsetzte – ein sogenanntes Rettungsmaul -, um mich aus dem Wrack des Autos herauszuschneiden, und der Schrei, den ich hörte, war das Kreischen und Krachen des Metalls. Aber ich vergaß den Eindruck nie – für mich hatte dieses Vieh sein Maul aufgerissen und geschrien.
Als mich der Feuerwehrmann aus dem Auto zog, schrie ich auch, ich brüllte den Mann an, sofort zurückzugehen und meine Mutter zu holen. Wir hatten uns erst zehn Meter von dem Wagen entfernt, da explodierte er. Er verwandelte sich in einen Feuerball, dessen Hitzewelle uns nur knapp verschonte. Später erfuhr ich, dass meine Mutter vom stählernen Gestänge des zertrümmerten Lenkrads aufgespießt worden war. Sie hätte selbst dann nicht überlebt, wenn man sie noch hätte bergen können. Weil sie selbst das wohl ahnte, hatte meine Mutter den Feuerwehrmann beschworen, zuerst mich herauszuholen. Dennoch hatte ich stets das Gefühl, als hätte mich dieses schnappende, kreischende Ding, dieses »Rettungsmaul«, von ihrer Seite gerissen.
Einige Jahre später, im zweiten Studienjahr am FIT, entdeckte ich dann einen solchen Spreizer auf dem Müll und wusste sofort, was ich daraus machen wollte. Mit Kettengliedern und ausgemusterten Karosserieteilen fertigte ich zu Hause einen feuerspeienden Drachen daraus, den ich Riesenmaul nannte. Ich hatte geglaubt, es sei eine Katharsis, wenn ich meinen schlimmsten Alptraum in ein Kunstobjekt einfließen ließ. Denn ist nicht das der Sinn und Zweck von Kunst, Chaos und Schmerz zu nehmen und in etwas Bedeutungsvolles zu verwandeln? Wenn ich die Kreatur, die ich geschaffen hatte, nun ansah, dann zeigte sie mir nur noch, wie verängstigt ich in der Zeit nach dem Tod meiner Mutter gewesen war, als ich zudem noch fürchtete, dass mein Vater ins Gefängnis käme und ich damit gewissermaßen zur Waise würde. Und jetzt befand ich mich beinahe wieder in derselben Situation. Wenn Roman für schuldig befunden wurde, den Einbruch arrangiert zu haben, dann würde ich ihn verlieren, und er würde ins Gefängnis gehen. Wie lange konnte ein Mann seines Alters dort überleben? Gut, inzwischen war ich zehn Jahre älter als beim Tod meiner Mutter, aber den Gedanken an das Alleinsein konnte ich noch immer nicht ertragen.
Den Gedanken daran, eine Waise zu sein.
Die Worte waren in meinem Kopf, doch das Zischen stammte nicht von mir.
Es war die Stimme des Ungeheuers. Seine roten Reflektorenaugen sahen mich gehässig an, seine gezackten, rostfleckigen Zähne grinsten, als mache er sich über meine Hoffnung lustig, dass ich je stark genug sein würde, es allein zu schaffen.
Du bist ein seltener Vogel …, hatte meine Mutter mir stets gesagt.
Du bist eine lahme Ente, machte Riesenmaul daraus.
Einzigartig …
… eine Außenseiterin …
Du hast so viel erreicht …
… du stehst demnächst auf der Straße, pleite und allein …
Ich wandte mich von dem metallenen Monster ab und ging wieder zu meinem Arbeitstisch. In den beschlagenen Fensterscheiben erhaschte ich einen Blick auf mein Spiegelbild. Mein langes schwarzes Haar umrahmte struppig und zerrauft ein blasses, hageres Gesicht, und meine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Eine alte Hexe, zischte das Untier. Unentschlossen nahm ich den Gasbrenner zur Hand, den ich letzte Nacht verwendet hatte, und legte ihn dann wieder hin. Nein, er war zu klein. Ich brauchte das Schweißgerät. Ich würde das verdammte Ding zusammenschmelzen, zu einem Haufen Altmetall und Müll. Denn mehr war es nicht, es war keine Kunst. Es war mir nicht gelungen, aus dem Schmerz etwas Bedeutungsvolles zu destillieren, es gab keine Bedeutung, nur Chaos.
Also schob ich mir meine Schutzmaske über das Gesicht, zog die Handschuhe an und regulierte die Acetylen- und Sauerstoffzufuhr des Schweißbrenners. Dann kletterte ich auf den Tisch, löste die Skulptur von den Drähten, an denen sie hing, und ließ das Untier in seiner ganzen Länge von fast zwei Metern auf die Arbeitsplatte fallen. Sein Kopf wippte nickend auf den Kettengliedern des Halses, die scharfen, gezackten Zähne fuhren über meine Lederhandschuhe, und es machte ein scheußliches Geräusch, als es auf den Metalltisch krachte. Als ich wieder vom Tisch herunterkletterte, geisterte in meinem Hinterkopf der Gedanke herum, dass ich in meinem augenblicklichen, erschöpften und verwirrten Zustand keinen Schweißbrenner bedienen sollte, aber dieser Teil meines Gehirns war seltsamerweise wie ausgeschaltet, als wabere auch dort der Nebel herum, der sich gegen die Fenster drängte, und der sogar durch die kleine Lücke hereindrang, die Becky bei ihrem Versuch, mein Oberlicht zuzunageln, freigelassen hatte. Der Teil meines Gehirns, der nicht vernebelt war, wollte das Metallmonster zerstören. Ich packte die Kiefer des Untiers mit einer Zange und richtete die Spitze des Schweißbrenners auf die Kettenglieder, die am Kopf angebracht waren. Dem verdammten Ding musste als Erstes der Hals gebrochen werden. Funken stoben von dem sich erhitzenden Metall, flogen in hohem Bogen über seinen Kopf, verglühten auf den Glasaugen und leuchteten blutrot auf den nadelspitzen Zähnen. Nebel drang wie Rauch aus dem Maul. Kurz bevor das Kettenglied in zwei Teile zerbrach, blitzte etwas in seinen Augen auf. Es war, als ob das Untier lachte.
Die lange Kette, die seinen Hals gebildet hatte und nun vom Kopf getrennt war, rutschte zu Boden.
Verdammt! Zehn Kilo rostfreier Edelstahl landeten auf meinem Arbeitsstiefel, und ich brüllte auf. Reflexartig machte ich einen Schritt zurück und verfing mich dabei in der Kette. Als ich rücklings hinfiel, folgte mir der Gasbrenner wie eine Schlange über den Tisch. Er wand sich auf dem Boden und spuckte Flammen. Mit einem Ruck befreite ich meinen Fuß aus der Kette und rutschte ein Stück zurück. Auf dem Tisch wandte das Monster seinen Kopf.
Das ist doch nicht möglich, dachte ich in jener dumpfen Ecke meines Verstands, die nicht vor Angst gelähmt war, er hängt doch gar nicht mehr an der Kette. Aber genau so war es. Der Kopf wandte sich mir zu, die Augen glühten, und dann öffnete das Untier sein schreckliches Maul.
Mein Kopf prallte gegen die Sauerstoff- und Acetylenflaschen. Mühsam richtete ich mich ein wenig auf, wandte mich halb um – ich hasste es, diesem Ding den Rücken zuzukehren -, und dann gelang es mir, die beiden Gasflaschen abzudrehen.
Hinter mir zischte etwas. Als ich mich wieder umsah, lag der nun erloschene Brenner nur ein kleines Stück von der Kette entfernt auf dem Boden. Das Rettungsmaul hing über die Tischkante. Durch die Luft rieselten schwarze Ascheflocken, wie sie entstanden, wenn die Acetylenzufuhr zu hoch eingestellt war.
Draußen pulsierte der Nebel gegen das Fenster, als wolle er das Glas zerbrechen, aber dann zog er sich wieder zurück in die Nacht, wie ein verletztes Tier in seine Höhle.