Die roten Schuhe
020
Wir lagen beim Feuer, bis es zu Asche heruntergebrannt war, und hatten uns Wills Mantel als Decke übergeworfen. Ich lag auf der Seite, sein Körper schmiegte sich schützend an meinen Rücken, und seine Haut war wärmer als das Feuer, das vor mir brannte. Nun erzählte ich ihm, wie wir Dees Versteck gefunden hatten, und wie er Melusine und mich ins Wasser hinausgespült hatte, nachdem er verschwand.
»Körperlich muss er gar nicht wirklich da gewesen sein«, überlegte Will. »Ich habe über die Jahre festgestellt, dass er sich an verschiedene Orte projizieren kann. Er benutzt diese Stützpunkte als Beobachtungsposten.«
»Das heißt, wir sind auf unserer Suche nach ihm noch kein Stück weitergekommen?«
»Vielleicht sind in dem, was du gesehen hast, ein paar Hinweise auf seinen wahren Aufenthaltsort versteckt. Es ist beachtlich, dass du überhaupt einen seiner Posten entdeckt hast.«
»Wir haben dafür einen hohen Preis bezahlt«, seufzte ich und schilderte, wie ich Melusine auf die Insel gezogen hatte und sie dort zerflossen war, und dass ich eine Vision von Marguerite gehabt hatte, die an einem kleinen Teich kniete und zu Melusine hinuntersah. Dann zeigte ich ihm die Mineralwasserflasche, die nun Melusines Essenz enthielt.
»Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie Schwestern waren«, meinte Will. »Marguerite hat mir nur sehr wenig über ihre Herkunft verraten, aber es würde erklären, wieso …« Er verstummte mitten im Satz und schwieg so lange, dass ich schließlich den Kopf wandte, um ihn anzusehen. Er starrte zum Himmel hinauf, sah aber so aus, als blickte er auf Bilder, die noch viel weiter entfernt waren als die Sterne.
»Was erklären?«, fragte ich schließlich.
»Erinnerst du dich, dass ich dir erzählte, ich sei Marguerite damals nach Frankreich gefolgt?« Ich nickte, obwohl er mich immer noch nicht ansah. Aber er brauchte meine Antwort nicht, denn er war schon mitten in der Geschichte. »Nachdem sie London verlassen hatte, suchte ich ihr früheres Quartier auf. Dort fand ich ein Gemälde, das eine alte Kirche in Paris zeigte. Es war der einzige Hinweis, den ich hatte, also reiste ich dorthin. Wochenlang suchte ich die Kirche immer wieder auf und hoffte, sie würde kommen, aber sie erschien nicht. Ich wollte schon aufgeben, da erhielt ich ein Zeichen, das mich an einen anderen Ort führte. Dort würde sie nun sein, dachte ich, aber stattdessen fand ich ein weiteres Zeichen … das mich an einen weiteren Ort geleitete. Damals glaubte ich, sie hätte diese Hinweise für mich zurückgelassen und eine Art Schnitzeljagd für mich vorbereitet, mit der ich ihr meine Liebe beweisen sollte, und sobald ich sie gefunden hätte, würde sie einlenken und mir die Unsterblichkeit gewähren. Ich folgte ihr durch ganz Frankreich. Einer der Orte, an den mich ihre Spuren führten – nicht der letzte, aber in dessen Nähe -, war das Schloss von Lusignan, die legendäre Heimat Melusines.«
»Glaubst du, dass sie dieses Zeichen hinterließ, weil sie mit Melusine verwandt war?«, fragte ich.
»Schon möglich«, erwiderte er. »Einige der Orte, an die ich geführt wurde, waren Quellen … oft heilige Quellen, in deren Nähe eine Kirche gebaut worden war. Schließlich fand ich Marguerite in einem Turm an einem heiligen Weiher, in dem ein Geschöpf lebte, das in der Lage war, das ewige Leben zu verleihen – oder es wieder zu nehmen. Ich vermute, dass auch dieses Geschöpf eine ihrer Schwestern war.«
Wieder musste ich an meine Vision denken, in der Marguerite am Ufer stand und ein Wesen herbeirief, das sie zu einer Sterblichen machen konnte. »Ich glaube, von diesem Ort habe ich geträumt«, sagte ich.
»Ich träume jeden Tag davon, sobald ich bei Morgengrauen die Augen schließe. Es war der letzte Ort auf Erden, an dem ich jemals glücklich war. Drei Tage verbrachte ich dort mit Marguerite und war überzeugt, die Quelle der ewigen Jugend gefunden zu haben.« Er lachte voll Bitterkeit, und mir wurde plötzlich kalt. »In der dritten Nacht hieß sie mich, im Turm zu bleiben, während sie die Nacht am See verbrachte. Als sie zurückkam, war sie völlig erschöpft und fiel sofort in tiefen Schlaf. Während sie schlief, stahl ich ihr das silberne Kästchen und den Ring und brachte sie zu John Dee. Ich dachte, ich müsse das tun, um unsterblich zu werden und ewig mit ihr leben zu können.«
»Aber sie war schon sterblich geworden«, schloss ich. »Es muss in jener Nacht geschehen sein, dass sie das Geschöpf aus dem See herbeirief, um die Sterblichkeit zu erlangen. So war es in meiner Vision. Ich fühlte, wie viel Angst sie hatte, aber sie tat es, weil sie dich liebte.«
Zum ersten Mal, seit er seine Geschichte zu erzählen begonnen hatte, sah er mich an. »Du musst mich für einen Narren halten.«
»Wir alle tun närrische Dinge«, sagte ich. »Mir scheint, du hast für deine Fehler mehr – und länger – als die meisten anderen Menschen leiden müssen.«
Er lachte. »Ja, das ist auch eine Betrachtungsweise. Jene Nacht, in der sie mich in Paris aufspürte und erzählte, sie habe die Unsterblichkeit für mich aufgegeben und sich dafür verpflichtet, meinesgleichen zu vernichten, war der schlimmste Augenblick meines Lebens. Ich habe Jahre – Jahrzehnte – damit verbracht, nach ihr zu suchen. Monatelang habe ich in der Kirche ausgeharrt, in der ich zuvor das erste Zeichen von ihr fand, aber mir wurde keins mehr zuteil. Marguerite hatte mir gesagt, dass sich der Pfad zum Sommerland ständig wandelte und man ihn nur finden würde, wenn man in einer Kirche anfinge und dann den Zeichen folgte. Dennoch versuchte ich den kleinen See zu finden, an dem wir die drei Nächte verbrachten, doch umsonst. Es war, als habe er nie existiert. Manchmal dachte ich wirklich, ich sei verrückt geworden. Ich fragte mich, ob ich mir Marguerite nur im Traum eingebildet hatte.« Er umschloss mein Gesicht mit seinen Händen und sah mir in die Augen. »Als du in meine Wohnung kamst, hatte ich zum ersten Mal seit vierhundert Jahren ein Gefühl der Hoffnung – Hoffnung, dass ich wieder sterblich werden könnte.«
Seine Augen brannten in meinen, aber die Hand, die an meinem Gesicht lag, war kalt. Mein Blut kühlte in seinen Adern schon wieder ab. Schon bald würde er sich wieder so eisig anfühlen wie ein Grab. Die Vorstellung, dass er derart litt, war unerträglich.
»Gibt es einen Grund, weshalb du dich nicht …« Ich suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Weshalb du dich nicht weiterhin von mir ernähren kannst?«
Er strich mein Haar von meinem Hals und legte seine Lippen auf die frischen Wunden. »Es würde für mich jedes Mal schwerer werden, nicht immer mehr und mehr zu trinken. Ich bin jetzt schon süchtig danach, wie du schmeckst.« Seine Zunge fuhr über die Bissspuren, und ein Kribbeln lief über meine Haut und setzte sich in meinen Adern fort. »Und je mehr ich von dir trinke, desto abhängiger wirst du von dem Gift, das ich in deinen Körper schicke. Für den Augenblick heilt es den Biss und stillt den Schmerz, aber es ist wie mit einem Opiat – du wirst immer mehr und mehr davon haben wollen. Leider gehen intime Beziehungen zwischen Vampiren und Menschen für den Sterblichen meist nicht gut aus.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein würde, nie wieder bei Tageslicht draußen sein zu können, nach Blut zu jagen und ewig zu leben. Letzte Nacht war mir das noch gar nicht so schlecht erschienen, aber seitdem hatte ich einen Einblick in Melusines Bewusstsein gehabt und erfahren, wie müde sie des ewigen Lebens war. In dem kurzen Blick, den ich auf Marguerite hatte werfen können, als sie am Schwanenweiher stand (wie ich das Gewässer inzwischen insgeheim nannte), hatte ich ihre Bereitschaft gespürt, die Unsterblichkeit für eine Lebensspanne mit dem Mann, den sie liebte, aufzugeben.
»Wenn ich Dee die Schatulle abnehmen kann, könntest du sie benutzen, um sterblich zu werden?«, fragte ich.
»Ich denke, ja … allerdings würde deinem Freund Oberon diese Vorstellung nicht gefallen. Er hat mir immer vorgeworfen, ich sei schuld gewesen, dass Marguerite die Sterblichkeit wählte. Er will nicht, dass ich das Kästchen in die Hände bekomme – nicht einmal für eine Sekunde.«
Ich musste daran denken, was Dee über Oberon gesagt hatte – dass er die Schatulle für sich selbst haben wollte, um das Menschengeschlecht zu kontrollieren und die Unirdischen wieder zu alter Macht erstarken zu lassen. »Nun, er wird das nicht entscheiden«, sagte ich und drückte Wills Hand, die an meinem Gesicht lag. »Wenn er mich braucht, um das Kästchen zu bekommen, dann wird er darauf Rücksicht nehmen müssen, was ich damit tun will. Und ich will«, fuhr ich fort und drückte meine Lippen gegen Wills, »das hier noch einmal und immer wieder tun können.«
»Noch einmal?«, fragte er und strich über die Rundung meiner Hüften. »In dieser Geschwindigkeit wirst du in einer Woche zum Vampir.« Er schlang die Arme um mich und zog mich fest an sich. »Wir sollten diese Schatulle schnell finden.«
 
Zwar konnte ich keine Veränderung am Himmel erkennen, aber Will wusste, wann der Morgen nahte. »Wir müssen gehen«, erklärte er. »Mir bleibt gerade noch genug Zeit, um dich zurückzubringen.«
Das Feuer war heruntergebrannt, aber die vier Spiralaugen glühten noch im Gras. Zunächst wusste ich nicht recht, wie ich sie löschen sollte, aber dann bewegte ich einfach meine Hand über ihnen hin und her, und das Silber verblasste zu Grau und dann zu Weiß, verwandelte sich in Nebel und hinterließ keine Spuren auf dem Gras. Dann nahm ich die Wasserflasche, die Melusines Überreste enthielt, und als ich mich dann an Will wandte, wurde mir bewusst, dass ich mir bisher noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er mich nach Hause bringen wollte.
»Das Boot liegt gleich um die Ecke«, sagte er.
»Ein Boot?«, fragte ich verblüfft. »Ich wusste nicht, dass du mit einem Boot gekommen bist.«
»Wie ich vielleicht schon einmal erwähnte, fliege ich nicht. Aber ich habe ein Boot im Sporthafen an der West 79th Street liegen, und das ist sehr schnell.«
Als wir den Anleger erreichten, begriff ich, was er damit meinte. Es war offensichtlich, dass diese schnittige Motoryacht für größtmögliche Geschwindigkeit konzipiert worden war. Selbst jetzt, da es festgemacht war, schaukelte sie ungeduldig auf den Wellen. Am Bug stand der Name Marguerite.
Will half mir an Bord und ging als Erstes in die Kajüte hinunter. Wenig später kehrte er mit einer Jeans und einem gestreiften Seemannspullover zurück, den ich über sein Hemd zog. Dann tätigte er einen Anruf auf seinem Mobiltelefon, bevor er die Leinen loswarf und das Boot in die Bucht hinaussteuerte. »Ich habe meinem Fahrer gesagt, er soll an den Chelsea Piers auf uns warten. Von dort wird er dich nach Hause bringen. Es tut mir leid, aber ich werde dich nicht begleiten können.«
»Du bist sehr altmodisch«, sagte ich lachend und ließ mein Haar in der frischen Salzbrise flattern. »Ich werde wohl keine Eskorte brauchen.«
»Du hast Dee an einem seiner Beobachtungsposten aufgestöbert. Er weiß, dass du ihm näher kommst. Wenn er merkt, dass du noch lebst, wird er dich zu töten versuchen, bevor du ihn noch einmal aufspüren kannst. Mir gefällt der Gedanke gar nicht, dass du allein zu Hause bist.«
»Ich werde nicht allein sein. Mein Freund Jay ist dort.« Ich lachte. »Aber wahrscheinlich ist er nicht gerade der beste Schutz.«
Will schüttelte den Kopf. »Dein Freund Jay mag dich sehr«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, dass er dich mit seinem Leben verteidigen würde – allerdings fürchte ich, dass er John Dee letzten Endes nicht allzu viel entgegenzusetzen hätte.«
 
Wills Worte kamen mir wieder in den Sinn, als ich zu Hause ankam. Ich rief nach Jay, während ich in den ersten Stock hinaufging, und meine Stimme hallte hohl durchs Treppenhaus. Im Wohnzimmer, im Schlafzimmer und auch in dem kleinen Raum, den mein Vater als Arbeitszimmer nutzte, war niemand. Die Tür zum Bad war geschlossen.
»Jay?«, rief ich laut und klopfte an die Tür. »Bist du da drin?« Durch meinen Kopf geisterten Bilder, wie Jay in der Badewanne einschlief und unter Wasser rutschte, und mit feuchten Händen drückte ich die Klinke. Mein erster Blick galt der altmodischen Wanne mit den Klauenfüßen. Der Duschvorhang war weit genug zurückgezogen, um mich gleich zu überzeugen, dass sie leer und trocken war. Allerdings musste vor kurzem noch jemand gebadet haben, denn auf dem Boden lag ein Knäuel nasser Handtücher … Hatte Jay seine eigenen Handtücher mitgebracht? Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Vater nur weiße Handtücher benutzte und keine mit Blumenmuster in Rot und Pink. Sie waren triefnass. Nun sah ich, dass sich der Duschvorhang leicht bewegte, als ihn die Zugluft vom offenen Fenster über der Wanne erfasste, das halb verdeckt war. Vielleicht hatte es hereingeregnet … obwohl letzte Nacht zumindest auf Governors Island kein Tropfen gefallen war … und Jay hatte mit den Handtüchern den Boden aufgewischt.
Ich schloss das Fenster und kniete mich dann hin, um die Tücher aufzuheben. Das Blumenmuster in meiner Hand verwandelte sich in Blutflecken. Entsetzt sah ich auf den Boden. Die Fliesen waren blutverschmiert, selbst die Fugen waren rot.
Mit wild klopfendem Herzen stand ich auf und verließ das Bad, das blutige Handtuch noch immer in der Hand. Hastig lief ich zum Telefon, das im Wohnzimmer meines Vaters stand. Erst wollte ich einen Krankenwagen rufen, doch als ich den Hörer abhob, ging mir auf, dass ich keinen Notruf wegen einem blutigen Handtuch tätigen konnte. Auf dem Telefon blinkte die Nachrichtenanzeige. Mit zitternden Fingern drückte ich die »Play«-Taste. Die digitale Stimme des kleinen Apparats verkündete zweiundzwanzig neue Nachrichten.
Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus, als ich Jays Stimme hörte. Es geht ihm gut, dachte ich, als ich seinen typischen, umständlichen Uhs und Ahs lauschte, vielleicht hat er sich nur beim Rasieren geschnitten oderoder sonst was … und er wollte anrufen, damit ich mir keine Sorgen machte, wenn ich das ganze Blut im Badezimmer sah. »Äh … Garet … ich hab’s schon auf deinem Handy probiert … äh, hier ist Jay.« Der gute Jay war Meister im großen Drumherumreden. Er hatte mir einmal eine fünfzehn Minuten lange Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen, um mir die Handlung eines Stummfilms zu schildern, den er gerade in seinem Filmseminar gesehen hatte. »Aber wahrscheinlich hast du die ganzen Nachrichten gar nicht abgehört, sonst hättest du dich ja sicher gemeldet. Also, wenn du das hier hörst …« Ein Geräusch im Hintergrund unterbrach ihn; es klang wie eine Lautsprecherdurchsage in einem hallenden Flur. »Ja, also … äh … du solltest so bald wie möglich hierherkommen.« Damit war die Nachricht zu Ende.
»Wo ist hier, Jay?«, brüllte ich, während ich darauf wartete, dass die nächste Nachricht abgespielt wurde. Es war noch einmal Jay.
»Hey Garet, als ich aufgelegt hatte, ist mir eingefallen, wenn du meine anderen Nachrichten nicht bekommen hast, dann weißt du ja gar nicht, wo ich bin oder was passiert ist. Also, ich bin im St. Vincent’s. Es geht um Beck …« Seine Stimme brach, als er ihren Namen sagte. »Sie hat versucht sich umzubringen. Bitte komm, so schnell du kannst.«
 
Ich rannte zum Krankenhaus, ohne mich vorher auch nur umzuziehen. Erst, als ich im Fahrstuhl stand und zur Psychiatrischen Abteilung hinauffuhr, wo Becky lag, wie man mir an der Information gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich roch wie der East River und dass ein schlickiger Gestank von mir ausging, der irgendwie perfekt zu meiner ganzen Situation zu passen schien. Ich ging langsam unter. Dee hatte erst meinen Vater erwischt und sich dann meine beste Freundin vorgenommen. Wer käme als Nächster an die Reihe? Würde ich alle und jeden verlieren, wenn ich weiter versuchen würde, ihn aufzuhalten?
Ich fand Beckys Zimmer, aber als ich eintrat, war ich zunächst überzeugt, mich in der Tür geirrt zu haben. Die Person, die dort im Bett lag, konnte nicht Becky sein. Sicher, meine Freundin war nicht groß, aber der Körper dieser Kranken hier zeichnete sich fast gar nicht unter den sorgsam festgesteckten Laken ab. Und wann hatte Becky je so still dagelegen? Ich hatte oft genug, wenn wir beieinander übernachteten, mit ihr ein Bett geteilt und mich vor ihren Tritten in Sicherheit bringen müssen, weil sie so unruhig schlief. Diese Kranke hier hatte sich flach auf dem Rücken ausgestreckt, die weiß umwickelten Arme lagen links und rechts auf der Decke wie übergroße Wattestäbchen. Selbst ihr Haar, das normalerweise wie elektrisch geladen abstand, lag schlaff und tot auf der weißen Krankenhausbettwäsche.
Aber dann erkannte ich die zusammengesunkene Gestalt auf dem Stuhl neben dem Bett. Es war Jay. Als er mich sah, sprang er sofort auf – Jay, der normalerweise eher durchs Leben schlich, sprang auf und drückte mich an sich.
»Garet, Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dir wäre auch etwas passiert.«
»Mir geht es gut. Ich habe mein Telefon verloren … und konnte gestern Nacht nicht mehr nach Hause kommen … Verdammt, Jay! Was ist passiert? Wird sie durchkommen? Ist sie bewusstlos, seit …« Ich sah auf Beckys dick bandagierte Unterarme. Die Verbände reichten bis zu ihren Ellenbogen.
»Sie war schon völlig weg, als ich sie fand«, berichtete er. »Die Sanitäter sagten, sie hätte sehr viel Blut verloren, aber sie hat dann eine Transfusion bekommen und kam danach kurz zu sich.«
»Du hast sie gefunden?« Ich sah Jay prüfend an. Er war im Biologieunterricht umgekippt, als wir uns in den Finger stechen mussten, um unsere Blutgruppe zu bestimmen. Dann fiel mir auf, dass die Knie seiner Jeans dunkle Flecken aufwiesen und die Manschette seines karierten Flanellhemds rot verschmiert war. »Oh, Jay, es tut mir so leid. Was ist passiert?«
Er schüttelte den Kopf, und sein Haar fiel strähnig über seine blassen Wangen. Seine Augen waren tief umschattet. »Letzte Nacht kam sie vorbei, weil sie über den Plattenvertrag reden wollte. Erst dachte ich, sie wollte einfach weiter mit mir diskutieren, aber sie war eher … zerknirscht.«
»Zerknirscht? Becky?«
»Ja, ich weiß. Es war ganz komisch. Sie hatte eine Flasche Wein dabei und sagte, es täte ihr furchtbar leid, dass sie mich wegen des Vertrags hätte unter Druck setzen wollen. Dann meinte sie, es würde ja auch keine Rolle spielen, und ein großer Plattenvertrag sei es nicht wert, dass wir dafür unsere Freundschaft aufs Spiel setzten. Und dass es völlig in Ordnung wäre, wenn wir den Rest des Lebens damit zubringen würden, als Aufwärmer für größere Bands zu spielen und in kleinen Käffern aufzutreten. Wir machten die Flasche leer und schauten ein bisschen Fernsehen … es lief der Film Die roten Schuhe, und das war irgendwie komisch, weil der in der Programmzeitung gar nicht aufgeführt war. Aber Becky war total begeistert und sagte, es sei ihr Lieblingsfilm. Sie bestand sogar darauf, dass wir ihn für dich aufnehmen. Dann öffnete sie noch eine Flasche Wein, die wir bei deinem Dad im Schrank gefunden hatten, und wir haben Popcorn in der Mikrowelle gemacht. Es war schön … wie früher, als wir noch zur Highschool gingen, lange aufgeblieben sind und alte Filme geschaut haben. Draußen kam Nebel auf, und Becky meinte, das Wetter wäre richtig gemütlich …«
»Nebel? Da, wo ich war, gab es keinen Nebel«, sagte ich und erinnerte mich an den klaren Himmel über Governors Island.
Jay warf mir einen seltsamen Blick zu. »Keine Ahnung, wo du letzte Nacht gewesen bist, aber hier im Village war es total neblig. Wir konnten nicht mal mehr aus den Fenstern sehen. Becky meinte, es sei gut, dass wir keinen Horrorfilm schauten …. allerdings hatten wir vergessen, wie unheimlich der Film ist. Du kennst doch die Szene, wo das Mädchen in der Geschichte die roten Schuhe anzieht und tanzt, bis sie tot umfällt? Na ja, Becky meinte, manchmal hätte sie das Gefühl, sie würde diese roten Schuhe tragen und würde sich wünschen, sie könnte aufhören … aufhören mit den Tourneen, den Promogeschichten für die Band, den ständigen Gedanken daran, ob wir nun den großen Durchbruch schaffen oder nicht. Einfach aufhören. Und als dann die Szene kam, wo sich Moira Shearer vor den Zug wirft, habe ich gemerkt, dass Becky weint. Da hätte mir schon klar sein sollen, dass etwas mit ihr nicht stimmt, aber irgendwie war ich total müde. Ich fühlte mich, als hätte ich mir wie Moira Shearer die Füße wundgetanzt. Dann bin ich auf dem Sofa eingeschlafen, und als ich wieder aufwachte, war Becky nicht mehr da. Fast wäre ich wieder eingedöst, aber dann habe ich ein Geräusch aus dem Bad gehört. So ein leises tapp, tapp, tapp. In meinem Kopf ging alles durcheinander, ich dachte, es sei die Ballerina aus der Geschichte … die tanzte. Es war so nervig, dass ich schließlich aufstand und nachsehen ging …«
Er barg das Gesicht in den Händen, als könne er sich so vor der Erinnerung an das, was er im Bad entdeckt hatte, schützen.
»Das Geräusch kam von dem Duschvorhang, der sich im Wind bewegte und gegen die Wanne schlug. Becky muss das Fenster geöffnet haben – ich war mir ziemlich sicher, dass es vorher geschlossen war. Vielleicht hatte sie darüber nachgedacht, aus dem Fenster zu springen, allerdings hätte nicht einmal sie durch die kleine Öffnung gepasst. Dann fand sie aber wohl eine Rasierklinge im Spiegelschrank. Sie hat den Boden mit Handtüchern ausgelegt, damit das Blut nicht auf die Fliesen läuft. Du weißt, wie ordentlich sie immer ist …« Jay holte angestrengt Luft. Ich schlang den Arm um ihn und tätschelte beruhigend seinen Rücken, bis er wieder sprechen konnte. »Die Handtücher habe ich dann ganz fest um ihre Handgelenke gewickelt und sofort den Notarzt angerufen. Die Sanitäter sagten, eine halbe Stunde später wäre sie tot gewesen. Wenn ich nur daran denke, dass ich mich beinahe noch einmal umgedreht hätte, um weiterzuschlafen …«
»Aber, Jay, das hast du nicht! Du bist aufgestanden und hast sie gerettet.« Ich wusste nicht, wie ich Jay erklären sollte, mit welchen Kräften er gerungen hatte, als er wach zu bleiben versuchte. Denn ich konnte es mir nur so erklären: Der Nebel, den Becky in die Wohnung gelassen hatte, musste sie dazu verleitet haben, sich das Leben zu nehmen, während er Jay so müde gemacht hatte, dass er nichts merkte. »Und es ist nicht deine Schuld, dass sie das getan hat …«
»Es ist meine Schuld …« Die Stimme kam vom Bett. Jay und ich wandten den Kopf und sahen, dass Beckys Augen offen waren. Sie wirkten riesig in ihrem weißen Gesicht. »Es tut mir so leid …«
»Es ist okay, Becky.« Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante und ergriff ihre Hand. Die Finger fühlten sich schlaff und kalt an. Die übergroßen Augen in dem blassen Gesicht erinnerten mich an Melusine, kurz bevor sie auf dem Felsen zerflossen war. Fest drückte ich Beckys Hand, als könnte ich so verhindern, dass sie mir ebenfalls entglitt. »Du hast nicht gewusst, was du tust.«
Becky leckte sich die trockenen, gesprungenen Lippen. »Habe ich aber. Ich dachte einfach, es wäre der leichtere Weg … ich hatte es so satt, mich gegen so viele Widerstände durchzubeißen. Ich meine, wem wollte ich denn eigentlich was vormachen, wenn ich so tat, als würde mal ein Rockstar aus mir werden? Ich hätte Jura studieren sollen, so wie meine Mutter es immer wollte … Oh, Scheiße! Ist meine Mutter hier? Weiß sie es schon?«
»Sie ist auf dem Weg von Fort Lauderdale hierher«, sagte Jay. »Tut mir leid, Becky. Ich musste sie anrufen.«
Tränen rollten Becky über die Wangen. Ich zog ein Taschentuch aus der Spenderbox auf dem Nachttisch und tupfte sie ab. »Das wird sie umbringen. Was habe ich mir nur dabei gedacht?«
»Du hast gar nicht gedacht, Süße. Du standest …« Unter einem Bann, hätte ich beinahe gesagt, aber ich beherrschte mich. »Du standest unter viel zu großem Druck. Du brauchst Ruhe … und ein bisschen Unterstützung … und dann wird es schon besser werden. Das verspreche ich.«
Becky nickte, aber ihre Augen fielen ihr schon langsam wieder zu. Ich blieb bei ihr sitzen, hielt ihre Hand und versuchte darüber nachzudenken, wie ich dieses Versprechen wohl halten wollte.
 
Den größten Teil des Vormittags blieb ich bei Becky und wechselte mich mit Jay dabei ab, über sie zu wachen. Als er mich ablöste, ging ich zu meinem Vater. Ich bekam einen Schreck, als ich in sein Zimmer trat und es leer vorfand, aber dann kam eine Schwester herein und erklärte, mein Vater und sein Freund seien in den Aufenthaltsraum gegangen. Ich eilte den Flur hinunter und fand Roman in einem Rollstuhl, wie er mit Zach und zwei Chinesinnen, die er mir als Minnie und Sue vorstellte, Bridge spielte. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und lächelte. Nachdem sie die Runde beendet hatten, nahm ich Zach beiseite und erzählte ihm von Becky.
»Die Ärmste«, sagte Zach und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, sie stand unter großem Druck.«
»Tat sie das?«, fragte ich, fuhr aber gleich fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Ich weiß nicht, ob wir es Roman sagen sollten. Ich habe Angst, dass es ihn an Santés Selbstmord erinnern wird.« Im gleichen Augenblick wurde mir klar, dass ich schon Zach gegenüber nichts davon hätte erwähnen sollen. Gerade bei ihm hatte ich immer gefürchtet, dass er Selbstmordgedanken hegte. Aber obwohl ihn die Ereignisse offenbar sehr traurig stimmten, blieb Zach bemerkenswert ruhig.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte er. »Es ist wirklich eine ähnliche Geschichte. Santé hat sich am Vorabend seiner größten Vernissage umgebracht, und Beckys Band steht auch gerade kurz davor, den großen Durchbruch zu schaffen.« Er lächelte wehmütig. »Manchmal denke ich, es ist leichter, eine verkrachte Existenz zu sein.«
Die Bemerkung verblüffte mich. In all den Jahren, in denen Zach keinen Pinsel mehr zur Hand genommen hatte, war ich stets davon ausgegangen, dass ihm die Inspiration fehlte. Nie war ich darauf gekommen, dass er sich vor Seelenschmerz zu bewahren versuchte, indem er sich nicht zu sehr seiner Sache verschrieb.
»Du bist keine verkrachte Existenz, Zach«, sagte ich und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du bist … du gehörst zur Familie. Ich weiß nicht, was ich in den letzten Tagen ohne dich gemacht hätte.«
Zachs Augen wurden groß und begannen zu glänzen. Erst fürchtete ich, er würde in Tränen ausbrechen, aber dann richtete er sich gerade auf und schüttelte die in sich zusammengesunkene Haltung ab, die sonst so typisch für ihn war. »Mach dir um Roman und Becky keine Sorgen«, sagte er. »Ich werde sie beide im Auge behalten. Und du tust, was du eben tun musst. Ich halte hier die Stellung.«
 
Trotz Zachs Versicherung ließ ich Becky nur sehr ungern allein, aber um elf überbrachte mir eine Schwester eine Nachricht von Oberon. »Komm um zwei Uhr zur Treppe vor der City Hall. Zieh deine Schweißer-Arbeitskleidung an.«
Meine Arbeitskleidung? Dann fiel es mir ein: Das einzige Element, von dem ich noch keinen direkten Vertreter getroffen hatte, war das Feuer. Will hatte gesagt, dass sich Oberon die gefährlicheren Lehrer für den Schluss aufheben würde. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was gefährlicher sein könnte, als vom Empire State Building zu springen oder in molekularer Form durch die Wasserversorgung der Stadt zu schwimmen, aber ich wusste, dass ich für das, was auf mich zukam, besser gewappnet sein würde, wenn ich noch etwas Schlaf bekam.
Doch was mich dann wirklich aus dem Krankenhaus vertrieb, war der Anblick von Joe Kiernan. Ich kam gerade aus der Cafeteria zurück, als ich sah, wie er in Beckys Zimmer ging. Sofort blieb ich auf dem Flur stehen und winkte Jay zu mir, als er wenig später aus dem Krankenzimmer trat.
»Was macht der denn hier?«, fragte ich. »Glaubt er, dass es etwas mit dem Einbruch zu tun hat, was Becky passiert ist?«
Jay starrte mich an. »Wieso sollte er?«, fragte er. Dann zuckte er mit den Schultern. »Er war vorhin schon einmal da. Angeblich nur aus reiner Freundschaft und um zu sehen, wie es Becky geht.«
Zwar unterstellte ich Detective Kiernan, dass er nichts ohne eine bestimmte Absicht tat, aber ich konnte mir auch nicht vorstellen, wie er eine Verbindung zwischen Beckys Selbstmordversuch und John Dee hätte ziehen sollen – und erklären wollte ich ihm das ganz sicher nicht. »Behalte ihn lieber im Auge«, sagte ich Jay. »Ich muss eine Weile nach Hause.«
Jay nickte. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen – du fängst an, ein wenig paranoid zu klingen.«
 
Zu Hause ging ich als Erstes ausgiebig unter die Dusche, allerdings im Bad im zweiten Stock; Dads Badezimmer würde ich vermutlich eine ganze Weile nicht benutzen. Dann nahm ich mir Jogginghosen und ein altes T-Shirt aus dem Schrank, und darüber zog ich aus einer Laune heraus Wills Hemd. Als ich mich dann aufs Bett legte, hörte ich wieder Jays Stimme, die mir schilderte, was letzte Nacht passiert war.
Becky und ich hatten Die roten Schuhe mit sechzehn bei einem Filmfestival im Forum gesehen. Sie war so begeistert, dass sie mich drängte, den Film gleich anschließend noch ein zweites Mal anzuschauen, und dann ging sie später sogar in eine dritte Vorstellung. Zwar hatte mir der Streifen auch gefallen, aber ich fand es damals seltsam, dass sie eine derartige Besessenheit entwickelte. Es war schon komisch, dass er ausgerechnet gestern Abend im Fernsehen gelaufen war, obwohl er nicht im Programmheft stand. Becky war total begeistert und bestand sogar darauf, dass wir ihn für dich aufnehmen.
Ich erhob mich aus dem Bett und schlich barfuß hinunter in den ersten Stock. Als ich die Tür zur Wohnung meines Vaters öffnete, schlug mir der kupferartige Geruch von Blut entgegen. Beinahe hätte ich die Tür wieder zugeschlagen und wäre die Treppe hinaufgeflüchtet, aber ich zwang mich, zum Sofa zu gehen und mich vor den Fernseher zu setzen. Auf dem Couchtisch standen zwei offene Flaschen, zwei leere Gläser und eine große Schüssel. Ich nahm die eine Weinflasche und las das Etikett: Woop Woop, ein australischer Shiraz, den es in der Weinhandlung an der Hudson Street gab und den Becky gern kaufte, weil er billig war und sie so gern den Namen aussprach. Das war sicherlich die Flasche, die sie mitgebracht hatte. Nun nahm ich die andere zur Hand, die sie Jay zufolge bei meinem Vater im Schrank gefunden hatten. Sie war so verstaubt, dass ich das Etikett abwischen musste, um es zu lesen. Le Vin du Temps Perdu. Der Wein verlorener Zeit. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Vater keine solche Flasche gekauft hatte, aber wie könnte es Dee gelungen sein, sie ins Haus zu schmuggeln? Hatten die Schattenmänner sie vielleicht während des Einbruchs hier abgestellt? Als ich die Flasche anhob, stellte ich fest, dass noch ein Rest darin war. Langsam goss ich ein paar Zentimeter der roten Flüssigkeit in eines der leeren Gläser und schnupperte daran. Ein schweres Aroma mit einem Hauch von Schokolade und Zimt stieg auf. Bevor ich mir selbst sagen konnte, dass das keine gute Idee war, nahm ich einen Schluck.
Der Wein war so trocken, dass er zu verdampfen schien, sobald er meine Zunge berührte, und sich dann in einen Nebel verwandelte, der meinen Mund füllte … einen Nebel, der nach Schokolade und Lavendel und einem undefinierbaren Gewürz schmeckte. Ich nahm einen zweiten Schluck und versuchte, den Geschmack auf der Zunge zu spüren, bevor er verdampfte. Als ich die Augen schloss, stand ich auf einem Weinberg in Südfrankreich. Die Sonne wärmte meine Haut, und Lavendelgeruch lag in der Luft …
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen wieder und schob das Weinglas weg. Le Vin du Temps Perdu, tatsächlich! Keine Frage, Alkohol war gefährlich! Und Becky hatte eine ganze Flasche davon getrunken … während sie einen Film sah, der gar nicht hätte laufen sollen.
Ich sah mich nach der Fernbedienung um und fasste unter alle Sofakissen, bis ich sie fand. Dann schaltete ich den Fernseher an und rief das Menü des Festplattenrekorders auf. Die neueste Aufnahme war laut der Anzeige Leoparden küsst man nicht mit Katherine Hepburn und Cary Grant, aber es war die Einzige, die von letzter Nacht stammte, also wählte ich sie aus und drückte auf Play. Die Werbung für eine DVD-Box von Turner Classic Movies spulte ich ein wenig vor, bis ich Robert Osborne auf dem Bildschirm sah, den Filmkritiker des Senders. Er stand vor dem gemauerten Kamin eines Raumes, der mit seinen Ölgemälden und den dick gepolsterten roten Sesseln an ein Herrenzimmer erinnerte. Becky und Jay hatten sich die Anmoderation sicherlich auch angesehen, denn Jay liebte Robert Osborne und konnte die aalglatte Art, mit der er die Filme ansagte, hervorragend nachahmen. Ich drückte auf Play.
»Hallo, ich bin Robert Osborne, und heute Abend sehen wir …« Der Bildschirm flackerte für den Bruchteil einer Sekunde, und Robert Osbornes breites, freundliches Gesicht erstarrte kurz. Seine schwerlidrigen Augen (Man sieht dem echt an, dass er die meiste Zeit seines Lebens in dunklen Kinos gesessen hat, sagte Jay immer) schienen sich zu verdüstern. »… heute Abend sehen wir Die roten Schuhe, einen Film von Michael Powell und Emeric Pressburger, mit der unvergleichlichen Moira Shearer in der Rolle der unglücklichen Ballerina Victoria Page und dem unvergleichlich charmanten Anton Walbrook als diabolischen Impresario Boris Lermontov.«
Ich beugte mich ein wenig näher zum Fernseher. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Ton. Robert Osbornes Worte passten nicht zu seinen Mundbewegungen. Oder vielleicht war ich auch nur müde. Ich zog mir eine alte Wolldecke über die Knie, kuschelte mich ins Sofa und ließ mich von Osbornes einschmeichelnder Stimme einlullen, während er erklärte, dass die Filmproduzenten damals ein Manifest für die Macht der Kunst hatten erschaffen wollen. Hingebungsvoll beschrieb er, wie der diabolische (das Wort benutzte er mehrfach) Lermontov Vicky Page in den Selbstmord trieb.
Komisch, dachte ich, normalerweise verrät Robert Osborne vorab gar nicht so viel von der Handlung. Aber es störte mich nicht weiter, da ich den Film schließlich sowieso schon kannte. Allerdings hatte ich schon wieder vergessen, wie halluzinatorisch und lebendig die Traumsequenzen ausfielen, in denen Vicky Page die Geschichte eines Mädchens nachspielte, das ein paar rote Schuhe anzieht, die von einem geheimnisvollen Schuhmacher gefertigt wurden, und sich dann zu Tode tanzt. Es war geradezu psychedelisch … und sehr freudianisch. Das Gesicht des Schusters wurde zu dem ihres Geliebten und dann zu Lermontovs. Mir war vorher gar nicht aufgefallen, wie sehr Lermontov John Dee ähnelte … aber natürlich hatte ich Dee auch noch gar nicht gekannt, als ich den Film das erste Mal gesehen hatte.
Jetzt verstand ich, wie sehr der Film Becky berührt haben musste. Auf ihre eigene Art und Weise dürstete Becky genauso nach Erfolg wie die Ballerina Victoria Page. Sie sah Moira Shearer mit ihren wilden roten Locken sogar ein wenig ähnlich. Und plötzlich fiel mir auf, dass der Schauspieler in der Rolle des Komponisten, der sich in Vicky verliebt, Jay ziemlich ähnlich sah.
Wahrscheinlich war ich ein wenig eingedöst, denn als ich wieder zu mir kam und mich mit dem Weinglas in der Hand aufsetzte, lief bereits die vorletzte Szene, in der Lermontov Vicky eröffnet, dass sie sich entscheiden muss zwischen der Karriere einer großen Tänzerin oder dem ganz normalen Leben einer Hausfrau. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass ich damals, als wir den Film zum ersten Mal sahen, ausgiebig mit Becky über diese Szene diskutiert hatte.
»Wieso muss Vicky sich entscheiden?«, hatte ich gefragt.
»Weil das nun mal so ist!«, hatte Becky geantwortet. »Niemand kann beides haben.«
Jetzt sah ich, dass Lermontov und Becky Recht gehabt hatten. Die meisten großen Künstler hatten kein Glück in der Liebe – es sei denn, dass sie eine Beziehung mit jemandem hatten, der seine eigenen Wünsche und Ziele den ihren unterordnete. Menschen, die versuchten, ein ganz normales Leben zu führen – wie Zach und Jay und ich – scheiterten in ihrer Kunst. In Wahrheit scheiterten wir in jeder Hinsicht. Ich war so sehr damit beschäftigt gewesen, die Welt zu retten, dass mir überhaupt nicht aufgefallen war, dass meine beste Freundin Probleme hatte. Jetzt lag sie genau wie mein Vater im Krankenhaus. Wie viele der Menschen, die ich liebte, würden durch meine Gedankenlosigkeit noch zu Schaden kommen? Ich war weder im Leben noch in meiner Kunst besonders gut, dachte ich, während ich zusah, wie Vicky Page aus dem Theater lief und sich vor den Zug nach Paris warf. Ich verstand, wieso sie das tat; die Wahl fiel einfach zu schwer. Zumindest konnte sie nun die roten Schuhe abstreifen und sich ausruhen.
Ich nahm die Fernbedienung und wollte den Fernseher ausschalten, als Robert Osborne wieder ins Bild kam. Er saß in seinem roten Sessel vor dem knisternden Feuer und hielt ein Weinglas in der Hand.
»Die roten Schuhe war ein Flop, als der Film 1948 erschien«, sagte er. »Vielen Kinogängern war die Botschaft zu extrem – dass es nämlich besser ist, für die Kunst zu sterben, als für das Nichts zu leben. Aber wir wissen, was die richtige Entscheidung ist, nicht wahr?« Robert Osborne lächelte – selbst die Frau in dem Porträt über dem Kamin schien zu lächeln -, und ich nickte zustimmend. Inzwischen saß ich auf der Sofakante und hatte mich so nahe zum Fernseher gebeugt, dass ich das bernsteinfarbene Glühen in Robert Osbornes Augen erkennen konnte. Er sah mich direkt an und forderte mich auf, das Rechte zu tun. Es war das Rechte. Denn Robert Osborne wusste schließlich alles. Plötzlich glaubte ich zu verstehen, dass Robert Osborne mir als spiritueller Führer gesandt worden war. Es war ein seltsames Gefühl und auch irgendwie unangenehm, aber völlig schlüssig. Ich musste Robert Osborne folgen.
Ich stand auf und ging ins Bad. Die Rasierklinge, die Becky verwendet hatte, lag noch immer auf dem Rand des Waschbeckens. Als ich sie zur Hand nahm, sah ich meine Augen im Spiegel. Meine Pupillen hatten sich so weit ausgedehnt, dass sie meine Iris verdrängten, und meine Augen sahen schwarz und leer aus, eine kalte Leere, die in mir aufstieg wie Wasser, das einen dunklen Brunnen füllte. Ich würde darin ertrinken, wenn ich nicht bald etwas tat.
Als ich den Blick senkte, entdeckte ich, dass meine Linke die Klinge über meinem rechten Handgelenk hielt. Komisch, dachte ich, als ich probeweise damit über meine Haut fuhr, ich bin Rechtshänderin. Eine dünne, rote Linie erschien. Befreie das Dunkle. Ich hörte das Rauschen meines eigenen Blutes, das gegen meine Haut pochte, als wolle es mit aller Macht nach draußen drängen. Aber das Geräusch kam von der Badewanne. Die Ringe, an denen der Duschvorhang befestigt war, klapperten gegen die Stange. Jay hatte irgendwas von dem Duschvorhang gesagt … das Klacken des Vorhangs, der sich im Durchzug bewegte, hatte ihn geweckt … aber jetzt war das Fenster gar nicht offen. Ich hatte es gleich zugemacht, als ich heute Morgen ins Bad gekommen war. Nun starrte ich verblüfft den Vorhang an, die Hand mit der Klinge noch immer über meinem Handgelenk. Später fragte ich mich, wieso es diese Unstimmigkeit war, die mich endlich aufrüttelte – nicht das unerklärliche Erscheinen einer Flasche Wein, der Verlorene Zeit hieß, nicht die neue Einrichtung des TCM-Studios oder die Tatsache, dass Robert Osborne zum Selbstmord riet -, dafür aber ein Duschvorhang, der sich in einem Raum ohne Zugluft bewegte. Noch immer weiß ich nicht, warum, aber irgendetwas daran, dass das einfach falsch war, durchdrang den schwarzen Nebel, der mein Gehirn umwolkte.
Ich legte die Klinge wieder aufs Waschbecken, ging zur Badewanne und sah hinein. Dort, auf dem Boden der Wanne, lag eine Miniaturausgabe von Vicky Page aus der letzten Szene in Die roten Schuhe. Es stimmte alles: angefangen mit dem roten Haar bis hin zum zerrissenen, fleckigen Tutu und den roten Schuhen. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich Lol. Sie lag schlaff auf dem Emaille, und eine winzige Hand zerrte am Saum des Duschvorhangs. Als sie mich erblickte, öffnete sie den Mund, aber es war kein Geräusch zu hören. Dann ließ sie den Duschvorhang los und deutete auf ihre Füße.
Was ich für rote Schuhe gehalten hatte, waren ihre Füße – die rot vor Blut waren.
Die kleineren Unirdischen überstehen die Berührung von Eisen nicht. Mir fiel wieder ein, was Oberon im Park gesagt hatte, als er die sterblichen Überreste der Sylphen verstreut hatte. Blut war voller Eisen.
Schnell hob ich Lol auf und trug sie zum Waschbecken. Dort spülte ich ihre Füße mit kaltem Wasser ab und füllte dann das Becken, damit sie die geschundene Haut baden konnte. Während sie am Rand sitzen blieb, fand ich eine Mullbinde im Medizinschrank und wickelte sie um mein geritztes Handgelenk. Als ich wieder ins Becken sah, formten sich dort Bilder im Wasser, wie gestern im Park mit Melusine. Also hatte sie mir tatsächlich eine Fähigkeit verliehen. Doch dieses Mal sah ich statt der Gegenwart die Vergangenheit im Wasser. Lol, die Becky im Bad entdeckte und versuchte, die Blutung zu stillen, die aber dann, als das Blut über ihre Füße lief, in die Wanne gefallen war. Dort hatte sie so lange mit dem Vorhang gerasselt, bis sie Jay geweckt hatte.
»Danke«, sagte ich. »Du hast Becky das Leben gerettet – und mir auch.« Sie krächzte leise und spritzte mir Wasser ins Gesicht. »Ich weiß nicht, was mir in den Kopf gekommen ist«, setzte ich hinzu.
Lol verschränkte die Arme vor der Brust und warf mir einen leicht ungehaltenen Blick zu. Dann spreizte sie ihre Flügel, schwirrte ins Wohnzimmer und schwebte über dem Fernseher herum. Das Standbild von Robert Osborne war immer noch zu sehen, aber es war gar nicht Robert Osborne. Es war John Dee.
»Er hat versucht, Becky dazu zu bringen, dass sie sich umbringt, und es dann bei mir genauso gemacht.«
Lol flatterte hin und her und deutete auf den Bildschirm. »Ja«, nickte ich. »Jetzt begreife ich. Es ist das Versteck von John Dee. Die Gemälde und die Teppiche sind dieselben wie die, die ich in der Höhle unter dem Fluss gesehen habe. Das muss ich Oberon erzählen – verdammt!« Ich warf einen Blick auf die Zeitanzeige des Kabeltuners. Es war 13:33 Uhr. Mir blieb nicht einmal mehr eine halbe Stunde, um zum Rathaus zu kommen. »Ich muss das Elementarwesen des Feuers kennenlernen«, erklärte ich, und als mir einfiel, dass sie ja eine Feuerfee war, fügte ich hinzu: »Willst du mitkommen?«
Lols lohfarbene Haut wurde kalkweiß. Sie schüttelte den Kopf und schien plötzlich die Sprache verloren zu haben. Lol hatte einen Vampir angegriffen und die Vergiftung durch eisenhaltiges Blut riskiert. Ich fragte mich, was ihr wohl so viel Angst einjagen mochte.