Die roten Schuhe
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Wir lagen beim Feuer, bis es zu Asche
heruntergebrannt war, und hatten uns Wills Mantel als Decke
übergeworfen. Ich lag auf der Seite, sein Körper schmiegte sich
schützend an meinen Rücken, und seine Haut war wärmer als das
Feuer, das vor mir brannte. Nun erzählte ich ihm, wie wir Dees
Versteck gefunden hatten, und wie er Melusine und mich ins Wasser
hinausgespült hatte, nachdem er verschwand.
»Körperlich muss er gar nicht wirklich da gewesen
sein«, überlegte Will. »Ich habe über die Jahre festgestellt, dass
er sich an verschiedene Orte projizieren kann. Er benutzt diese
Stützpunkte als Beobachtungsposten.«
»Das heißt, wir sind auf unserer Suche nach ihm
noch kein Stück weitergekommen?«
»Vielleicht sind in dem, was du gesehen hast, ein
paar Hinweise auf seinen wahren Aufenthaltsort versteckt. Es ist
beachtlich, dass du überhaupt einen seiner Posten entdeckt
hast.«
»Wir haben dafür einen hohen Preis bezahlt«,
seufzte
ich und schilderte, wie ich Melusine auf die Insel gezogen hatte
und sie dort zerflossen war, und dass ich eine Vision von
Marguerite gehabt hatte, die an einem kleinen Teich kniete und zu
Melusine hinuntersah. Dann zeigte ich ihm die Mineralwasserflasche,
die nun Melusines Essenz enthielt.
»Ich könnte mir gut vorstellen, dass sie Schwestern
waren«, meinte Will. »Marguerite hat mir nur sehr wenig über ihre
Herkunft verraten, aber es würde erklären, wieso …« Er verstummte
mitten im Satz und schwieg so lange, dass ich schließlich den Kopf
wandte, um ihn anzusehen. Er starrte zum Himmel hinauf, sah aber so
aus, als blickte er auf Bilder, die noch viel weiter entfernt waren
als die Sterne.
»Was erklären?«, fragte ich schließlich.
»Erinnerst du dich, dass ich dir erzählte, ich sei
Marguerite damals nach Frankreich gefolgt?« Ich nickte, obwohl er
mich immer noch nicht ansah. Aber er brauchte meine Antwort nicht,
denn er war schon mitten in der Geschichte. »Nachdem sie London
verlassen hatte, suchte ich ihr früheres Quartier auf. Dort fand
ich ein Gemälde, das eine alte Kirche in Paris zeigte. Es war der
einzige Hinweis, den ich hatte, also reiste ich dorthin. Wochenlang
suchte ich die Kirche immer wieder auf und hoffte, sie würde
kommen, aber sie erschien nicht. Ich wollte schon aufgeben, da
erhielt ich ein Zeichen, das mich an einen anderen Ort führte. Dort
würde sie nun sein, dachte ich, aber stattdessen fand ich ein
weiteres Zeichen … das mich an einen weiteren Ort geleitete.
Damals glaubte ich, sie hätte diese Hinweise für mich
zurückgelassen und eine Art Schnitzeljagd für mich vorbereitet, mit
der ich ihr
meine Liebe beweisen sollte, und sobald ich sie gefunden hätte,
würde sie einlenken und mir die Unsterblichkeit gewähren. Ich
folgte ihr durch ganz Frankreich. Einer der Orte, an den mich ihre
Spuren führten – nicht der letzte, aber in dessen Nähe -, war das
Schloss von Lusignan, die legendäre Heimat Melusines.«
»Glaubst du, dass sie dieses Zeichen hinterließ,
weil sie mit Melusine verwandt war?«, fragte ich.
»Schon möglich«, erwiderte er. »Einige der Orte, an
die ich geführt wurde, waren Quellen … oft heilige Quellen, in
deren Nähe eine Kirche gebaut worden war. Schließlich fand ich
Marguerite in einem Turm an einem heiligen Weiher, in dem ein
Geschöpf lebte, das in der Lage war, das ewige Leben zu verleihen –
oder es wieder zu nehmen. Ich vermute, dass auch dieses Geschöpf
eine ihrer Schwestern war.«
Wieder musste ich an meine Vision denken, in der
Marguerite am Ufer stand und ein Wesen herbeirief, das sie zu einer
Sterblichen machen konnte. »Ich glaube, von diesem Ort habe ich
geträumt«, sagte ich.
»Ich träume jeden Tag davon, sobald ich bei
Morgengrauen die Augen schließe. Es war der letzte Ort auf Erden,
an dem ich jemals glücklich war. Drei Tage verbrachte ich dort mit
Marguerite und war überzeugt, die Quelle der ewigen Jugend gefunden
zu haben.« Er lachte voll Bitterkeit, und mir wurde plötzlich kalt.
»In der dritten Nacht hieß sie mich, im Turm zu bleiben, während
sie die Nacht am See verbrachte. Als sie zurückkam, war sie völlig
erschöpft und fiel sofort in tiefen Schlaf. Während sie schlief,
stahl ich ihr das silberne Kästchen und den Ring und brachte sie zu
John Dee. Ich dachte, ich müsse das
tun, um unsterblich zu werden und ewig mit ihr leben zu
können.«
»Aber sie war schon sterblich geworden«, schloss
ich. »Es muss in jener Nacht geschehen sein, dass sie das Geschöpf
aus dem See herbeirief, um die Sterblichkeit zu erlangen. So war es
in meiner Vision. Ich fühlte, wie viel Angst sie hatte, aber sie
tat es, weil sie dich liebte.«
Zum ersten Mal, seit er seine Geschichte zu
erzählen begonnen hatte, sah er mich an. »Du musst mich für einen
Narren halten.«
»Wir alle tun närrische Dinge«, sagte ich. »Mir
scheint, du hast für deine Fehler mehr – und länger – als die
meisten anderen Menschen leiden müssen.«
Er lachte. »Ja, das ist auch eine
Betrachtungsweise. Jene Nacht, in der sie mich in Paris aufspürte
und erzählte, sie habe die Unsterblichkeit für mich aufgegeben und
sich dafür verpflichtet, meinesgleichen zu vernichten, war der
schlimmste Augenblick meines Lebens. Ich habe Jahre – Jahrzehnte –
damit verbracht, nach ihr zu suchen. Monatelang habe ich in der
Kirche ausgeharrt, in der ich zuvor das erste Zeichen von ihr fand,
aber mir wurde keins mehr zuteil. Marguerite hatte mir gesagt, dass
sich der Pfad zum Sommerland ständig wandelte und man ihn nur
finden würde, wenn man in einer Kirche anfinge und dann den Zeichen
folgte. Dennoch versuchte ich den kleinen See zu finden, an dem wir
die drei Nächte verbrachten, doch umsonst. Es war, als habe er nie
existiert. Manchmal dachte ich wirklich, ich sei verrückt geworden.
Ich fragte mich, ob ich mir Marguerite nur im Traum eingebildet
hatte.« Er umschloss mein Gesicht mit seinen Händen und sah mir in
die Augen. »Als du in meine Wohnung kamst, hatte ich zum
ersten Mal seit vierhundert Jahren ein Gefühl der Hoffnung –
Hoffnung, dass ich wieder sterblich werden könnte.«
Seine Augen brannten in meinen, aber die Hand, die
an meinem Gesicht lag, war kalt. Mein Blut kühlte in seinen Adern
schon wieder ab. Schon bald würde er sich wieder so eisig anfühlen
wie ein Grab. Die Vorstellung, dass er derart litt, war
unerträglich.
»Gibt es einen Grund, weshalb du dich nicht …« Ich
suchte nach dem richtigen Ausdruck. »Weshalb du dich nicht
weiterhin von mir ernähren kannst?«
Er strich mein Haar von meinem Hals und legte seine
Lippen auf die frischen Wunden. »Es würde für mich jedes Mal
schwerer werden, nicht immer mehr und mehr zu trinken. Ich bin
jetzt schon süchtig danach, wie du schmeckst.« Seine Zunge fuhr
über die Bissspuren, und ein Kribbeln lief über meine Haut und
setzte sich in meinen Adern fort. »Und je mehr ich von dir trinke,
desto abhängiger wirst du von dem Gift, das ich in deinen Körper
schicke. Für den Augenblick heilt es den Biss und stillt den
Schmerz, aber es ist wie mit einem Opiat – du wirst immer mehr und
mehr davon haben wollen. Leider gehen intime Beziehungen zwischen
Vampiren und Menschen für den Sterblichen meist nicht gut
aus.«
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein würde,
nie wieder bei Tageslicht draußen sein zu können, nach Blut zu
jagen und ewig zu leben. Letzte Nacht war mir das noch gar nicht so
schlecht erschienen, aber seitdem hatte ich einen Einblick in
Melusines Bewusstsein gehabt und erfahren, wie müde sie des ewigen
Lebens war. In dem kurzen Blick, den ich auf Marguerite hatte
werfen können, als sie am Schwanenweiher stand (wie ich das
Gewässer
inzwischen insgeheim nannte), hatte ich ihre Bereitschaft gespürt,
die Unsterblichkeit für eine Lebensspanne mit dem Mann, den sie
liebte, aufzugeben.
»Wenn ich Dee die Schatulle abnehmen kann, könntest
du sie benutzen, um sterblich zu werden?«, fragte ich.
»Ich denke, ja … allerdings würde deinem Freund
Oberon diese Vorstellung nicht gefallen. Er hat mir immer
vorgeworfen, ich sei schuld gewesen, dass Marguerite die
Sterblichkeit wählte. Er will nicht, dass ich das Kästchen in die
Hände bekomme – nicht einmal für eine Sekunde.«
Ich musste daran denken, was Dee über Oberon gesagt
hatte – dass er die Schatulle für sich selbst haben wollte, um das
Menschengeschlecht zu kontrollieren und die Unirdischen wieder zu
alter Macht erstarken zu lassen. »Nun, er wird das nicht
entscheiden«, sagte ich und drückte Wills Hand, die an meinem
Gesicht lag. »Wenn er mich braucht, um das Kästchen zu bekommen,
dann wird er darauf Rücksicht nehmen müssen, was ich damit tun
will. Und ich will«, fuhr ich fort und drückte meine Lippen gegen
Wills, »das hier noch einmal und immer wieder tun
können.«
»Noch einmal?«, fragte er und strich über die
Rundung meiner Hüften. »In dieser Geschwindigkeit wirst du in einer
Woche zum Vampir.« Er schlang die Arme um mich und zog mich fest an
sich. »Wir sollten diese Schatulle schnell finden.«
Zwar konnte ich keine Veränderung am Himmel
erkennen, aber Will wusste, wann der Morgen nahte. »Wir müssen
gehen«, erklärte er. »Mir bleibt gerade noch genug Zeit, um dich
zurückzubringen.«
Das Feuer war heruntergebrannt, aber die vier
Spiralaugen
glühten noch im Gras. Zunächst wusste ich nicht recht, wie ich sie
löschen sollte, aber dann bewegte ich einfach meine Hand über ihnen
hin und her, und das Silber verblasste zu Grau und dann zu Weiß,
verwandelte sich in Nebel und hinterließ keine Spuren auf dem Gras.
Dann nahm ich die Wasserflasche, die Melusines Überreste enthielt,
und als ich mich dann an Will wandte, wurde mir bewusst, dass ich
mir bisher noch gar keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er
mich nach Hause bringen wollte.
»Das Boot liegt gleich um die Ecke«, sagte
er.
»Ein Boot?«, fragte ich verblüfft. »Ich wusste
nicht, dass du mit einem Boot gekommen bist.«
»Wie ich vielleicht schon einmal erwähnte, fliege
ich nicht. Aber ich habe ein Boot im Sporthafen an der West 79th
Street liegen, und das ist sehr schnell.«
Als wir den Anleger erreichten, begriff ich, was er
damit meinte. Es war offensichtlich, dass diese schnittige
Motoryacht für größtmögliche Geschwindigkeit konzipiert worden war.
Selbst jetzt, da es festgemacht war, schaukelte sie ungeduldig auf
den Wellen. Am Bug stand der Name Marguerite.
Will half mir an Bord und ging als Erstes in die
Kajüte hinunter. Wenig später kehrte er mit einer Jeans und einem
gestreiften Seemannspullover zurück, den ich über sein Hemd zog.
Dann tätigte er einen Anruf auf seinem Mobiltelefon, bevor er die
Leinen loswarf und das Boot in die Bucht hinaussteuerte. »Ich habe
meinem Fahrer gesagt, er soll an den Chelsea Piers auf uns warten.
Von dort wird er dich nach Hause bringen. Es tut mir leid, aber ich
werde dich nicht begleiten können.«
»Du bist sehr altmodisch«, sagte ich lachend und
ließ mein Haar in der frischen Salzbrise flattern. »Ich werde wohl
keine Eskorte brauchen.«
»Du hast Dee an einem seiner Beobachtungsposten
aufgestöbert. Er weiß, dass du ihm näher kommst. Wenn er merkt,
dass du noch lebst, wird er dich zu töten versuchen, bevor du ihn
noch einmal aufspüren kannst. Mir gefällt der Gedanke gar nicht,
dass du allein zu Hause bist.«
»Ich werde nicht allein sein. Mein Freund Jay ist
dort.« Ich lachte. »Aber wahrscheinlich ist er nicht gerade der
beste Schutz.«
Will schüttelte den Kopf. »Dein Freund Jay mag dich
sehr«, erklärte er. »Ich bin mir sicher, dass er dich mit seinem
Leben verteidigen würde – allerdings fürchte ich, dass er John Dee
letzten Endes nicht allzu viel entgegenzusetzen hätte.«
Wills Worte kamen mir wieder in den Sinn, als ich
zu Hause ankam. Ich rief nach Jay, während ich in den ersten Stock
hinaufging, und meine Stimme hallte hohl durchs Treppenhaus. Im
Wohnzimmer, im Schlafzimmer und auch in dem kleinen Raum, den mein
Vater als Arbeitszimmer nutzte, war niemand. Die Tür zum Bad war
geschlossen.
»Jay?«, rief ich laut und klopfte an die Tür. »Bist
du da drin?« Durch meinen Kopf geisterten Bilder, wie Jay in der
Badewanne einschlief und unter Wasser rutschte, und mit feuchten
Händen drückte ich die Klinke. Mein erster Blick galt der
altmodischen Wanne mit den Klauenfüßen. Der Duschvorhang war weit
genug zurückgezogen, um
mich gleich zu überzeugen, dass sie leer und trocken war.
Allerdings musste vor kurzem noch jemand gebadet haben, denn auf
dem Boden lag ein Knäuel nasser Handtücher … Hatte Jay seine
eigenen Handtücher mitgebracht? Ich war mir ziemlich sicher, dass
mein Vater nur weiße Handtücher benutzte und keine mit Blumenmuster
in Rot und Pink. Sie waren triefnass. Nun sah ich, dass sich der
Duschvorhang leicht bewegte, als ihn die Zugluft vom offenen
Fenster über der Wanne erfasste, das halb verdeckt war. Vielleicht
hatte es hereingeregnet … obwohl letzte Nacht zumindest auf
Governors Island kein Tropfen gefallen war … und Jay hatte mit den
Handtüchern den Boden aufgewischt.
Ich schloss das Fenster und kniete mich dann hin,
um die Tücher aufzuheben. Das Blumenmuster in meiner Hand
verwandelte sich in Blutflecken. Entsetzt sah ich auf den Boden.
Die Fliesen waren blutverschmiert, selbst die Fugen waren
rot.
Mit wild klopfendem Herzen stand ich auf und
verließ das Bad, das blutige Handtuch noch immer in der Hand.
Hastig lief ich zum Telefon, das im Wohnzimmer meines Vaters stand.
Erst wollte ich einen Krankenwagen rufen, doch als ich den Hörer
abhob, ging mir auf, dass ich keinen Notruf wegen einem blutigen
Handtuch tätigen konnte. Auf dem Telefon blinkte die
Nachrichtenanzeige. Mit zitternden Fingern drückte ich die
»Play«-Taste. Die digitale Stimme des kleinen Apparats verkündete
zweiundzwanzig neue Nachrichten.
Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus, als ich
Jays Stimme hörte. Es geht ihm gut, dachte ich, als ich
seinen typischen, umständlichen Uhs und Ahs lauschte, vielleicht
hat er sich nur beim Rasieren geschnitten oder … oder sonst
was … und er wollte anrufen, damit ich mir keine Sorgen machte,
wenn ich das ganze Blut im Badezimmer sah. »Äh … Garet … ich hab’s
schon auf deinem Handy probiert … äh, hier ist Jay.« Der gute Jay
war Meister im großen Drumherumreden. Er hatte mir einmal eine
fünfzehn Minuten lange Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen,
um mir die Handlung eines Stummfilms zu schildern, den er gerade in
seinem Filmseminar gesehen hatte. »Aber wahrscheinlich hast du die
ganzen Nachrichten gar nicht abgehört, sonst hättest du dich ja
sicher gemeldet. Also, wenn du das hier hörst …« Ein Geräusch im
Hintergrund unterbrach ihn; es klang wie eine Lautsprecherdurchsage
in einem hallenden Flur. »Ja, also … äh … du solltest so bald wie
möglich hierherkommen.« Damit war die Nachricht zu Ende.
»Wo ist hier, Jay?«, brüllte ich, während
ich darauf wartete, dass die nächste Nachricht abgespielt wurde. Es
war noch einmal Jay.
»Hey Garet, als ich aufgelegt hatte, ist mir
eingefallen, wenn du meine anderen Nachrichten nicht bekommen hast,
dann weißt du ja gar nicht, wo ich bin oder was passiert ist. Also,
ich bin im St. Vincent’s. Es geht um Beck …« Seine Stimme brach,
als er ihren Namen sagte. »Sie hat versucht sich umzubringen. Bitte
komm, so schnell du kannst.«
Ich rannte zum Krankenhaus, ohne mich vorher auch
nur umzuziehen. Erst, als ich im Fahrstuhl stand und zur
Psychiatrischen Abteilung hinauffuhr, wo Becky lag, wie man mir an
der Information gesagt hatte, wurde mir klar,
dass ich roch wie der East River und dass ein schlickiger Gestank
von mir ausging, der irgendwie perfekt zu meiner ganzen Situation
zu passen schien. Ich ging langsam unter. Dee hatte erst meinen
Vater erwischt und sich dann meine beste Freundin vorgenommen. Wer
käme als Nächster an die Reihe? Würde ich alle und jeden verlieren,
wenn ich weiter versuchen würde, ihn aufzuhalten?
Ich fand Beckys Zimmer, aber als ich eintrat, war
ich zunächst überzeugt, mich in der Tür geirrt zu haben. Die
Person, die dort im Bett lag, konnte nicht Becky sein. Sicher,
meine Freundin war nicht groß, aber der Körper dieser Kranken hier
zeichnete sich fast gar nicht unter den sorgsam festgesteckten
Laken ab. Und wann hatte Becky je so still dagelegen? Ich hatte oft
genug, wenn wir beieinander übernachteten, mit ihr ein Bett geteilt
und mich vor ihren Tritten in Sicherheit bringen müssen, weil sie
so unruhig schlief. Diese Kranke hier hatte sich flach auf dem
Rücken ausgestreckt, die weiß umwickelten Arme lagen links und
rechts auf der Decke wie übergroße Wattestäbchen. Selbst ihr Haar,
das normalerweise wie elektrisch geladen abstand, lag schlaff und
tot auf der weißen Krankenhausbettwäsche.
Aber dann erkannte ich die zusammengesunkene
Gestalt auf dem Stuhl neben dem Bett. Es war Jay. Als er mich sah,
sprang er sofort auf – Jay, der normalerweise eher durchs Leben
schlich, sprang auf und drückte mich an sich.
»Garet, Gott sei Dank. Ich hatte schon Angst, dir
wäre auch etwas passiert.«
»Mir geht es gut. Ich habe mein Telefon verloren …
und konnte gestern Nacht nicht mehr nach Hause kommen
… Verdammt, Jay! Was ist passiert? Wird sie durchkommen? Ist sie
bewusstlos, seit …« Ich sah auf Beckys dick bandagierte Unterarme.
Die Verbände reichten bis zu ihren Ellenbogen.
»Sie war schon völlig weg, als ich sie fand«,
berichtete er. »Die Sanitäter sagten, sie hätte sehr viel Blut
verloren, aber sie hat dann eine Transfusion bekommen und kam
danach kurz zu sich.«
»Du hast sie gefunden?« Ich sah Jay prüfend an. Er
war im Biologieunterricht umgekippt, als wir uns in den Finger
stechen mussten, um unsere Blutgruppe zu bestimmen. Dann fiel mir
auf, dass die Knie seiner Jeans dunkle Flecken aufwiesen und die
Manschette seines karierten Flanellhemds rot verschmiert war. »Oh,
Jay, es tut mir so leid. Was ist passiert?«
Er schüttelte den Kopf, und sein Haar fiel strähnig
über seine blassen Wangen. Seine Augen waren tief umschattet.
»Letzte Nacht kam sie vorbei, weil sie über den Plattenvertrag
reden wollte. Erst dachte ich, sie wollte einfach weiter mit mir
diskutieren, aber sie war eher … zerknirscht.«
»Zerknirscht? Becky?«
»Ja, ich weiß. Es war ganz komisch. Sie hatte eine
Flasche Wein dabei und sagte, es täte ihr furchtbar leid, dass sie
mich wegen des Vertrags hätte unter Druck setzen wollen. Dann
meinte sie, es würde ja auch keine Rolle spielen, und ein großer
Plattenvertrag sei es nicht wert, dass wir dafür unsere
Freundschaft aufs Spiel setzten. Und dass es völlig in Ordnung
wäre, wenn wir den Rest des Lebens damit zubringen würden, als
Aufwärmer für größere Bands zu spielen und in kleinen Käffern
aufzutreten.
Wir machten die Flasche leer und schauten ein bisschen Fernsehen …
es lief der Film Die roten Schuhe, und das war irgendwie
komisch, weil der in der Programmzeitung gar nicht aufgeführt war.
Aber Becky war total begeistert und sagte, es sei ihr
Lieblingsfilm. Sie bestand sogar darauf, dass wir ihn für dich
aufnehmen. Dann öffnete sie noch eine Flasche Wein, die wir bei
deinem Dad im Schrank gefunden hatten, und wir haben Popcorn in der
Mikrowelle gemacht. Es war schön … wie früher, als wir noch zur
Highschool gingen, lange aufgeblieben sind und alte Filme geschaut
haben. Draußen kam Nebel auf, und Becky meinte, das Wetter wäre
richtig gemütlich …«
»Nebel? Da, wo ich war, gab es keinen Nebel«, sagte
ich und erinnerte mich an den klaren Himmel über Governors
Island.
Jay warf mir einen seltsamen Blick zu. »Keine
Ahnung, wo du letzte Nacht gewesen bist, aber hier im
Village war es total neblig. Wir konnten nicht mal mehr aus den
Fenstern sehen. Becky meinte, es sei gut, dass wir keinen
Horrorfilm schauten …. allerdings hatten wir vergessen, wie
unheimlich der Film ist. Du kennst doch die Szene, wo das Mädchen
in der Geschichte die roten Schuhe anzieht und tanzt, bis sie tot
umfällt? Na ja, Becky meinte, manchmal hätte sie das Gefühl, sie
würde diese roten Schuhe tragen und würde sich wünschen, sie könnte
aufhören … aufhören mit den Tourneen, den Promogeschichten für die
Band, den ständigen Gedanken daran, ob wir nun den großen
Durchbruch schaffen oder nicht. Einfach aufhören. Und als dann die
Szene kam, wo sich Moira Shearer vor den Zug wirft, habe ich
gemerkt, dass Becky weint. Da hätte mir schon klar sein sollen,
dass etwas mit ihr
nicht stimmt, aber irgendwie war ich total müde. Ich fühlte mich,
als hätte ich mir wie Moira Shearer die Füße wundgetanzt. Dann bin
ich auf dem Sofa eingeschlafen, und als ich wieder aufwachte, war
Becky nicht mehr da. Fast wäre ich wieder eingedöst, aber dann habe
ich ein Geräusch aus dem Bad gehört. So ein leises tapp, tapp,
tapp. In meinem Kopf ging alles durcheinander, ich dachte, es sei
die Ballerina aus der Geschichte … die tanzte. Es war so nervig,
dass ich schließlich aufstand und nachsehen ging …«
Er barg das Gesicht in den Händen, als könne er
sich so vor der Erinnerung an das, was er im Bad entdeckt hatte,
schützen.
»Das Geräusch kam von dem Duschvorhang, der sich im
Wind bewegte und gegen die Wanne schlug. Becky muss das Fenster
geöffnet haben – ich war mir ziemlich sicher, dass es vorher
geschlossen war. Vielleicht hatte sie darüber nachgedacht, aus dem
Fenster zu springen, allerdings hätte nicht einmal sie durch die
kleine Öffnung gepasst. Dann fand sie aber wohl eine Rasierklinge
im Spiegelschrank. Sie hat den Boden mit Handtüchern ausgelegt,
damit das Blut nicht auf die Fliesen läuft. Du weißt, wie
ordentlich sie immer ist …« Jay holte angestrengt Luft. Ich schlang
den Arm um ihn und tätschelte beruhigend seinen Rücken, bis er
wieder sprechen konnte. »Die Handtücher habe ich dann ganz fest um
ihre Handgelenke gewickelt und sofort den Notarzt angerufen. Die
Sanitäter sagten, eine halbe Stunde später wäre sie tot gewesen.
Wenn ich nur daran denke, dass ich mich beinahe noch einmal
umgedreht hätte, um weiterzuschlafen …«
»Aber, Jay, das hast du nicht! Du bist aufgestanden
und hast sie gerettet.« Ich wusste nicht, wie ich Jay erklären
sollte, mit welchen Kräften er gerungen hatte, als er wach zu
bleiben versuchte. Denn ich konnte es mir nur so erklären: Der
Nebel, den Becky in die Wohnung gelassen hatte, musste sie dazu
verleitet haben, sich das Leben zu nehmen, während er Jay so müde
gemacht hatte, dass er nichts merkte. »Und es ist nicht deine
Schuld, dass sie das getan hat …«
»Es ist meine Schuld …« Die Stimme kam vom Bett.
Jay und ich wandten den Kopf und sahen, dass Beckys Augen offen
waren. Sie wirkten riesig in ihrem weißen Gesicht. »Es tut mir so
leid …«
»Es ist okay, Becky.« Ich setzte mich zu ihr auf
die Bettkante und ergriff ihre Hand. Die Finger fühlten sich
schlaff und kalt an. Die übergroßen Augen in dem blassen Gesicht
erinnerten mich an Melusine, kurz bevor sie auf dem Felsen
zerflossen war. Fest drückte ich Beckys Hand, als könnte ich so
verhindern, dass sie mir ebenfalls entglitt. »Du hast nicht
gewusst, was du tust.«
Becky leckte sich die trockenen, gesprungenen
Lippen. »Habe ich aber. Ich dachte einfach, es wäre der leichtere
Weg … ich hatte es so satt, mich gegen so viele Widerstände
durchzubeißen. Ich meine, wem wollte ich denn eigentlich was
vormachen, wenn ich so tat, als würde mal ein Rockstar aus mir
werden? Ich hätte Jura studieren sollen, so wie meine Mutter es
immer wollte … Oh, Scheiße! Ist meine Mutter hier? Weiß sie
es schon?«
»Sie ist auf dem Weg von Fort Lauderdale hierher«,
sagte Jay. »Tut mir leid, Becky. Ich musste sie anrufen.«
Tränen rollten Becky über die Wangen. Ich zog ein
Taschentuch aus der Spenderbox auf dem Nachttisch und tupfte sie
ab. »Das wird sie umbringen. Was habe ich mir nur dabei
gedacht?«
»Du hast gar nicht gedacht, Süße. Du standest …«
Unter einem Bann, hätte ich beinahe gesagt, aber ich
beherrschte mich. »Du standest unter viel zu großem Druck. Du
brauchst Ruhe … und ein bisschen Unterstützung … und dann wird es
schon besser werden. Das verspreche ich.«
Becky nickte, aber ihre Augen fielen ihr schon
langsam wieder zu. Ich blieb bei ihr sitzen, hielt ihre Hand und
versuchte darüber nachzudenken, wie ich dieses Versprechen wohl
halten wollte.
Den größten Teil des Vormittags blieb ich bei
Becky und wechselte mich mit Jay dabei ab, über sie zu wachen. Als
er mich ablöste, ging ich zu meinem Vater. Ich bekam einen Schreck,
als ich in sein Zimmer trat und es leer vorfand, aber dann kam eine
Schwester herein und erklärte, mein Vater und sein Freund seien in
den Aufenthaltsraum gegangen. Ich eilte den Flur hinunter und fand
Roman in einem Rollstuhl, wie er mit Zach und zwei Chinesinnen, die
er mir als Minnie und Sue vorstellte, Bridge spielte. Er hatte eine
gesunde Gesichtsfarbe und lächelte. Nachdem sie die Runde beendet
hatten, nahm ich Zach beiseite und erzählte ihm von Becky.
»Die Ärmste«, sagte Zach und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, sie stand unter großem Druck.«
»Tat sie das?«, fragte ich, fuhr aber gleich fort,
ohne eine Antwort abzuwarten: »Ich weiß nicht, ob wir es Roman
sagen sollten. Ich habe Angst, dass es ihn an Santés Selbstmord
erinnern wird.« Im gleichen Augenblick wurde
mir klar, dass ich schon Zach gegenüber nichts davon hätte
erwähnen sollen. Gerade bei ihm hatte ich immer gefürchtet, dass er
Selbstmordgedanken hegte. Aber obwohl ihn die Ereignisse offenbar
sehr traurig stimmten, blieb Zach bemerkenswert ruhig.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte er. »Es ist
wirklich eine ähnliche Geschichte. Santé hat sich am Vorabend
seiner größten Vernissage umgebracht, und Beckys Band steht auch
gerade kurz davor, den großen Durchbruch zu schaffen.« Er lächelte
wehmütig. »Manchmal denke ich, es ist leichter, eine verkrachte
Existenz zu sein.«
Die Bemerkung verblüffte mich. In all den Jahren,
in denen Zach keinen Pinsel mehr zur Hand genommen hatte, war ich
stets davon ausgegangen, dass ihm die Inspiration fehlte. Nie war
ich darauf gekommen, dass er sich vor Seelenschmerz zu bewahren
versuchte, indem er sich nicht zu sehr seiner Sache
verschrieb.
»Du bist keine verkrachte Existenz, Zach«, sagte
ich und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du bist … du gehörst zur
Familie. Ich weiß nicht, was ich in den letzten Tagen ohne dich
gemacht hätte.«
Zachs Augen wurden groß und begannen zu glänzen.
Erst fürchtete ich, er würde in Tränen ausbrechen, aber dann
richtete er sich gerade auf und schüttelte die in sich
zusammengesunkene Haltung ab, die sonst so typisch für ihn war.
»Mach dir um Roman und Becky keine Sorgen«, sagte er. »Ich werde
sie beide im Auge behalten. Und du tust, was du eben tun musst. Ich
halte hier die Stellung.«
Trotz Zachs Versicherung ließ ich Becky nur sehr
ungern allein, aber um elf überbrachte mir eine Schwester eine
Nachricht von Oberon. »Komm um zwei Uhr zur Treppe vor der City
Hall. Zieh deine Schweißer-Arbeitskleidung an.«
Meine Arbeitskleidung? Dann fiel es mir ein: Das
einzige Element, von dem ich noch keinen direkten Vertreter
getroffen hatte, war das Feuer. Will hatte gesagt, dass sich Oberon
die gefährlicheren Lehrer für den Schluss aufheben würde.
Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen, was gefährlicher sein
könnte, als vom Empire State Building zu springen oder in
molekularer Form durch die Wasserversorgung der Stadt zu schwimmen,
aber ich wusste, dass ich für das, was auf mich zukam, besser
gewappnet sein würde, wenn ich noch etwas Schlaf bekam.
Doch was mich dann wirklich aus dem Krankenhaus
vertrieb, war der Anblick von Joe Kiernan. Ich kam gerade aus der
Cafeteria zurück, als ich sah, wie er in Beckys Zimmer ging. Sofort
blieb ich auf dem Flur stehen und winkte Jay zu mir, als er wenig
später aus dem Krankenzimmer trat.
»Was macht der denn hier?«, fragte ich.
»Glaubt er, dass es etwas mit dem Einbruch zu tun hat, was Becky
passiert ist?«
Jay starrte mich an. »Wieso sollte er?«, fragte er.
Dann zuckte er mit den Schultern. »Er war vorhin schon einmal da.
Angeblich nur aus reiner Freundschaft und um zu sehen, wie es Becky
geht.«
Zwar unterstellte ich Detective Kiernan, dass er
nichts ohne eine bestimmte Absicht tat, aber ich konnte mir auch
nicht vorstellen, wie er eine Verbindung zwischen Beckys
Selbstmordversuch und John Dee hätte ziehen sollen – und erklären
wollte ich ihm das ganz sicher nicht.
»Behalte ihn lieber im Auge«, sagte ich Jay. »Ich muss eine Weile
nach Hause.«
Jay nickte. »Du solltest dich ein bisschen ausruhen
– du fängst an, ein wenig paranoid zu klingen.«
Zu Hause ging ich als Erstes ausgiebig unter die
Dusche, allerdings im Bad im zweiten Stock; Dads Badezimmer würde
ich vermutlich eine ganze Weile nicht benutzen. Dann nahm ich mir
Jogginghosen und ein altes T-Shirt aus dem Schrank, und darüber zog
ich aus einer Laune heraus Wills Hemd. Als ich mich dann aufs Bett
legte, hörte ich wieder Jays Stimme, die mir schilderte, was letzte
Nacht passiert war.
Becky und ich hatten Die roten Schuhe mit
sechzehn bei einem Filmfestival im Forum gesehen. Sie war so
begeistert, dass sie mich drängte, den Film gleich anschließend
noch ein zweites Mal anzuschauen, und dann ging sie später sogar in
eine dritte Vorstellung. Zwar hatte mir der Streifen auch gefallen,
aber ich fand es damals seltsam, dass sie eine derartige
Besessenheit entwickelte. Es war schon komisch, dass er
ausgerechnet gestern Abend im Fernsehen gelaufen war, obwohl er
nicht im Programmheft stand. Becky war total begeistert und
bestand sogar darauf, dass wir ihn für dich aufnehmen.
Ich erhob mich aus dem Bett und schlich barfuß
hinunter in den ersten Stock. Als ich die Tür zur Wohnung meines
Vaters öffnete, schlug mir der kupferartige Geruch von Blut
entgegen. Beinahe hätte ich die Tür wieder zugeschlagen und wäre
die Treppe hinaufgeflüchtet, aber ich zwang mich, zum Sofa zu gehen
und mich vor den Fernseher zu setzen. Auf dem Couchtisch standen
zwei offene
Flaschen, zwei leere Gläser und eine große Schüssel. Ich nahm die
eine Weinflasche und las das Etikett: Woop Woop, ein australischer
Shiraz, den es in der Weinhandlung an der Hudson Street gab und den
Becky gern kaufte, weil er billig war und sie so gern den Namen
aussprach. Das war sicherlich die Flasche, die sie mitgebracht
hatte. Nun nahm ich die andere zur Hand, die sie Jay zufolge bei
meinem Vater im Schrank gefunden hatten. Sie war so verstaubt, dass
ich das Etikett abwischen musste, um es zu lesen. Le Vin du
Temps Perdu. Der Wein verlorener Zeit. Ich war mir ziemlich
sicher, dass mein Vater keine solche Flasche gekauft hatte, aber
wie könnte es Dee gelungen sein, sie ins Haus zu schmuggeln? Hatten
die Schattenmänner sie vielleicht während des Einbruchs hier
abgestellt? Als ich die Flasche anhob, stellte ich fest, dass noch
ein Rest darin war. Langsam goss ich ein paar Zentimeter der roten
Flüssigkeit in eines der leeren Gläser und schnupperte daran. Ein
schweres Aroma mit einem Hauch von Schokolade und Zimt stieg auf.
Bevor ich mir selbst sagen konnte, dass das keine gute Idee war,
nahm ich einen Schluck.
Der Wein war so trocken, dass er zu verdampfen
schien, sobald er meine Zunge berührte, und sich dann in einen
Nebel verwandelte, der meinen Mund füllte … einen Nebel, der nach
Schokolade und Lavendel und einem undefinierbaren Gewürz schmeckte.
Ich nahm einen zweiten Schluck und versuchte, den Geschmack auf der
Zunge zu spüren, bevor er verdampfte. Als ich die Augen schloss,
stand ich auf einem Weinberg in Südfrankreich. Die Sonne wärmte
meine Haut, und Lavendelgeruch lag in der Luft …
Mit einem Ruck öffnete ich die Augen wieder und
schob das Weinglas weg. Le Vin du Temps Perdu, tatsächlich!
Keine Frage, Alkohol war gefährlich! Und Becky hatte eine ganze
Flasche davon getrunken … während sie einen Film sah, der gar nicht
hätte laufen sollen.
Ich sah mich nach der Fernbedienung um und fasste
unter alle Sofakissen, bis ich sie fand. Dann schaltete ich den
Fernseher an und rief das Menü des Festplattenrekorders auf. Die
neueste Aufnahme war laut der Anzeige Leoparden küsst man
nicht mit Katherine Hepburn und Cary Grant, aber es war die
Einzige, die von letzter Nacht stammte, also wählte ich sie aus und
drückte auf Play. Die Werbung für eine DVD-Box von Turner Classic
Movies spulte ich ein wenig vor, bis ich Robert Osborne auf dem
Bildschirm sah, den Filmkritiker des Senders. Er stand vor dem
gemauerten Kamin eines Raumes, der mit seinen Ölgemälden und den
dick gepolsterten roten Sesseln an ein Herrenzimmer erinnerte.
Becky und Jay hatten sich die Anmoderation sicherlich auch
angesehen, denn Jay liebte Robert Osborne und konnte die aalglatte
Art, mit der er die Filme ansagte, hervorragend nachahmen. Ich
drückte auf Play.
»Hallo, ich bin Robert Osborne, und heute Abend
sehen wir …« Der Bildschirm flackerte für den Bruchteil einer
Sekunde, und Robert Osbornes breites, freundliches Gesicht
erstarrte kurz. Seine schwerlidrigen Augen (Man sieht dem echt
an, dass er die meiste Zeit seines Lebens in dunklen Kinos gesessen
hat, sagte Jay immer) schienen sich zu verdüstern. »… heute
Abend sehen wir Die roten Schuhe, einen Film von Michael
Powell und Emeric Pressburger, mit der unvergleichlichen Moira
Shearer in der Rolle der
unglücklichen Ballerina Victoria Page und dem unvergleichlich
charmanten Anton Walbrook als diabolischen Impresario Boris
Lermontov.«
Ich beugte mich ein wenig näher zum Fernseher.
Irgendetwas stimmte nicht mit dem Ton. Robert Osbornes Worte
passten nicht zu seinen Mundbewegungen. Oder vielleicht war ich
auch nur müde. Ich zog mir eine alte Wolldecke über die Knie,
kuschelte mich ins Sofa und ließ mich von Osbornes
einschmeichelnder Stimme einlullen, während er erklärte, dass die
Filmproduzenten damals ein Manifest für die Macht der Kunst hatten
erschaffen wollen. Hingebungsvoll beschrieb er, wie der
diabolische (das Wort benutzte er mehrfach) Lermontov Vicky
Page in den Selbstmord trieb.
Komisch, dachte ich, normalerweise verrät Robert
Osborne vorab gar nicht so viel von der Handlung. Aber es störte
mich nicht weiter, da ich den Film schließlich sowieso schon
kannte. Allerdings hatte ich schon wieder vergessen, wie
halluzinatorisch und lebendig die Traumsequenzen ausfielen, in
denen Vicky Page die Geschichte eines Mädchens nachspielte, das ein
paar rote Schuhe anzieht, die von einem geheimnisvollen Schuhmacher
gefertigt wurden, und sich dann zu Tode tanzt. Es war geradezu
psychedelisch … und sehr freudianisch. Das Gesicht des Schusters
wurde zu dem ihres Geliebten und dann zu Lermontovs. Mir war vorher
gar nicht aufgefallen, wie sehr Lermontov John Dee ähnelte … aber
natürlich hatte ich Dee auch noch gar nicht gekannt, als ich den
Film das erste Mal gesehen hatte.
Jetzt verstand ich, wie sehr der Film Becky berührt
haben musste. Auf ihre eigene Art und Weise dürstete Becky
genauso nach Erfolg wie die Ballerina Victoria Page. Sie sah Moira
Shearer mit ihren wilden roten Locken sogar ein wenig ähnlich. Und
plötzlich fiel mir auf, dass der Schauspieler in der Rolle des
Komponisten, der sich in Vicky verliebt, Jay ziemlich ähnlich
sah.
Wahrscheinlich war ich ein wenig eingedöst, denn
als ich wieder zu mir kam und mich mit dem Weinglas in der Hand
aufsetzte, lief bereits die vorletzte Szene, in der Lermontov Vicky
eröffnet, dass sie sich entscheiden muss zwischen der Karriere
einer großen Tänzerin oder dem ganz normalen Leben einer Hausfrau.
Dunkel erinnerte ich mich daran, dass ich damals, als wir den Film
zum ersten Mal sahen, ausgiebig mit Becky über diese Szene
diskutiert hatte.
»Wieso muss Vicky sich entscheiden?«, hatte ich
gefragt.
»Weil das nun mal so ist!«, hatte Becky
geantwortet. »Niemand kann beides haben.«
Jetzt sah ich, dass Lermontov und Becky Recht
gehabt hatten. Die meisten großen Künstler hatten kein Glück in der
Liebe – es sei denn, dass sie eine Beziehung mit jemandem hatten,
der seine eigenen Wünsche und Ziele den ihren unterordnete.
Menschen, die versuchten, ein ganz normales Leben zu führen – wie
Zach und Jay und ich – scheiterten in ihrer Kunst. In Wahrheit
scheiterten wir in jeder Hinsicht. Ich war so sehr damit
beschäftigt gewesen, die Welt zu retten, dass mir überhaupt nicht
aufgefallen war, dass meine beste Freundin Probleme hatte. Jetzt
lag sie genau wie mein Vater im Krankenhaus. Wie viele der
Menschen, die ich liebte, würden durch meine Gedankenlosigkeit noch
zu Schaden kommen? Ich
war weder im Leben noch in meiner Kunst besonders gut, dachte ich,
während ich zusah, wie Vicky Page aus dem Theater lief und sich vor
den Zug nach Paris warf. Ich verstand, wieso sie das tat; die Wahl
fiel einfach zu schwer. Zumindest konnte sie nun die roten Schuhe
abstreifen und sich ausruhen.
Ich nahm die Fernbedienung und wollte den Fernseher
ausschalten, als Robert Osborne wieder ins Bild kam. Er saß in
seinem roten Sessel vor dem knisternden Feuer und hielt ein
Weinglas in der Hand.
»Die roten Schuhe war ein Flop, als der Film
1948 erschien«, sagte er. »Vielen Kinogängern war die Botschaft zu
extrem – dass es nämlich besser ist, für die Kunst zu sterben, als
für das Nichts zu leben. Aber wir wissen, was die richtige
Entscheidung ist, nicht wahr?« Robert Osborne lächelte – selbst die
Frau in dem Porträt über dem Kamin schien zu lächeln -, und ich
nickte zustimmend. Inzwischen saß ich auf der Sofakante und hatte
mich so nahe zum Fernseher gebeugt, dass ich das bernsteinfarbene
Glühen in Robert Osbornes Augen erkennen konnte. Er sah mich direkt
an und forderte mich auf, das Rechte zu tun. Es war das
Rechte. Denn Robert Osborne wusste schließlich alles.
Plötzlich glaubte ich zu verstehen, dass Robert Osborne mir als
spiritueller Führer gesandt worden war. Es war ein seltsames Gefühl
und auch irgendwie unangenehm, aber völlig schlüssig. Ich musste
Robert Osborne folgen.
Ich stand auf und ging ins Bad. Die Rasierklinge,
die Becky verwendet hatte, lag noch immer auf dem Rand des
Waschbeckens. Als ich sie zur Hand nahm, sah ich meine Augen im
Spiegel. Meine Pupillen hatten sich so weit ausgedehnt,
dass sie meine Iris verdrängten, und meine Augen sahen schwarz und
leer aus, eine kalte Leere, die in mir aufstieg wie Wasser, das
einen dunklen Brunnen füllte. Ich würde darin ertrinken, wenn ich
nicht bald etwas tat.
Als ich den Blick senkte, entdeckte ich, dass meine
Linke die Klinge über meinem rechten Handgelenk hielt.
Komisch, dachte ich, als ich probeweise damit über meine
Haut fuhr, ich bin Rechtshänderin. Eine dünne, rote Linie
erschien. Befreie das Dunkle. Ich hörte das Rauschen meines
eigenen Blutes, das gegen meine Haut pochte, als wolle es mit aller
Macht nach draußen drängen. Aber das Geräusch kam von der
Badewanne. Die Ringe, an denen der Duschvorhang befestigt war,
klapperten gegen die Stange. Jay hatte irgendwas von dem
Duschvorhang gesagt … das Klacken des Vorhangs, der sich im
Durchzug bewegte, hatte ihn geweckt … aber jetzt war das Fenster
gar nicht offen. Ich hatte es gleich zugemacht, als ich heute
Morgen ins Bad gekommen war. Nun starrte ich verblüfft den Vorhang
an, die Hand mit der Klinge noch immer über meinem Handgelenk.
Später fragte ich mich, wieso es diese Unstimmigkeit war, die mich
endlich aufrüttelte – nicht das unerklärliche Erscheinen einer
Flasche Wein, der Verlorene Zeit hieß, nicht die neue Einrichtung
des TCM-Studios oder die Tatsache, dass Robert Osborne zum
Selbstmord riet -, dafür aber ein Duschvorhang, der sich in einem
Raum ohne Zugluft bewegte. Noch immer weiß ich nicht, warum, aber
irgendetwas daran, dass das einfach falsch war, durchdrang
den schwarzen Nebel, der mein Gehirn umwolkte.
Ich legte die Klinge wieder aufs Waschbecken, ging
zur Badewanne und sah hinein. Dort, auf dem Boden der
Wanne, lag eine Miniaturausgabe von Vicky Page aus der letzten
Szene in Die roten Schuhe. Es stimmte alles: angefangen mit
dem roten Haar bis hin zum zerrissenen, fleckigen Tutu und den
roten Schuhen. Doch als ich genauer hinsah, erkannte ich Lol. Sie
lag schlaff auf dem Emaille, und eine winzige Hand zerrte am Saum
des Duschvorhangs. Als sie mich erblickte, öffnete sie den Mund,
aber es war kein Geräusch zu hören. Dann ließ sie den Duschvorhang
los und deutete auf ihre Füße.
Was ich für rote Schuhe gehalten hatte, waren ihre
Füße – die rot vor Blut waren.
Die kleineren Unirdischen überstehen die
Berührung von Eisen nicht. Mir fiel wieder ein, was Oberon im
Park gesagt hatte, als er die sterblichen Überreste der Sylphen
verstreut hatte. Blut war voller Eisen.
Schnell hob ich Lol auf und trug sie zum
Waschbecken. Dort spülte ich ihre Füße mit kaltem Wasser ab und
füllte dann das Becken, damit sie die geschundene Haut baden
konnte. Während sie am Rand sitzen blieb, fand ich eine Mullbinde
im Medizinschrank und wickelte sie um mein geritztes Handgelenk.
Als ich wieder ins Becken sah, formten sich dort Bilder im Wasser,
wie gestern im Park mit Melusine. Also hatte sie mir tatsächlich
eine Fähigkeit verliehen. Doch dieses Mal sah ich statt der
Gegenwart die Vergangenheit im Wasser. Lol, die Becky im Bad
entdeckte und versuchte, die Blutung zu stillen, die aber dann, als
das Blut über ihre Füße lief, in die Wanne gefallen war. Dort hatte
sie so lange mit dem Vorhang gerasselt, bis sie Jay geweckt
hatte.
»Danke«, sagte ich. »Du hast Becky das Leben
gerettet – und mir auch.« Sie krächzte leise und spritzte mir
Wasser ins Gesicht. »Ich weiß nicht, was mir in den Kopf gekommen
ist«, setzte ich hinzu.
Lol verschränkte die Arme vor der Brust und warf
mir einen leicht ungehaltenen Blick zu. Dann spreizte sie ihre
Flügel, schwirrte ins Wohnzimmer und schwebte über dem Fernseher
herum. Das Standbild von Robert Osborne war immer noch zu sehen,
aber es war gar nicht Robert Osborne. Es war John Dee.
»Er hat versucht, Becky dazu zu bringen, dass sie
sich umbringt, und es dann bei mir genauso gemacht.«
Lol flatterte hin und her und deutete auf den
Bildschirm. »Ja«, nickte ich. »Jetzt begreife ich. Es ist das
Versteck von John Dee. Die Gemälde und die Teppiche sind dieselben
wie die, die ich in der Höhle unter dem Fluss gesehen habe. Das
muss ich Oberon erzählen – verdammt!« Ich warf einen Blick auf die
Zeitanzeige des Kabeltuners. Es war 13:33 Uhr. Mir blieb nicht
einmal mehr eine halbe Stunde, um zum Rathaus zu kommen. »Ich muss
das Elementarwesen des Feuers kennenlernen«, erklärte ich, und als
mir einfiel, dass sie ja eine Feuerfee war, fügte ich hinzu:
»Willst du mitkommen?«
Lols lohfarbene Haut wurde kalkweiß. Sie schüttelte
den Kopf und schien plötzlich die Sprache verloren zu haben. Lol
hatte einen Vampir angegriffen und die Vergiftung durch
eisenhaltiges Blut riskiert. Ich fragte mich, was ihr wohl so viel
Angst einjagen mochte.