Engel der Wasser
017
»War das wirklich nötig?«, fragte ich Oberon, als wir wieder auf der Straße standen. »Hätten wir nicht einfach in einen Elektromarkt gehen und uns irgend so ein blödes Navigationsgerät kaufen können?«
Oberon packte meine Hand und zwang mich, ihn anzusehen. »Glaubst du, der Stein täte nichts anderes als Richtungen anzuzeigen?«
»Nein«, sagte ich und zog die Hand zurück, »er tut außerdem verdammt weh. Mein ganzer Arm ist taub. Und ich kann es sogar bis hier fühlen.« Ich schlug mir aufs Herz.
»Natürlich fühlst du es dort.« Oberon beugte sich so nahe zu mir, dass ich seinen Atem wie zornigen Wind auf meinem Gesicht spürte. »Dein Herz schlägt nun im Gleichtakt mit dem Sog der Gezeiten und der Umdrehung der Erde. Das versteht man unter geerdet sein. Du könntest nun den Weg durch den Dschungel des Amazonas ohne Kompass finden …«
»Na toll. Allerdings lebe ich in New York. Norden ist dort …« Ich deutete die Fifth Avenue hinunter, aber mein Arm zuckte und schwenkte ein paar Grad weiter nach links. »Na schön, das Netz der Straßen ist vielleicht nicht perfekt ausgerichtet, aber ich habe noch nie einen Kompass gebraucht, um mich zu orientieren. Na ja, in Brooklyn vielleicht schon …«
»Der Ort, an den du nun gehen wirst, ist etwas unübersichtlicher als Brooklyn – und gefährlicher«, sagte er, wandte sich wieder um und marschierte nun die Fifth Avenue nach Norden (beziehungsweise Nordosten) hinunter. Obwohl ich so schnell hinterhereilte, wie ich konnte, holte ich ihn erst wieder ein, als er an einer Ampel an der 57th Street stehen blieb.
»Du hättest mich wenigstens warnen können«, sagte ich, während wir warteten.
Oberon starrte die Ampel auf der anderen Seite an, die nun so unvermittelt auf Grün sprang, dass eine Reihe Taxis mit quietschenden Bremsen halten musste. »Hätte das wirklich etwas geholfen?« Er sah mich aus dem Augenwinkel an, während wir die Straße überquerten. »Bei Patienten habe ich oft festgestellt, dass die Angst vor dem Schmerz oft schlimmer ist als der Schmerz an sich.«
»Und dann schleichst du dich also an sie heran und überraschst sie mit einer Spritze?«
»Nein«, räumte er ein, hielt inne und sah mich an. »Dann würden sie mir nie wieder vertrauen.« Er sah mir prüfend ins Gesicht. »Es tut mir leid. Du hast Recht. Du verdienst zu wissen, was auf dich zukommt … es ist nur so, dass vieles von dem, was ich sehe, verdreht und verwirrend ist. Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich dir erzählen sollte.«
»Du kannst in die Zukunft sehen?« Diese Vorstellung schockierte mich; gleichzeitig stellte ich verwundert fest, dass es immer noch Dinge gab, die mich überraschen konnten. Wir waren vor dem Schaufenster eines Reisebüros stehen geblieben. Hinter Oberon erstreckte sich eine Winterlandschaft samt einer Frau im Abendkleid, die Akkordeon spielte, und einem weißen Wolf mit schwarzem Schlips und Trompete. Ein weißer Schwan flog auf die beiden zu und trug ein Notenblatt im Schnabel. Das war die Welt, in die Oberon gehörte, nicht auf den Bürgersteig, wo er sich bei einer bloßen Sterblichen wie mir entschuldigte. Zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, erkannte ich die Traurigkeit in seinen Augen – die Melancholie, die auch Noam Erdmann ergriffen und die letzte Nacht im Gesang des Windes gelegen hatte. Nun fiel mir wieder ein, was Oberon mir in dem unterirdischen Gang unter Pucks Tearoom gesagt hatte. Wir mögen früher einmal ein bedeutendes Volk gewesen sein – viele von uns wurden als Götter angebetet. Wie mochte es sich anfühlen, einst ein Gott gewesen zu sein und nun auf einer belebten Straße in Manhattan nicht einmal mehr erkannt zu werden?
»Ich sehe Ausschnitte der Zukunft, aber sie ist ständigen Veränderungen unterworfen. Sobald jemand den einmal eingeschlagenen Weg verlässt, ändert sich auch seine Zukunft.«
»Kannst du sehen, ob es mir gelingen wird, Dee aufzuspüren?«, fragte ich.
»Nein. Ich sehe dich im Dunkeln wandern. Deswegen wollte ich, dass du den Kompasskiesel bekommst – damit du dich nicht verläufst. Aber du hast Recht – ich hätte dir sagen sollen, was auf dich zukommt, und ich hätte dir eine Wahl lassen müssen.«
Ich hob die Hand. Der Kompasskiesel richtete sich gleich wieder nach Norden aus. Ein Stein bewegte sich unter meiner Haut, aber plötzlich tat es nicht mehr weh. Es fühlte sich vielmehr so an, als hielte ich einen kleinen Vogel in der Hand, eine Brieftaube, die ich in die Luft werfen konnte, damit sie mir den Weg nach Hause zeigte.
»Na schön«, sagte ich und sah Oberon wieder an. »Ich verzeihe dir. Aber nächstes Mal warnst du mich vorher, okay?«
Er grinste so breit wie der weiße Wolf auf dem Werbeplakat für die Weihnachtsferien. »Versprochen. Ich fange gleich an. Du solltest besser ans Telefon gehen. Deine Freundin Becky ruft nämlich gleich an, und sie ist ziemlich aufgelöst.« Damit setzte er seinen Weg die Fifth Avenue hinunter fort, und tatsächlich läutete in diesem Augenblick mein Telefon. Ich holte es aus meiner Tasche und folgte Oberon, während ich den Anruf annahm.
»Garet?!« Beckys Stimme überschlug sich fast. »Gott sei Dank! Ich versuche dich schon den ganzen Morgen zu erreichen, aber immer ging die Mailbox ran. Hast du dein Telefon wieder abgeschaltet?«
»Äh, nein, ich war in einer …« Fragend sah ich Oberon an, ob ihm auf die Schnelle ein akzeptabler Ersatz für Quarzdendritenkuppel des Schweigens einfiel. Seine Lippen formten das Wort U-Bahn, und er hielt mich schnell am Ellenbogen fest, damit ich beim Überqueren der 59th Street nicht über den Bordstein stolperte. »… in der U-Bahn. Tut mir leid. Ist etwas passiert? Ist etwas mit meinem Vater?«
»Nein, deinem Vater geht es gut. Ich war vorhin bei ihm, und er und Zach waren bester Laune und haben eine Show geplant. Nein, es geht um Jay. Hast du gestern Nacht mit ihm geredet?«
»Ein bisschen«, gab ich zögernd zu. Ich versuchte, mich aus Jays und Beckys Streitereien möglichst herauszuhalten. »Er hat mir gesagt, ihr hättet ein paar kreative Differenzen über die Richtung, die die Band jetzt einschlagen sollte.«
Becky schnaubte. »Er würde doch am liebsten gar keine Richtung einschlagen, sondern nur noch rückwärts gehen. Wenn er könnte, wie er wollte, dann würden wir Balalaika spielen und die Aufnahmen später als Kassetten unters Volk streuen.«
»Ja, Jay ist ein bisschen altmodisch. Weißt du doch.« Ich sah Oberon an und deutete mit einem Augenrollen an, dass ich den Disput zwischen Jay und Becky ziemlich anstrengend fand. Inzwischen waren wir im Park angelangt und hielten auf den Zoo zu. Dabei kamen wir an einem Straßenkünstler vorüber, der mit Farbkreiden auf dem Bürgersteig malte, einer Calypso-Band mit Steel Drums und einer Frau auf Stelzen, die wie das Empire State Building gekleidet war. Bei all diesen Eindrücken fiel es schwer, sich auf das Gespräch mit Becky zu konzentrieren.
»Er ist nicht mehr bloß altmodisch. Er steckt völlig in der Vergangenheit fest. Das ist nicht gesund. Ich glaube, er leidet an Depressionen.«
Ich schob das Telefon etwas von meinem Mund weg, damit Becky meinen Seufzer nicht hörte. Sie hatte vor Jahren auf der Highschool einen Psychologiekurs belegt; seitdem betätigte sie sich zu gern als Hobby-Psychologin und nahm das Seelenleben aller Menschen in unserer Umgebung auseinander. Aus irgendeinem Grund tat sie das vor allem dann, wenn sie unter Stress stand; es war, als müsste sie die Neurosen der übrigen Welt katalogisieren, um ihre eigenen unter Kontrolle zu behalten. Nun zählte sie Jays Symptome auf: Er schlief nicht mehr (allerdings wusste ich auch nicht, wann er bei dem Terminplan, den die Band in letzter Zeit hatte, dazu Gelegenheit gehabt hätte), distanzierte sich von seinen Freunden (soweit ich wusste, war Becky die Einzige, die er mied), konnte keine Beziehung pflegen (das traf in gleichem Maße auf sie selbst zu). Sie wurde hörbar immer besorgter um Jay. Nur um ganz sicherzugehen, beschloss ich, nun das Versprechen auszunutzen, das ich Oberon abgenommen hatte.
»Bleib mal einen Augenblick dran, Becky.« Ich hielt das Mikrofon zu und wandte mich an Oberon. »Siehst du in Jays Zukunft, dass ihm irgendetwas Böses zustößt?«
Oberon blieb stehen, schloss die Augen und wandte sein Gesicht zum Himmel. Wir hatten den Anfang der baumbestandenen Promenade erreicht, und die Schatten der nackten Ulmenäste spielten auf seinem Gesicht. Ich fragte mich, ob ihm so die eigene Zukunft erscheinen mochte: Schattenäste, die in die Leere hinauswuchsen.
Schließlich öffnete er die Augen. »Nein, ich sehe nichts dergleichen«, antwortete er.
»Danke.« Ich machte das Mikrofon wieder frei. »Becky, ich glaube, Jay ist wirklich okay. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich im Augenblick wirklich zu viel um die Ohren, um die Mediatorenrolle bei eurer Band zu übernehmen. Vielleicht solltest du lieber mal über die Richtung nachdenken, in die du gerade gehst.«
Es blieb so lange still am anderen Ende der Leitung, dass ich schon fürchtete, wir seien unterbrochen worden, aber dann sagte Becky: »Oh. Vielleicht hast du Recht. Ich melde mich später noch einmal.« Dann legte sie auf. Dass Becky so knapp antwortete, hatte ich kaum jemals zuvor erlebt.
»Meinst du, ich war zu hart zu ihr?«, fragte ich und steckte das Telefon wieder weg, aber Oberon schien von der Szenerie, die sich uns offenbarte, zu sehr in Anspruch genommen, um zu antworten. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich begriffen hatte, was ihn so bewegte. Als die Sonne durch die Äste fiel, glitzerte bunter Glimmer auf den Wegplatten. Es sah aus, als sei ein Kunstprojekt der dritten Klasse fürchterlich danebengegangen.
»Ist es das, was von den Sylphen übrig geblieben ist?«, fragte ich schließlich.
Oberon nickte. Auf ein Knie gestützt, fegte er eine Handvoll Glimmer zusammen und schnupperte daran. »Eisen«, stellte er fest. »Dee hat einen Nebel ausgesandt, der mit Eisenmolekülen versetzt war. Das hat sie umgebracht. Die kleineren Unirdischen überstehen die Berührung mit Eisen nicht.« Er sagte etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, stand dann wieder auf und schleuderte den Glimmer in die Luft. Ein Windstoß fuhr hinein und trug ihn bis in die Baumspitzen. Nun hörte ich ein Lied im Wind – ein Klagen, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten -, und es entstand ein Strudel in der Luft über uns. Die Blätter und der Müll, der auf dem Boden lag, rührten sich, wirbelten um unsere Füße und stiegen in immer schneller werdenden Kreisen zu der schimmernden Windhose hinauf, die sich am Himmel gebildet hatte. Dort, wo Oberon und ich standen, war die Luft völlig still. Wir waren im Auge des Sturms, der über uns tobte. Gebannt starrte ich nach oben, unfähig, mich zu rühren. So musste es sich anfühlen, inmitten eines Tornados zu stehen, dachte ich und fürchtete, wenn ich mich auch nur einen Millimeter bewegte, würde der Wind mich erfassen, emporschleudern und zerfetzen. So konnte ich nichts tun, außer den Luftströmen zuzusehen, die über uns wüteten. Erst erschienen sie ganz durchscheinend, dann verdickten sie sich – so wie Pudding auf dem Herd beim Rühren allmählich fest wird. Die Luft verwandelte sich in schimmernde Bänder, in denen die Sylphen mit langgezogenen Körpern und schmerzverzerrten Gesichtern in den Himmel getragen wurden … und dann waren sie verschwunden. Sie zerstreuten sich in viele Millionen Glimmerteilchen, und mit einem entsetzlichen Ruck löste sich die Windhose von der Erde und wirbelte in den Himmel.
Oberon bewegte die Lippen, aber ich konnte nicht hören, was er sagte. Dann knackte es in meinen Ohren, und ich konnte ihn wieder verstehen.
»Sie sind weg«, sagte er. »Ich habe sie in den Äther zurückgeschickt.«
Dann wandte er sich um und ging nordwärts die Promenade entlang, und ich folgte ihm. Eine Wolke Glimmer löste sich von seinem Haar und entzündete die Luft um ihn, als trüge er einen psychedelischen Heiligenschein.
 
Wir folgten der Promenade bis zur oberen Bethesda Terrace und gingen die Stufen hinunter zu der Engelsfontäne, die majestätisch über der unteren Terrasse und dem See aufragte. Dieser Brunnen, der den Namen Angel Of The Waters trug, zählte zu meinen Lieblingsstatuen im Park. Meine Mutter hatte mir die Bibelgeschichte von dem Engel erzählt, der in Jerusalem eine heilige Quelle zum Sprudeln gebracht hatte, um die Kranken zu heilen. Die Statue spielte eine Rolle in dem Theaterstück Angels In America und war auch kürzlich in der Fernsehserie Gossip Girl erwähnt worden, aber dennoch wurde ich es nicht müde, das ruhige Gesicht der Engelsfigur zu betrachten, die ihre Hand über den Brunnen streckte, als wolle sie das Wasser segnen. Heute rann zwar kein Wasser aus dem oberen Becken ins untere, aber trotzdem hatten sich viele Menschen um den Brunnen geschart, aßen zu Mittag, redeten oder genossen einfach die Wintersonne. Oberon setzte sich auf den Rand des Beckens und wandte sein Gesicht der Sonne zu. Glimmer lag auf seiner Haut.
»Was du da gerade mit den Sylphen gemacht hast, war das eine Art Beerdigung?«
»Ich habe ihren Geist von den Fesseln dieser Welt befreit. Ihre Atome werden von der Erde absorbiert und eines Tages in Blumen und Pflanzen und Bäumen wieder auftauchen, um dann vielleicht wieder von einer Sylphe getrunken zu werden.« Er öffnete die Augen und lächelte. Beinahe hatte ich vergessen, wie es sich anfühlte, wenn er das tat – als striche eine warme, tropische Brise über das Gesicht. »Das ist die Vorstellung der Sylphen von Reinkarnation – als Blume wiedergeboren und von einer anderen Sylphe getrunken zu werden. Es ist nur so …« Sein Lächeln verblasste, und seine Brauen zogen sich zusammen. Er wandte den Kopf ab.
»Was denn?«
»Jahr für Jahr gibt es weniger Sylphen. In jedem Winter geht ihre Population um ein paar Hundert zurück. Wenn die letzte Sylphe stirbt, dann wird niemand mehr da sein, um ihren wiedergeborenen Geist zu trinken, und ihre Rasse wird vergehen. Wie die Sleigh Beggeys oder die irischen Merrows.«
»Heißt das, Feen und Elfenvölker können aussterben?«
»Natürlich. Ich sagte doch schon, wir schwinden. Die Welt ist für die meisten zu hart, um zu überleben … aber es gibt dennoch einige wenige, die sich trotz aller Hindernisse weiter durchbeißen.« Sein Lächeln war zurückgekehrt, und er sah über meine Schulter zur oberen Terrasse. Ich folgte seinem Blick zur Treppe, wo eine schwer beladene Gestalt (es war unmöglich zu sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte) einen vollgepackten Einkaufswagen die Stufen hinunter bugsierte. Als ihr das gelungen war, sah sie auf, und ich erkannte die Obdachlose, die ich vor vier Tagen an der Greenwich Avenue gesehen hatte – die Frau mit dem nussbraunen Gesicht, die mit den Dampfschwaden sprach, in ihre Hand gespuckt und mir gewinkt hatte. Als wollte sie mich an diesen Gruß erinnern, räusperte sie sich laut und spuckte einem Geschäftsmann, der gerade seine Mittagsmahlzeit einnahm, geräuschvoll vor die polierten Schuhe. Er wiederum tat seinem Kollegen gegenüber so, als müsse er sich übergeben, knüllte die Verpackung seines Sandwichs zusammen und warf sie über den Kopf der Obdachlosen in eine Mülltonne. Auf halbem Weg kam jedoch ein Windstoß auf, bekam die Tüte zu fassen und riss sie mit sich in die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie klatschte gegen die Brust des Mannes und beschmutzte seinen Anzug mit Mayonnaise, Ketchup und Salatstückchen. Er wischte sich notdürftig sauber und ergriff angeekelt die Flucht.
Unwillkürlich lachte ich laut, und die Frau sah herüber, grinste mich zahnlos an und kam dann auf uns zu. Die Leute, die ihre Mittagspause am Brunnen verbracht hatten, rückten ab, als sie sich näherte – entweder, weil sie fürchteten, selbst angespuckt zu werden, oder vielleicht auch wegen des deutlich fischigen Geruchs, der sie umgab. Schließlich waren nur noch Oberon und ich auf der Terrasse.
»Mel«, sagte Oberon, spuckte in seine Hand und hob sie grüßend. »Schön, dass du offenbar noch immer gut zielst.«
Sie stieß ein Brummen aus. »Eigentlich sollte das Ding sein Gesicht treffen.« Dann spuckte auch sie in ihre verkrümmte, arthritische Hand und legte sie gegen Oberons. Schließlich sah sie mich an.
»Ist sie das?« Mel deutete mit einem krummen Finger auf mich. »Ist ja nicht gerade’ne überwältigende Erscheinung.« Schlurfend kam sie näher, bis ihr Gesicht nur noch Zentimeter von meinem entfernt war. Sie roch wie der East River bei Ebbe. Ich blieb ganz still stehen und betete, dass sie mich nicht anspucken würde.
»Das ist Garet James, Nachfahrin des Wachtturms Marguerite D’Arques. Garet, das ist Mel.«
Mel kommentierte meine Empfehlung mit einem missbilligenden Schniefen – aber vielleicht hatte sie auch nur den Hauch Borschtsch in meinem Atem wahrgenommen. Ich war froh, keinen Fisch bestellt zu haben. »Sie soll gegen John Dee antreten?«
»Dazu müssen wir ihn erst mal finden«, seufzte Oberon. »Gestern hat er einen Nebel hierhergebracht. Weißt du, wie er das angestellt haben könnte?«
»Vielleicht über die Dampfleitungen«, antwortete sie. »Mir ist aufgefallen, dass der Dampf, der in den Straßen aufsteigt, verunreinigt ist.« Sie schnupperte wieder und hustete Schleim hoch.
»War es das, was du an der Greenwich Avenue gemacht hast?«, fragte ich und trat unauffällig einen Schritt zurück, falls sie noch einmal ausspucken wollte. »Ich dachte, du hättest mit dem Dampf geredet.« Ich lachte über meine falsche Annahme, aber Oberon und Mel stimmten nicht mit ein.
»Mel besitzt die Fähigkeit, mit Wasser zu sprechen«, erklärte Oberon und wandte sich dann wieder an die alte Frau: »Ich hoffte, du könntest dich einmal umsehen und herausfinden, wie Dee den Nebel durch die Stadt schickt und von wo aus er es tut. Und ich dachte, du könntest Garet auch in die Geheimnisse des Wassers einweisen.«
»Gibt es dann vielleicht noch etwas, das ich für seine Majestät tun könnte, wo ich schon mal dabei bin?«, erkundigte sich Mel in bissigem Falsett. »Vielleicht noch seine Wäsche aus der Reinigung holen und seine Schuhe mit Spucke aufpolieren?« Ich hörte den Schleim in ihrer Kehle gurgeln und trat zur Seite. Die Spucke flog direkt auf Oberons Gesicht zu, aber er spitzte gemächlich die Lippen, blies die Luft aus und schickte Mels Gruß in das trockene Brunnenbecken. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er einen Wutanfall bekommen würde, aber er lächelte nur und streckte der Missetäterin die Arme entgegen.
»Mel«, schnurrte er, »wen könnte ich denn sonst fragen? Wem sonst sollte ich vertrauen, wenn nicht der Tochter von Elinas und Pressina, der Königin von Columbiers und Poitou, der Banshee von Lusignan?«
Ein Geräusch drang aus ihrer Kehle, und sie sah weg, aber ich hatte fast den Eindruck, dass Oberons Schmeicheleien ihr ein Lächeln entlockt hatten.
»Melusine!« Er sang den Namen wie eine Hymne, und die Jahre schienen von ihrem Gesicht abzufallen. Ich hatte ihn schon einmal gehört, in einer der Geschichten, die meine Mutter zu erzählen pflegte. Ein Prinz, der durch den Wald wanderte, sah einst eine wunderschöne Jungfrau an einer Quelle sitzen. Er fragte sie um ihre Hand, und sie willigte ein, nannte jedoch die Bedingung, dass er sie niemals an einem Samstag ansehen sollte. Er war einverstanden, und sie heirateten. Durch sie erlangte er Wohlstand, sie bekamen zehn Kinder und sie erbaute ihm das Schloss von Lusignan. Sie waren glücklich miteinander, bis er eines Samstags seine Neugier nicht mehr bezähmen konnte und er sie im Bad beobachtete: Von der Taille abwärts war sie eine Schlange. Doch er wahrte ihr Geheimnis, bis eines Tages ihr Sohn – ein Monster mit Reißzähnen – hundert Mönche ermordete. Dann wandte er sich gegen seine Frau und warf ihr vor, sie sei schuld am verdorbenen Blut ihres Kindes. Melusine begriff, dass ihr Geheimnis verraten worden war, verwandelte sich in eine geflügelte Schlange und flog davon. Doch später noch erschien sie stets im Schloss, wenn jemandem aus der Familie der Tod bevorstand, und das trug ihr den Titel Banshee von Lusignan ein.
Konnte dies denn dieselbe sein, dreckverschmiert und vom Alter gebeugt? Wie zur Antwort auf meine unausgesprochene Frage richtete sie sich auf und trat geschmeidig in das Brunnenbecken. Dann hob sie die knotigen Hände zu der Engelsstatue empor, und Wasser schoss aus den Öffnungen und rann über ihr zum Himmel gewandtes Gesicht. Energisch riss sie an ihrer Kleidung, warf ganze Schichten von Hemden und Pullovern, langen Über- und Unterhosen von sich, bis sie völlig nackt dastand – nackt und wunderschön. Unter dem strömenden Wasser schimmerte ihre Haut im opalisierendem Violett und Grau einer Meeresschnecke, ihr Haar fiel ihr lang und meergrün bis auf die wohlgeformten Hüften, auf denen blaue und grüne Schuppen im Sonnenlicht funkelten. Ihr langer, muskulöser Schwanz peitschte das Wasser und federte sie aus dem Brunnen durch die Luft bis an den Rand des Sees, wo sie sich hinhockte und ihr Spiegelbild bewunderte.
»Sie sieht nicht ihr Spiegelbild an«, sagte Oberon, der meine Gedanken wahrnahm. »Sie sucht nach Dee. Sie hat die Macht, im Wasser zu sehen. Geh zu ihr, sie bringt es dir bei.« Oberon gab mir einen kleinen Schubs und nahm mir die Tasche von der Schulter, als ich mich ihr vorsichtig näherte. Von allen Geschöpfen, die ich bisher kennengelernt hatte, war sie das bisher bei weitem faszinierendste. Kein Bild einer Meerjungfrau, das ich je gesehen hatte, konnte dem seltsamen Anblick ihres perlmuttschimmernden Körpers Genüge tun, der in einem Schwanz auslief … obwohl ich feststellte, als ich näher trat, dass auch ihre Haut nicht wirklich fleischig war. Sie war mit einer Art chitinartigem Panzer überzogen …
Ich beugte mich vor, um ihre Arme zu betrachten, die sie unter den Brüsten überkreuzt hatte. Sie wandte sich mir zu, die seegrasgrünen Augen blinzelten, und ich sah die Schlitze der Kiemen an ihrer Kehle und die langen, zangenartigen Klauen dort, wo ihre Hände hätten sein sollen. Ich wollte zurückweichen, aber dann sah ich ein Bild im Wasser entstehen – ein Gesicht, aber nicht Melusines. Es wirkte vertraut. Ich kniete mich neben sie und beugte mich vor, um besser sehen zu können. Kurz glaubte ich, mein eigenes Spiegelbild vor mir zu haben, doch dann erkannte ich, dass es das meiner Mutter war. Sie bewegte ihre Lippen und sprach zu mir. Noch weiter beugte ich mich vor, wollte hören, was sie sagte … oder die Worte von ihren Lippen ablesen … doch dann verschwanden ihre Züge und wichen denen von John Dee, der mich geradewegs ansah und lachte. Keuchend fuhr ich zurück. Neben mir machte Melusine ein Geräusch – ein Krächzen, das wie der Schrei eines Raubvogels klang, bevor er seine Beute schlägt. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, packte sie mein Handgelenk mit ihrer Hummerschere und zog mich mit sich ins Wasser.