Engel der Wasser
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»War das wirklich nötig?«, fragte ich Oberon, als
wir wieder auf der Straße standen. »Hätten wir nicht einfach in
einen Elektromarkt gehen und uns irgend so ein blödes
Navigationsgerät kaufen können?«
Oberon packte meine Hand und zwang mich, ihn
anzusehen. »Glaubst du, der Stein täte nichts anderes als
Richtungen anzuzeigen?«
»Nein«, sagte ich und zog die Hand zurück, »er tut
außerdem verdammt weh. Mein ganzer Arm ist taub. Und ich kann es
sogar bis hier fühlen.« Ich schlug mir aufs Herz.
»Natürlich fühlst du es dort.« Oberon beugte sich
so nahe zu mir, dass ich seinen Atem wie zornigen Wind auf meinem
Gesicht spürte. »Dein Herz schlägt nun im Gleichtakt mit dem Sog
der Gezeiten und der Umdrehung der Erde. Das versteht man unter
geerdet sein. Du könntest nun den Weg durch den Dschungel
des Amazonas ohne Kompass finden …«
»Na toll. Allerdings lebe ich in New York. Norden
ist dort …« Ich deutete die Fifth Avenue hinunter, aber mein
Arm zuckte und schwenkte ein paar Grad weiter nach links. »Na
schön, das Netz der Straßen ist vielleicht nicht perfekt
ausgerichtet, aber ich habe noch nie einen Kompass gebraucht, um
mich zu orientieren. Na ja, in Brooklyn vielleicht schon …«
»Der Ort, an den du nun gehen wirst, ist etwas
unübersichtlicher als Brooklyn – und gefährlicher«, sagte er,
wandte sich wieder um und marschierte nun die Fifth Avenue nach
Norden (beziehungsweise Nordosten) hinunter. Obwohl ich so schnell
hinterhereilte, wie ich konnte, holte ich ihn erst wieder ein, als
er an einer Ampel an der 57th Street stehen blieb.
»Du hättest mich wenigstens warnen können«, sagte
ich, während wir warteten.
Oberon starrte die Ampel auf der anderen Seite an,
die nun so unvermittelt auf Grün sprang, dass eine Reihe Taxis mit
quietschenden Bremsen halten musste. »Hätte das wirklich etwas
geholfen?« Er sah mich aus dem Augenwinkel an, während wir die
Straße überquerten. »Bei Patienten habe ich oft festgestellt, dass
die Angst vor dem Schmerz oft schlimmer ist als der Schmerz an
sich.«
»Und dann schleichst du dich also an sie heran und
überraschst sie mit einer Spritze?«
»Nein«, räumte er ein, hielt inne und sah mich an.
»Dann würden sie mir nie wieder vertrauen.« Er sah mir prüfend ins
Gesicht. »Es tut mir leid. Du hast Recht. Du verdienst zu wissen,
was auf dich zukommt … es ist nur so, dass vieles von dem, was ich
sehe, verdreht und verwirrend ist. Ich bin mir nicht sicher, wie
viel ich dir erzählen sollte.«
»Du kannst in die Zukunft sehen?« Diese Vorstellung
schockierte mich; gleichzeitig stellte ich verwundert fest, dass
es immer noch Dinge gab, die mich überraschen konnten. Wir waren
vor dem Schaufenster eines Reisebüros stehen geblieben. Hinter
Oberon erstreckte sich eine Winterlandschaft samt einer Frau im
Abendkleid, die Akkordeon spielte, und einem weißen Wolf mit
schwarzem Schlips und Trompete. Ein weißer Schwan flog auf die
beiden zu und trug ein Notenblatt im Schnabel. Das war die Welt, in
die Oberon gehörte, nicht auf den Bürgersteig, wo er sich bei einer
bloßen Sterblichen wie mir entschuldigte. Zum ersten Mal, seit ich
ihn kennengelernt hatte, erkannte ich die Traurigkeit in seinen
Augen – die Melancholie, die auch Noam Erdmann ergriffen und die
letzte Nacht im Gesang des Windes gelegen hatte. Nun fiel mir
wieder ein, was Oberon mir in dem unterirdischen Gang unter Pucks
Tearoom gesagt hatte. Wir mögen früher einmal ein bedeutendes
Volk gewesen sein – viele von uns wurden als Götter angebetet.
Wie mochte es sich anfühlen, einst ein Gott gewesen zu sein und nun
auf einer belebten Straße in Manhattan nicht einmal mehr erkannt zu
werden?
»Ich sehe Ausschnitte der Zukunft, aber sie ist
ständigen Veränderungen unterworfen. Sobald jemand den einmal
eingeschlagenen Weg verlässt, ändert sich auch seine
Zukunft.«
»Kannst du sehen, ob es mir gelingen wird, Dee
aufzuspüren?«, fragte ich.
»Nein. Ich sehe dich im Dunkeln wandern. Deswegen
wollte ich, dass du den Kompasskiesel bekommst – damit du dich
nicht verläufst. Aber du hast Recht – ich hätte dir sagen sollen,
was auf dich zukommt, und ich hätte dir eine Wahl lassen
müssen.«
Ich hob die Hand. Der Kompasskiesel richtete sich
gleich wieder nach Norden aus. Ein Stein bewegte sich unter meiner
Haut, aber plötzlich tat es nicht mehr weh. Es fühlte sich vielmehr
so an, als hielte ich einen kleinen Vogel in der Hand, eine
Brieftaube, die ich in die Luft werfen konnte, damit sie mir den
Weg nach Hause zeigte.
»Na schön«, sagte ich und sah Oberon wieder an.
»Ich verzeihe dir. Aber nächstes Mal warnst du mich vorher,
okay?«
Er grinste so breit wie der weiße Wolf auf dem
Werbeplakat für die Weihnachtsferien. »Versprochen. Ich fange
gleich an. Du solltest besser ans Telefon gehen. Deine Freundin
Becky ruft nämlich gleich an, und sie ist ziemlich aufgelöst.«
Damit setzte er seinen Weg die Fifth Avenue hinunter fort, und
tatsächlich läutete in diesem Augenblick mein Telefon. Ich holte es
aus meiner Tasche und folgte Oberon, während ich den Anruf
annahm.
»Garet?!« Beckys Stimme überschlug sich fast. »Gott
sei Dank! Ich versuche dich schon den ganzen Morgen zu erreichen,
aber immer ging die Mailbox ran. Hast du dein Telefon wieder
abgeschaltet?«
»Äh, nein, ich war in einer …« Fragend sah ich
Oberon an, ob ihm auf die Schnelle ein akzeptabler Ersatz für
Quarzdendritenkuppel des Schweigens einfiel. Seine Lippen
formten das Wort U-Bahn, und er hielt mich schnell am
Ellenbogen fest, damit ich beim Überqueren der 59th Street nicht
über den Bordstein stolperte. »… in der U-Bahn. Tut mir leid. Ist
etwas passiert? Ist etwas mit meinem Vater?«
»Nein, deinem Vater geht es gut. Ich war vorhin bei
ihm, und er und Zach waren bester Laune und haben eine
Show geplant. Nein, es geht um Jay. Hast du gestern Nacht
mit ihm geredet?«
»Ein bisschen«, gab ich zögernd zu. Ich versuchte,
mich aus Jays und Beckys Streitereien möglichst herauszuhalten. »Er
hat mir gesagt, ihr hättet ein paar kreative Differenzen über die
Richtung, die die Band jetzt einschlagen sollte.«
Becky schnaubte. »Er würde doch am liebsten gar
keine Richtung einschlagen, sondern nur noch rückwärts gehen. Wenn
er könnte, wie er wollte, dann würden wir Balalaika spielen und die
Aufnahmen später als Kassetten unters Volk streuen.«
»Ja, Jay ist ein bisschen altmodisch. Weißt du
doch.« Ich sah Oberon an und deutete mit einem Augenrollen an, dass
ich den Disput zwischen Jay und Becky ziemlich anstrengend fand.
Inzwischen waren wir im Park angelangt und hielten auf den Zoo zu.
Dabei kamen wir an einem Straßenkünstler vorüber, der mit
Farbkreiden auf dem Bürgersteig malte, einer Calypso-Band mit Steel
Drums und einer Frau auf Stelzen, die wie das Empire State Building
gekleidet war. Bei all diesen Eindrücken fiel es schwer, sich auf
das Gespräch mit Becky zu konzentrieren.
»Er ist nicht mehr bloß altmodisch. Er steckt
völlig in der Vergangenheit fest. Das ist nicht gesund. Ich glaube,
er leidet an Depressionen.«
Ich schob das Telefon etwas von meinem Mund weg,
damit Becky meinen Seufzer nicht hörte. Sie hatte vor Jahren auf
der Highschool einen Psychologiekurs belegt; seitdem betätigte sie
sich zu gern als Hobby-Psychologin und nahm das Seelenleben aller
Menschen in unserer Umgebung
auseinander. Aus irgendeinem Grund tat sie das vor allem dann,
wenn sie unter Stress stand; es war, als müsste sie die Neurosen
der übrigen Welt katalogisieren, um ihre eigenen unter Kontrolle zu
behalten. Nun zählte sie Jays Symptome auf: Er schlief nicht mehr
(allerdings wusste ich auch nicht, wann er bei dem Terminplan, den
die Band in letzter Zeit hatte, dazu Gelegenheit gehabt hätte),
distanzierte sich von seinen Freunden (soweit ich wusste, war Becky
die Einzige, die er mied), konnte keine Beziehung pflegen (das traf
in gleichem Maße auf sie selbst zu). Sie wurde hörbar immer
besorgter um Jay. Nur um ganz sicherzugehen, beschloss ich, nun das
Versprechen auszunutzen, das ich Oberon abgenommen hatte.
»Bleib mal einen Augenblick dran, Becky.« Ich hielt
das Mikrofon zu und wandte mich an Oberon. »Siehst du in Jays
Zukunft, dass ihm irgendetwas Böses zustößt?«
Oberon blieb stehen, schloss die Augen und wandte
sein Gesicht zum Himmel. Wir hatten den Anfang der baumbestandenen
Promenade erreicht, und die Schatten der nackten Ulmenäste spielten
auf seinem Gesicht. Ich fragte mich, ob ihm so die eigene Zukunft
erscheinen mochte: Schattenäste, die in die Leere
hinauswuchsen.
Schließlich öffnete er die Augen. »Nein, ich sehe
nichts dergleichen«, antwortete er.
»Danke.« Ich machte das Mikrofon wieder frei.
»Becky, ich glaube, Jay ist wirklich okay. Und wenn ich ganz
ehrlich sein soll, habe ich im Augenblick wirklich zu viel um die
Ohren, um die Mediatorenrolle bei eurer Band zu übernehmen.
Vielleicht solltest du lieber mal über die Richtung nachdenken, in
die du gerade gehst.«
Es blieb so lange still am anderen Ende der
Leitung,
dass ich schon fürchtete, wir seien unterbrochen worden, aber dann
sagte Becky: »Oh. Vielleicht hast du Recht. Ich melde mich später
noch einmal.« Dann legte sie auf. Dass Becky so knapp antwortete,
hatte ich kaum jemals zuvor erlebt.
»Meinst du, ich war zu hart zu ihr?«, fragte ich
und steckte das Telefon wieder weg, aber Oberon schien von der
Szenerie, die sich uns offenbarte, zu sehr in Anspruch genommen, um
zu antworten. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich begriffen hatte,
was ihn so bewegte. Als die Sonne durch die Äste fiel, glitzerte
bunter Glimmer auf den Wegplatten. Es sah aus, als sei ein
Kunstprojekt der dritten Klasse fürchterlich danebengegangen.
»Ist es das, was von den Sylphen übrig geblieben
ist?«, fragte ich schließlich.
Oberon nickte. Auf ein Knie gestützt, fegte er eine
Handvoll Glimmer zusammen und schnupperte daran. »Eisen«, stellte
er fest. »Dee hat einen Nebel ausgesandt, der mit Eisenmolekülen
versetzt war. Das hat sie umgebracht. Die kleineren Unirdischen
überstehen die Berührung mit Eisen nicht.« Er sagte etwas in einer
Sprache, die ich nicht verstand, stand dann wieder auf und
schleuderte den Glimmer in die Luft. Ein Windstoß fuhr hinein und
trug ihn bis in die Baumspitzen. Nun hörte ich ein Lied im Wind –
ein Klagen, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten -, und es
entstand ein Strudel in der Luft über uns. Die Blätter und der
Müll, der auf dem Boden lag, rührten sich, wirbelten um unsere Füße
und stiegen in immer schneller werdenden Kreisen zu der
schimmernden Windhose hinauf, die sich am Himmel gebildet hatte.
Dort, wo Oberon und ich standen, war die Luft völlig
still. Wir waren im Auge des Sturms, der über uns tobte. Gebannt
starrte ich nach oben, unfähig, mich zu rühren. So musste es
sich anfühlen, inmitten eines Tornados zu stehen, dachte ich
und fürchtete, wenn ich mich auch nur einen Millimeter bewegte,
würde der Wind mich erfassen, emporschleudern und zerfetzen. So
konnte ich nichts tun, außer den Luftströmen zuzusehen, die über
uns wüteten. Erst erschienen sie ganz durchscheinend, dann
verdickten sie sich – so wie Pudding auf dem Herd beim Rühren
allmählich fest wird. Die Luft verwandelte sich in schimmernde
Bänder, in denen die Sylphen mit langgezogenen Körpern und
schmerzverzerrten Gesichtern in den Himmel getragen wurden … und
dann waren sie verschwunden. Sie zerstreuten sich in viele
Millionen Glimmerteilchen, und mit einem entsetzlichen Ruck löste
sich die Windhose von der Erde und wirbelte in den Himmel.
Oberon bewegte die Lippen, aber ich konnte nicht
hören, was er sagte. Dann knackte es in meinen Ohren, und ich
konnte ihn wieder verstehen.
»Sie sind weg«, sagte er. »Ich habe sie in den
Äther zurückgeschickt.«
Dann wandte er sich um und ging nordwärts die
Promenade entlang, und ich folgte ihm. Eine Wolke Glimmer löste
sich von seinem Haar und entzündete die Luft um ihn, als trüge er
einen psychedelischen Heiligenschein.
Wir folgten der Promenade bis zur oberen Bethesda
Terrace und gingen die Stufen hinunter zu der Engelsfontäne, die
majestätisch über der unteren Terrasse und dem See aufragte. Dieser
Brunnen, der den Namen Angel Of
The Waters trug, zählte zu meinen Lieblingsstatuen im Park. Meine
Mutter hatte mir die Bibelgeschichte von dem Engel erzählt, der in
Jerusalem eine heilige Quelle zum Sprudeln gebracht hatte, um die
Kranken zu heilen. Die Statue spielte eine Rolle in dem
Theaterstück Angels In America und war auch kürzlich in der
Fernsehserie Gossip Girl erwähnt worden, aber dennoch wurde
ich es nicht müde, das ruhige Gesicht der Engelsfigur zu
betrachten, die ihre Hand über den Brunnen streckte, als wolle sie
das Wasser segnen. Heute rann zwar kein Wasser aus dem oberen
Becken ins untere, aber trotzdem hatten sich viele Menschen um den
Brunnen geschart, aßen zu Mittag, redeten oder genossen einfach die
Wintersonne. Oberon setzte sich auf den Rand des Beckens und wandte
sein Gesicht der Sonne zu. Glimmer lag auf seiner Haut.
»Was du da gerade mit den Sylphen gemacht hast, war
das eine Art Beerdigung?«
»Ich habe ihren Geist von den Fesseln dieser Welt
befreit. Ihre Atome werden von der Erde absorbiert und eines Tages
in Blumen und Pflanzen und Bäumen wieder auftauchen, um dann
vielleicht wieder von einer Sylphe getrunken zu werden.« Er öffnete
die Augen und lächelte. Beinahe hatte ich vergessen, wie es sich
anfühlte, wenn er das tat – als striche eine warme, tropische Brise
über das Gesicht. »Das ist die Vorstellung der Sylphen von
Reinkarnation – als Blume wiedergeboren und von einer anderen
Sylphe getrunken zu werden. Es ist nur so …« Sein Lächeln
verblasste, und seine Brauen zogen sich zusammen. Er wandte den
Kopf ab.
»Was denn?«
»Jahr für Jahr gibt es weniger Sylphen. In jedem
Winter
geht ihre Population um ein paar Hundert zurück. Wenn die letzte
Sylphe stirbt, dann wird niemand mehr da sein, um ihren
wiedergeborenen Geist zu trinken, und ihre Rasse wird vergehen. Wie
die Sleigh Beggeys oder die irischen Merrows.«
»Heißt das, Feen und Elfenvölker können
aussterben?«
»Natürlich. Ich sagte doch schon, wir schwinden.
Die Welt ist für die meisten zu hart, um zu überleben … aber es
gibt dennoch einige wenige, die sich trotz aller Hindernisse weiter
durchbeißen.« Sein Lächeln war zurückgekehrt, und er sah über meine
Schulter zur oberen Terrasse. Ich folgte seinem Blick zur Treppe,
wo eine schwer beladene Gestalt (es war unmöglich zu sagen, ob es
sich um einen Mann oder eine Frau handelte) einen vollgepackten
Einkaufswagen die Stufen hinunter bugsierte. Als ihr das gelungen
war, sah sie auf, und ich erkannte die Obdachlose, die ich vor vier
Tagen an der Greenwich Avenue gesehen hatte – die Frau mit dem
nussbraunen Gesicht, die mit den Dampfschwaden sprach, in ihre Hand
gespuckt und mir gewinkt hatte. Als wollte sie mich an diesen Gruß
erinnern, räusperte sie sich laut und spuckte einem Geschäftsmann,
der gerade seine Mittagsmahlzeit einnahm, geräuschvoll vor die
polierten Schuhe. Er wiederum tat seinem Kollegen gegenüber so, als
müsse er sich übergeben, knüllte die Verpackung seines Sandwichs
zusammen und warf sie über den Kopf der Obdachlosen in eine
Mülltonne. Auf halbem Weg kam jedoch ein Windstoß auf, bekam die
Tüte zu fassen und riss sie mit sich in die Richtung, aus der sie
gekommen war. Sie klatschte gegen die Brust des Mannes und
beschmutzte seinen Anzug mit Mayonnaise, Ketchup und
Salatstückchen. Er wischte sich notdürftig sauber und ergriff
angeekelt die Flucht.
Unwillkürlich lachte ich laut, und die Frau sah
herüber, grinste mich zahnlos an und kam dann auf uns zu. Die
Leute, die ihre Mittagspause am Brunnen verbracht hatten, rückten
ab, als sie sich näherte – entweder, weil sie fürchteten, selbst
angespuckt zu werden, oder vielleicht auch wegen des deutlich
fischigen Geruchs, der sie umgab. Schließlich waren nur noch
Oberon und ich auf der Terrasse.
»Mel«, sagte Oberon, spuckte in seine Hand und hob
sie grüßend. »Schön, dass du offenbar noch immer gut zielst.«
Sie stieß ein Brummen aus. »Eigentlich sollte das
Ding sein Gesicht treffen.« Dann spuckte auch sie in ihre
verkrümmte, arthritische Hand und legte sie gegen Oberons.
Schließlich sah sie mich an.
»Ist sie das?« Mel deutete mit einem krummen Finger
auf mich. »Ist ja nicht gerade’ne überwältigende Erscheinung.«
Schlurfend kam sie näher, bis ihr Gesicht nur noch Zentimeter von
meinem entfernt war. Sie roch wie der East River bei Ebbe. Ich
blieb ganz still stehen und betete, dass sie mich nicht anspucken
würde.
»Das ist Garet James, Nachfahrin des Wachtturms
Marguerite D’Arques. Garet, das ist Mel.«
Mel kommentierte meine Empfehlung mit einem
missbilligenden Schniefen – aber vielleicht hatte sie auch nur den
Hauch Borschtsch in meinem Atem wahrgenommen. Ich war froh, keinen
Fisch bestellt zu haben. »Sie soll gegen John Dee
antreten?«
»Dazu müssen wir ihn erst mal finden«, seufzte
Oberon.
»Gestern hat er einen Nebel hierhergebracht. Weißt du, wie er das
angestellt haben könnte?«
»Vielleicht über die Dampfleitungen«, antwortete
sie. »Mir ist aufgefallen, dass der Dampf, der in den Straßen
aufsteigt, verunreinigt ist.« Sie schnupperte wieder und hustete
Schleim hoch.
»War es das, was du an der Greenwich Avenue gemacht
hast?«, fragte ich und trat unauffällig einen Schritt zurück, falls
sie noch einmal ausspucken wollte. »Ich dachte, du hättest mit dem
Dampf geredet.« Ich lachte über meine falsche Annahme, aber Oberon
und Mel stimmten nicht mit ein.
»Mel besitzt die Fähigkeit, mit Wasser zu
sprechen«, erklärte Oberon und wandte sich dann wieder an die alte
Frau: »Ich hoffte, du könntest dich einmal umsehen und
herausfinden, wie Dee den Nebel durch die Stadt schickt und von wo
aus er es tut. Und ich dachte, du könntest Garet auch in die
Geheimnisse des Wassers einweisen.«
»Gibt es dann vielleicht noch etwas, das ich für
seine Majestät tun könnte, wo ich schon mal dabei bin?«, erkundigte
sich Mel in bissigem Falsett. »Vielleicht noch seine Wäsche aus der
Reinigung holen und seine Schuhe mit Spucke aufpolieren?« Ich hörte
den Schleim in ihrer Kehle gurgeln und trat zur Seite. Die Spucke
flog direkt auf Oberons Gesicht zu, aber er spitzte gemächlich die
Lippen, blies die Luft aus und schickte Mels Gruß in das trockene
Brunnenbecken. Eigentlich hatte ich erwartet, dass er einen
Wutanfall bekommen würde, aber er lächelte nur und streckte der
Missetäterin die Arme entgegen.
»Mel«, schnurrte er, »wen könnte ich denn sonst
fragen? Wem sonst sollte ich vertrauen, wenn nicht der
Tochter von Elinas und Pressina, der Königin von Columbiers und
Poitou, der Banshee von Lusignan?«
Ein Geräusch drang aus ihrer Kehle, und sie sah
weg, aber ich hatte fast den Eindruck, dass Oberons Schmeicheleien
ihr ein Lächeln entlockt hatten.
»Melusine!« Er sang den Namen wie eine Hymne, und
die Jahre schienen von ihrem Gesicht abzufallen. Ich hatte ihn
schon einmal gehört, in einer der Geschichten, die meine Mutter zu
erzählen pflegte. Ein Prinz, der durch den Wald wanderte, sah einst
eine wunderschöne Jungfrau an einer Quelle sitzen. Er fragte sie um
ihre Hand, und sie willigte ein, nannte jedoch die Bedingung, dass
er sie niemals an einem Samstag ansehen sollte. Er war
einverstanden, und sie heirateten. Durch sie erlangte er Wohlstand,
sie bekamen zehn Kinder und sie erbaute ihm das Schloss von
Lusignan. Sie waren glücklich miteinander, bis er eines Samstags
seine Neugier nicht mehr bezähmen konnte und er sie im Bad
beobachtete: Von der Taille abwärts war sie eine Schlange. Doch er
wahrte ihr Geheimnis, bis eines Tages ihr Sohn – ein Monster mit
Reißzähnen – hundert Mönche ermordete. Dann wandte er sich gegen
seine Frau und warf ihr vor, sie sei schuld am verdorbenen Blut
ihres Kindes. Melusine begriff, dass ihr Geheimnis verraten worden
war, verwandelte sich in eine geflügelte Schlange und flog davon.
Doch später noch erschien sie stets im Schloss, wenn jemandem aus
der Familie der Tod bevorstand, und das trug ihr den Titel Banshee
von Lusignan ein.
Konnte dies denn dieselbe sein, dreckverschmiert
und vom Alter gebeugt? Wie zur Antwort auf meine unausgesprochene
Frage richtete sie sich auf und trat geschmeidig
in das Brunnenbecken. Dann hob sie die knotigen Hände zu der
Engelsstatue empor, und Wasser schoss aus den Öffnungen und rann
über ihr zum Himmel gewandtes Gesicht. Energisch riss sie an ihrer
Kleidung, warf ganze Schichten von Hemden und Pullovern, langen
Über- und Unterhosen von sich, bis sie völlig nackt dastand – nackt
und wunderschön. Unter dem strömenden Wasser schimmerte ihre Haut
im opalisierendem Violett und Grau einer Meeresschnecke, ihr Haar
fiel ihr lang und meergrün bis auf die wohlgeformten Hüften, auf
denen blaue und grüne Schuppen im Sonnenlicht funkelten. Ihr
langer, muskulöser Schwanz peitschte das Wasser und federte sie aus
dem Brunnen durch die Luft bis an den Rand des Sees, wo sie sich
hinhockte und ihr Spiegelbild bewunderte.
»Sie sieht nicht ihr Spiegelbild an«, sagte Oberon,
der meine Gedanken wahrnahm. »Sie sucht nach Dee. Sie hat die
Macht, im Wasser zu sehen. Geh zu ihr, sie bringt es dir bei.«
Oberon gab mir einen kleinen Schubs und nahm mir die Tasche von der
Schulter, als ich mich ihr vorsichtig näherte. Von allen
Geschöpfen, die ich bisher kennengelernt hatte, war sie das bisher
bei weitem faszinierendste. Kein Bild einer Meerjungfrau, das ich
je gesehen hatte, konnte dem seltsamen Anblick ihres
perlmuttschimmernden Körpers Genüge tun, der in einem Schwanz
auslief … obwohl ich feststellte, als ich näher trat, dass auch
ihre Haut nicht wirklich fleischig war. Sie war mit einer Art
chitinartigem Panzer überzogen …
Ich beugte mich vor, um ihre Arme zu betrachten,
die sie unter den Brüsten überkreuzt hatte. Sie wandte sich mir zu,
die seegrasgrünen Augen blinzelten, und ich sah
die Schlitze der Kiemen an ihrer Kehle und die langen,
zangenartigen Klauen dort, wo ihre Hände hätten sein sollen. Ich
wollte zurückweichen, aber dann sah ich ein Bild im Wasser
entstehen – ein Gesicht, aber nicht Melusines. Es wirkte vertraut.
Ich kniete mich neben sie und beugte mich vor, um besser sehen zu
können. Kurz glaubte ich, mein eigenes Spiegelbild vor mir zu
haben, doch dann erkannte ich, dass es das meiner Mutter war. Sie
bewegte ihre Lippen und sprach zu mir. Noch weiter beugte ich mich
vor, wollte hören, was sie sagte … oder die Worte von ihren Lippen
ablesen … doch dann verschwanden ihre Züge und wichen denen von
John Dee, der mich geradewegs ansah und lachte. Keuchend fuhr ich
zurück. Neben mir machte Melusine ein Geräusch – ein Krächzen, das
wie der Schrei eines Raubvogels klang, bevor er seine Beute
schlägt. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, packte sie mein
Handgelenk mit ihrer Hummerschere und zog mich mit sich ins
Wasser.