Der heilige Löwe
007
Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich so verkatert, als sei ich um die Häuser gezogen und hätte ein Dutzend Tequila getrunken. Als ich mit müden Schritten in mein Studio stolperte, begrüßte mich der böse Blick von Riesenmaul, der mich von meinem verkohlten Arbeitstisch aus ansah. Was war nur in mich gefahren?
Ja, was war in mich gefahren?
Roman hatte gesagt, die Einbrecher seien von Dämonen besessen gewesen. Letzte Nacht hatte ich mich selbst so gefühlt, als hätten die Dämonen der Verzweiflung und des Selbsthasses von mir Besitz ergriffen, und dann war Riesenmaul lebendig geworden und hatte mich angefallen. Oder zumindest war es mir so vorgekommen. Es hätte auch Einbildung sein können, so wie die Muster auf der kleinen Schatulle eine reine Sinnestäuschung gewesen sein mochten. Vielleicht stimmte etwas nicht mit meinen Augen … oder mit meinem Kopf. Was, wenn ich einen Gehirntumor hatte? Vielleicht sollte ich mich selbst im St. Vincent’s anmelden und ein CT machen lassen? Allerdings fürchtete ich, wenn ich einem Arzt erzählte, was ich in den letzten Tagen alles gesehen hatte, dann würde es möglicherweise schwierig werden, wieder aus dem Krankenhaus herauszukommen.
In der Hoffnung, das wachsende Gefühl der Verzweiflung mit einer Kanne starken Tees zu vertreiben, ging ich nach unten. In der Küche saß Becky und studierte die New York Times. Sie war so in einen Artikel vertieft, dass ich schon fast direkt vor ihr stand, bevor sie mich bemerkte. Dann aber fuhr sie erschrocken hoch, knüllte die Zeitung zusammen und versuchte, sie hastig auf ihrem Schoß unter den Tisch zu schieben.
»Was ist denn?«, fragte ich. »Habt ihr eine schlechte Kritik bekommen? Was für Dreckskerle. Lass mich mal sehen.«
»Nein, es ist keine Kritik. Wir hatten sogar einen ziemlich guten Abend – es war ein Typ von einer großen Plattenfirma da, und er sagte, dass er zu unserem Konzert heute Abend im Apollo einen Produzenten mitbringen will. Nein, wir haben keine schlechte Kritik bekommen. Echt nicht.«
»Das ist doch toll«, sagte ich und warf Becky einen langen Blick zu. So nervös hatte ich sie nicht mehr erlebt, seit sie die Zugangsprüfung fürs Jurastudium abgelegt hatte, damals, als sie ihrer Mutter zuliebe noch eine Karriere als Anwältin anstrebte.
»Ja … egal, ich habe jedenfalls ein paar Scones in den Ofen geschoben und einen Tee aufgegossen. Du solltest eine Tasse trinken, du siehst schrecklich aus.«
»Danke, Becky. Mach ich.« Als ich die Hand ohne Topfhandschuh zur Ofenklappe ausstreckte, sprang Becky auf, um zu verhindern, dass ich mich verbrannte. Die Zeitung rutschte auf den Boden, und schnell schlug ich sie auf der Seite auf, die sie gelesen hatte. Es war der Lokalteil, und der Artikel handelte von dem Einbruch in die James Gallery: »Galerie im Village ausgeraubt – zweiter Diebstahl in zehn Jahren.«
»Zweiter Diebstahl«, las ich laut. »Als wären wir das einzige Unternehmen in New York, in das innerhalb von zehn Jahren mehr als einmal eingebrochen wurde.«
»Diese Arschlöcher«, knurrte Becky, als sie die Scones aus dem Ofen holte. »Lass dich davon nicht herunterziehen, Süße. Die wissen doch gar nicht, wovon sie reden.«
Während ich den Rest des Artikels überflog, verstärkte sich mein ungutes Gefühl. Der Reporter hatte die zehn Jahre alten Betrugsvorwürfe gegen meinen Vater wieder ausgegraben. Natürlich stand dort nicht wörtlich, dass an diesem Einbruch irgendetwas verdächtig war, aber zwischen den Zeilen war es deutlich zu lesen. Der Text endete mit dem Satz: »Seitens der Galerie war trotz mehrfacher Bemühungen niemand für eine Stellungnahme zu erreichen.«
»Als hätte ich jetzt, da Roman im Krankenhaus liegt, nichts Besseres zu tun, als mich bei irgendeiner Zeitung zu melden«, brummte ich und warf einen schuldbewussten Blick auf den blinkenden Anrufbeantworter. Andererseits würde ich mir die Nachrichten ohnehin früher oder später anhören müssen.
»Diese Arschlöcher«, wiederholte Becky und schob mir den Teller mit den Scones zu.
»Hm«, sagte ich und nahm mir eins. »Komisch, ich dachte, wir hätten gestern Abend gar nicht mehr so viele übrig gelassen. Gar keine eigentlich.«
»Dachte ich auch, aber die Tüte war noch fast voll, als ich heute Morgen herunterkam.« Sie biss in das Gebäck, schloss die Augen und stieß ein sanftes Maunzen aus.
»Komisch.« Dann biss auch ich hinein, schloss die Augen und gab mich kurz ganz dem Genuss hin. Augenblicklich fühlte ich mich besser. Dieser Artikel war nicht weiter schlimm. Wenn ich John Dee ausfindig machen konnte, würden die Polizeiermittlungen sicher gleich in eine ganz andere Richtung gehen. Das Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich John Dee aufspüren sollte.
Schließlich öffnete ich die Augen wieder und fegte einen Krümel beiseite, der auf die Zeitung gefallen war. Meine Finger strichen über einen Namen. Über einen Namen, den ich kürzlich erst gelesen hatte, ich wusste nur nicht mehr, wo.
»Will Hughes, erfolgreicher Hedgefonds-Manager auch in schweren Zeiten«, verkündete die Schlagzeile. »Will Hughes erklärte, sein Fonds Black Swan Partners LP, habe seit Beginn des Jahres Zuwächse von vierzehn Prozent verzeichnen können, trotz der dramatischen Abstürze aller Börsenindizes in diesem Jahr.«
»Will Hughes«, wiederholte ich laut. »Das ist der Name, der auf dem Papier aus der kleinen Schatulle stand. Komisch, dass sich sein Fonds Black Swan nennt …« Ich blätterte auf die nächste Seite, wo ein Foto des besagten Brokers abgedruckt war, wie er vor dem Portal eines Gebäudes im Tudorstil stand.
»Hey, der sieht ziemlich gut aus«, sagte Becky.
Das stimmte – gewelltes, hellbraunes Haar umrahmte hohe Wangenknochen, helle Augen unter dunklen Wimpern und einen vollen, sinnlichen Mund. Aber es war nicht der Mann, der meinen Blick auf sich zog, sondern das Wappen auf dem Torbogen über seinem Kopf. Es war genau dasselbe Motiv wie auf meinem Ring und auf der Schatulle.
 
Becky bezweifelte, dass es mir gelingen würde, einen milliardenschweren Hedgefonds-Manager einfach so anzurufen und einen Termin mit ihm zu vereinbaren. »Wie willst du überhaupt seine Nummer in Erfahrung bringen?«, fragte sie.
»Über Chuck Chennery«, erklärte ich.
Also rief ich Chuck an, der mir zunächst seine höflichen Genesungswünsche für Roman übermittelte – in seiner steifen Kaufmannsart hätte er niemals durchblicken lassen, dass an der ganzen Sache etwas undurchsichtig war, obwohl er die Geschichte meines Vaters sicherlich kannte. Dann fragte ich ihn, ob er mir Will Hughes’ Telefonnummer besorgen konnte.
»Will Hughes von Black Swan Partners?«, fragte Chuck. »Darf ich fragen, wieso?«
»Ich habe das Wappen wiedererkannt, das auf seinem Foto in der Times von heute über seinem Kopf zu sehen ist«, erklärte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe eine ganz ähnliche Gussform und dachte, er könnte vielleicht an einem Medaillon interessiert sein.«
»Ha! Vielleicht können Sie ihn dazu bringen, dass er gleich hundert Stück abnimmt, Garet. Die kann er dann als Weihnachtsgeschenke an seine Fonds-Partner verteilen.«
Chuck schaltete kurz auf die Warteschleife, während seine Sekretärin die Nummer heraussuchte. Ich zeigte Becky den erhobenen Daumen und winkte Jay, der gerade triefäugig und unrasiert in die Küche schlurfte, zur Begrüßung stumm zu. Dann schrieb ich mir die Nummer auf, während Becky Jay erklärte, was gerade vor sich ging.
»Und jetzt«, sagte sie, nachdem ich mich von Chuck verabschiedet hatte, »machen wir uns mal ein paar Gedanken darüber, wie wir an Will Hughes …« Aber ich hatte die Nummer schon gewählt. Die Mailbox sprang an.
»Mr. Hughes«, sprach ich ihm aufs Band. »Mein Name ist Garet James, und ich glaube, ich habe den Siegelring Ihrer Vorfahren.« Dann hinterließ ich meine Mobilnummer und legte auf.
»Das war alles?«, fragte Becky, die auf ihrem Stuhl herumrutschte.
»Ja«, nickte ich knapp und reichte ihr mein Telefon. »Ich gehe jetzt unter die Dusche. Sagt Bescheid, falls er anruft.«
 
Ich duschte besonders lang und ausgiebig. Meine Haare wusch ich zweimal und massierte anschließend eine Pflegecremespülung mit Lavendelnote ein. Der Geruch erinnerte mich stets an meine Mutter. Sie hatte als Kind die Sommer in Südfrankreich verbracht und später genau das am meisten vermisst – die großen Lavendelfelder. Sie zog Pflänzchen in Kübeln in unserem kleinen Garten, band später die abgeschnittenen Blütenstände mit lila Bändern zusammen und hängte sie zum Trocknen an Haken in der Küche auf. Dann nähte sie die getrockneten Blüten in kleine Säckchen, die sie in die Wäscheschränke und Schubladen legte. Als ich dieses Aroma einatmete, fühlte ich mich ruhig und rein.
Dann zog ich mich an: schwarze Hosen, ein frisches, weißes Baumwollshirt und darüber einen grünen Kaschmirpullover, bequeme Kleidung, aber dennoch adrett genug, um nötigenfalls der Polizei oder irgendwelchen Reportern im Krankenhaus gegenüberzutreten. Bevor ich wieder nach unten ging, setzte ich mich auf mein Bett und las den ganzen Artikel über Will Hughes.
 
Will Hughes erklärte, sein Fonds Black Swan Partners LP habe seit Beginn des Jahres Zuwächse von vierzehn Prozent verzeichnen können, trotz der dramatischen Abstürze aller Börsenindizes in diesem Jahr. »Meine Strategie fußt auf historischen Equity-Mustern«, sagte Hughes gegenüber der New York Times, »und vermutlich bin ich schon länger und detaillierter Teil der Börsenannalen als die meisten anderen Anleger.« Anstelle weiterer Erläuterungen sagte Hughes lediglich, seine Familie handle seit Generationen an der Börse und habe von daher Zugang zu vielen privaten Aufzeichnungen, die der interessierten Öffentlichkeit nicht zugänglich seien. Hughes’ außerordentlich hohe Erträge haben in diesem Jahr zu einem großen Kapitalzufluss geführt. Hughes wollte keine genauen Zahlen nennen, aber es gilt als gesichert, dass er vorher bereits mehr als fünf Milliarden Dollar verwaltete, und seiner Aussage zufolge handelt es sich bei den zusätzlichen Geldern um »erhebliche« Summen. »Ich werde von so vielen Investoren angesprochen, dass ich gegenwärtig darüber nachdenke, einen zweiten Fonds aufzulegen, Green Hill Partners, der stärker sozial und umweltverträglich ausgerichtet sein könnte als Black Swan«, sagte Hughes. »Vielleicht ein Fonds, der auch den Tierschutz berücksichtigt. Das ist schon lange ein Traum von mir.« Darauf angesprochen, dass nachhaltige Investitionen in dem Ruf stehen, weniger lukrativ zu sein als Mainstream-Papiere, gab Hughes trocken zurück, er betrachte Investitionen in den heutigen Markt ohnehin nicht als »lukrativ«. Ein Investor braucht einen Qualitätsmanager, der aus der Vergangenheit lernt und die Zukunft studiert, und keinen Fantasten, der dumme Risiken eingeht. Nur darauf kommt es an.
 
Ich legte die Zeitung zur Seite und griff nach meinem Anhänger, den ich vor dem Schlafengehen auf den Nachttisch gelegt hatte. Doch statt dem Anhänger hielt ich plötzlich das silberne Siegel in Händen, das die Schatulle verschlossen hatte. Ich hatte es vor zwei Nächten dort liegen lassen, nachdem ich das Kästchen geöffnet hatte, und darunter schlummerte noch das einzige Papierstückchen von nennenswerter Größe, das nicht zu Asche zerfallen war – und auf dem Will Hughes’ Name stand. Nun nahm ich den Zettel wieder zur Hand und versuchte erneut, die Zeichen über der Unterschrift und dem Siegel zu lesen, aber die Buchstaben waren so winzig, dass ich sie nicht erkennen konnte. Es war, als hätte der Autor dieser Zeilen versucht, seine Botschaft zu verschlüsseln.
Also ging ich ins Studio, holte die Juwelierlupe aus meiner Tasche, legte das Papier auf den Arbeitstisch auf einen hellen Sonnenfleck und betrachtete es durch das Vergrößerungsglas. Die Worte waren nun größer, ergaben aber keinen Sinn. Kopfschüttelnd hob ich den kleinen Fetzen auf, und im Sonnenlicht wurde das zarte Material geradezu durchsichtig. Schwarz schwebte die Schrift in der Luft wie ein geflügeltes Wort. Noch immer nicht zu entziffern, aber … einer Eingebung folgend drehte ich das Papier um, und die rätselhafte Schrift verwandelte sich in englische Wörter. Unter der Lupe konnte ich nun zwei Zeilen entziffern, die aus einem Gedicht zu stammen schienen:
Dann, abgelenkt, der Schwan fliegt plötzlich auf
und schwarzer Flügelschlag beherrscht den Himmelslauf.
Das Bild, das sie heraufbeschworen, erinnerte auf geradezu unheimliche Weise an meinen Traum, in dem der schwarze Schwan aus dem silbernen See aufgeflogen war. Einen Augenblick war mir, als hörte ich die Flügel wieder schlagen, aber ich schüttelte den Kopf, und das Geräusch verstummte. Nur noch das Klopfen meines eigenen Herzens war zu hören. War es möglich, dass dieser Mann, Will Hughes, der einen nach dem Schwarzen Schwan benannten Hedgefonds verwaltete und unter einem Wappen posierte, das dem auf dem Siegel der Schatulle glich, irgendwie mit demjenigen, der diese Worte verfasst hatte, in Beziehung stand? Wieder schüttelte ich den Kopf, aber dieses Mal, weil ich das seltsame, klaustrophobische Gefühl hatte, die Dinge würden sich um mich zusammenziehen. Es waren zu viele Zufälle … zu viele Verbindungen. Aber dann wiederum … wenn Will Hughes tatsächlich etwas mit diesem Kästchen zu tun hatte, würde er mir vielleicht dabei helfen können, es wiederzufinden.
Als ich zurück nach unten ging, fühlte ich mich seltsam leicht. Die Sonne schien, meinem Vater würde es bald wieder bessergehen, und ich hatte eine Spur, die mir vielleicht helfen würde, seine Unschuld zu beweisen. In der Küche sahen mir Jay und Becky jedoch mit schockierten Gesichtern entgegen, und ich fürchtete eine neue Hiobsbotschaft. Es war jedoch nichts Schreckliches passiert, nur etwas sehr Überraschendes.
»Will Hughes hat vor zehn Minuten angerufen«, begann Jay, wurde aber von Becky, die auf ihrem Stuhl herumrutschte, unterbrochen:
»Er schickt einen Wagen, der dich um vier Uhr abholt. Du sollst den Ring mitbringen.«
 
Meine gute Stimmung hielt auch auf dem Weg zum Krankenhaus an. Der Tag war frisch und klar, mild für Mitte Dezember – alle Spuren des übelriechenden Regens und Nebels von gestern Abend waren einem strahlend blauen Himmel gewichen. Die einzigen Überbleibsel des verrückten Wetterphänomens waren die Pfützen dreckigen Wassers, das die Ladenbesitzer von Greenwich von den Bürgersteigen fegten. Ich winkte dem Pärchen zu, das das kleine Teegeschäft Tea & Sympathy führte und sagte ihnen guten Morgen – nur, um ihren britischen Akzent zu hören und mit »Herzchen« angesprochen zu werden. Einer obdachlosen Frau, die im Schneidersitz auf der Bordsteinkante saß und sich angestrengt mit den Dampfwolken unterhielt, die aus einem Kanalschacht drangen, gab ich ein paar Dollar. Sie hob ihr nussbraunes Gesicht zu mir empor, senkte es wieder, spuckte in ihre Hand und winkte mir dann zu. Ich ging zunächst am Krankenhaus an der 7th Avenue vorüber und hielt auf die französische Bäckerei Lafayette zu, wo es einen Apfelstrudel gab, der meinen Vater an den erinnerte, den meine Mutter zu backen pflegte.
Auf dem Weg kam ich an Tibet Kailash vorüber, einer tibetischen Kleider- und Geschenkboutique, in der ich oft einkaufte. Das Fenster hing voller leuchtender Seidenkleidung, die mich an das Tuch erinnerte, das Obie Smith gestern um den Kopf getragen hatte. Der Laden hatte normalerweise nicht so früh geöffnet, aber als mich der Besitzer vor dem Schaufenster stehen sah, schloss er auf. Es roch herrlich nach Sandelholz und Rosenwasser. Ich suchte einen bunten Seidenschal mit eingewebten Goldund Silberfäden aus und legte ihn auf den Ladentisch.
»Ich glaube, diesen Duft habe ich hier noch nie gerochen«, sagte ich, als der Besitzer den Schal in lila Papier einschlug und in eine kleine orangefarbene Tüte steckte (ein Grund, weshalb ich hier so gern Mitbringsel erstand, war der, dass sie so schön eingepackt und oft noch mit einem Gedicht des Dalai Lama versehen waren).
»Die Straße hatte heute Morgen einen eigenwilligen Geruch«, sagte er. »Damit bekommt man ihn weg. Hier …« Er legte ein paar kleine Räucherkerzen in die Tüte. »Wenn es nochmal so einen Nebel gibt, dann zünden Sie ein paar von denen an.«
»Das mache ich, danke schön. Ich hoffe allerdings, dass wir nicht noch einmal so ein Wetter bekommen. Ich hatte furchtbare Migräne.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir werden so etwas noch viel öfter erleben – und schlimmer.« Damit legte er drei Gebetskärtchen zu dem Schal.
Ich versuchte, die Worte des Tibeters abzuschütteln, als ich weiterging, aber meine Stimmung war nun doch ein wenig getrübt. Der Duft, der aus der Bäckerei drang, belebte mich wieder etwas, und ich fühlte mich besser, als ich das Zimmer meines Vaters betrat und sah, dass er aufgerichtet im Bett saß. Sein Gesicht hatte wieder eine gesündere Farbe, und seine Augen waren wach.
»Margaret«, rief er, als er mich sah. »Du wirst nicht glauben, wer mich gestern Abend besucht hat!«
»Gestern Abend? Ich war doch bis zum Ende der Besuchszeit hier.«
Er machte eine ablehnende Handbewegung, als ich ihm ein Stück Apfelstrudel hinhielt, und hielt meine Hand fest. »Santé Leone!«
»Santé Leone?«, wiederholte ich und setzte mich auf die Bettkante.
»Du erinnerst dich doch sicher noch an ihn? Er stammte aus Haiti und hat diese riesigen Leinwände mit tropischen Farben gestaltet …«
»Ja, ich erinnere mich an ihn, Dad. Es ist nur …«
»Es war so großartig, ihn wiederzusehen! Und das Beste ist …« Er zog mich an sich und flüsterte: »Er malt wieder! Seine Kleider waren mit frischer Farbe in allen Schattierungen bespritzt! Er sagte, er hätte ein Dutzend neuer Gemälde für mich. Weißt du, was die Leute für einen neuen Santé Leone zahlen würden?«
»Millionen, Dad. Bestimmt Millionen.«
»Darauf kannst du dich verlassen! Siehst du, ich habe immer gesagt, dass sich etwas ergeben würde. Unsere finanziellen Probleme sind gelöst.« Er ließ meine Hand los und sank wieder in die Kissen.
»Gut, Dad«, sagte ich und strich mit der Hand über seine Stirn. Sie fühlte sich warm an, aber nicht fiebrig. »Das ist wunderbar. Ruh dich einen Augenblick aus. Ich werde sehen, ob ich deinen Arzt finden kann.«
Er schloss die Augen und schlief sofort leise schnarchend ein.
»Er hat seit vier Uhr morgens auf Sie gewartet, um Ihnen davon zu erzählen, dass ihn Sankt Leon besucht hat.« Ein Mann lehnte in der Tür. Ohne seinen weißen Kittel brauchte ich einen Augenblick, um Obie Smith zu erkennen. Er trug stattdessen einen schwarzen, langen Ledermantel über schwarzen Jeans und einem orangefarbenen Seidenhemd. Seine langen Dreadlocks, die er gestern noch mit einem Stirnband gebändigt hatte, hingen ihm nun offen über den Rücken.
»Sankt Leon«, wiederholte ich. »Ich habe lange nicht mehr gehört, dass ihn jemand so genannt hat.« Santé Leone – Sankt Leon – war Anfang der Achtzigerjahre von Haiti nach New York gekommen, nachdem er ein Stipendium am Pratt Institute gewonnen hatte. Schon bald jedoch kehrte er seinen Studien den Rücken und hinterließ stattdessen überall in Manhattan riesige Wandmalereien, die er stets mit seinem Zeichen versah – einem stilisierten Löwen mit Heiligenschein, der eine Pfote erhob. Sankt Leon, der heilige Löwe. Mein Vater spürte ihn schließlich in dem ausgebrannten Wohnblock auf der Lower East Side auf, in dem er lebte – oder eher kampierte – und kaufte sechs seiner Bilder. Er förderte die Karriere des jungen Haitianers, verköstigte ihn in unserem Haus, führte ihn in die Kunstszene ein und organisierte seine erste Ausstellung. Doch am Abend, bevor seine Arbeiten bei der Whitney Biennial vorgestellt werden sollten, starb Santé an einer Überdosis Heroin.
»Mein Vater glaubte stets, er hätte etwas tun können, um ihn zu retten«, sagte ich, stand auf und ging zu Obie Smith hinüber. »Ich hoffe, dass er jetzt an ihn denkt, heißt nicht, dass diese Schuldgefühle ihn wieder überwältigen.«
Obie Smith schüttelte den Kopf. »Er sagte, Santé sei gekommen, um ihm zu sagen, dass er ihm nichts vorwerfe.«
Schnell drehte ich den Kopf beiseite, um die Tränen zu verbergen, die mir in die Augen schossen. »Hier«, ich hielt ihm die orangefarbene Tüte hin. Sie passte genau zu seinem Hemd. »Sie waren so freundlich, ich wollte mich …«
»Sie müssen sich nicht bei mir bedanken«, sagte er und nahm die Tasche. »Ich tue nur meine Pflicht.« Als er das Päckchen öffnete, lächelte er angesichts des bunten Schals, dann zog er ihn so schwungvoll aus der Verpackung, dass er wie ein exotischer Schmetterling durch die Luft flatterte, bevor er sich um seinen Hals schlang.
»Er steht Ihnen gut.«
»Das glaube ich«, sagte er und grinste. Dann verbeugte er sich höflich vor mir und wirbelte herum. Der schwarze Mantel bauschte sich wie ein Cape, und dann wandte er sich zum Gehen. Sein federnder Schritt weckte den Eindruck, als bewegte er sich zu Musik, die nur er allein hören konnte. Ich sah ihm nach, bis er das Ende des langen Flurs erreicht hatte. Bevor er um die Ecke bog, drehte er sich zu mir um und schenkte mir noch ein breites Lächeln.
Dass er mich dabei erwischt hatte, wie ich ihm nachsah, ließ mich erröten, und schnell wandte ich mich ab … um beinahe mit Detective Joe Kiernan zusammenzustoßen.
»Oh, schön, ich freue mich, dass Sie hier sind«, sagte er, fasste mich am Arm und schob mich zu einem der Aufenthaltsräume.
»Ich besuche meinen Vater, Detective Kiernan.« Entschieden schüttelte ich seinen Griff ab und ging zum Krankenzimmer zurück, aber Kiernan überholte mich und stellte sich mir in den Weg. »Was denn? Geht es um irgendwelche Aussagen meines Vaters? Wissen Sie, ich glaube nicht, dass irgendetwas, das er unter Medikamenteneinfluss ausgesagt haben mag, als Beweis zugelassen …«
»Es geht nicht um die Dinge, die Ihr Vater gesagt hat. Sondern um das, was die Männer sagen, die bei Ihnen eingebrochen sind.«
»Sie haben sie tatsächlich geschnappt?«, fragte ich ehrlich überrascht und erfreut über diese Entwicklung. Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben, dass mein Vater in den Überfall verwickelt gewesen war, und wir würden die Bilder zurückbekommen. »Das ist ja großartig! Hatten sie auch das silberne Kästchen bei sich?«
Kiernan warf mir einen seltsamen Blick zu. »Sie hatten Ihre Pissarros, Miss James. Von einem silbernen Kästchen war keine Spur.«
»Oh … das ist schade … aber Gott sei Dank sind die Pissarros wieder da. Das sind wirklich gute Neuigkeiten.«
»Leider nicht nur. Die beiden Männer haben in Einzelverhören ausgesagt, dass Ihr Vater sie dazu angestiftet hat, den Einbruch zu begehen.«
 
Im St. Vincent’s darf man keine Mobiltelefone benutzen, weswegen ich nach dem Gespräch mit Detective Kiernan nach draußen ging, um Chuck Chennery anzurufen.
»Das kann ich mir von Ihrem Vater einfach nicht vorstellen«, sagte Chuck mit seinem vornehmen Akzent. »Das ist ein abgekartetes Spiel. Ich werde mich mit Dave Reiss aus unserer Strafrechtsabteilung besprechen, und dann kommen wir später zu Ihnen ins Krankenhaus.«
Ich bedankte mich und ging zu meinem Vater. Er war inzwischen wieder wach und stritt sich mit einer Schwester über sein Frühstück.
»Ich mach das schon«, sagte ich der Pflegerin.
Nachdem sie gegangen war, stellte ich das Tablett mit den glibberigen Eiern und dem wässrigen Wackelpudding zur Seite und gab ihm den Apfelstrudel von Lafayette’s. Er schien sich nicht daran zu erinnern, dass ich ihm das Gebäck vorhin bereits angeboten hatte – oder dass ich überhaupt da gewesen war -, und von daher erwähnte ich nicht, dass Santé Leone ihn »besucht« hatte. Als er den Strudel aufgegessen und ich die Krümel von seiner Bettdecke gefegt hatte, erklärte ich ihm vielmehr, ihm eine Frage stellen zu müssen.
»Bitte versprich mir, dass du dich nicht aufregst«, sagte ich. »Ich werde dich nur ein einziges Mal fragen und alles akzeptieren, was du mir darauf antwortest.« Ich holte tief Luft. »Die Polizei hat die Männer gefasst, die in die Galerie eingebrochen sind …«
»Das ist ja großartig …«
»… und sie sagen, du hättest Ihnen den Auftrag dazu gegeben.«
Alle Farbe wich aus dem Gesicht meines Vaters, und seine Hände verkrampften sich um den Saum seiner Bettdecke. Es tat mir leid, ihm das sagen zu müssen, aber es war besser, wenn er es von mir erfuhr und nicht von irgendeinem Polizeibeamten. »Margaret«, sagte er – und er nannte mich nur dann bei meinem vollen Namen, wenn etwas Ernstes oder Folgenschweres geschehen war. »Glaubst du, ich würde solche … Schattenwesen in unser Haus bringen?«
»Ich glaube, was du mir sagst, Dad. Hast du?«
»Bei der Erinnerung an deine Mutter, ich schwöre, dass ich nichts damit zu tun hatte.«
Ich drückte seine Hand und lockerte den Griff um die zerknüllte Decke. »Okay, Dad, das genügt mir. Chuck Chennery ist auf dem Weg hierher und bringt einen Strafrechtspezialisten aus seiner Kanzlei mit. Wir kümmern uns um diese Sache. Du darfst mit niemandem außer mir, Chuck und dem anderen Anwalt darüber reden. Okay?«
Mein Vater streckte den Zeigefinger in die Luft, wie er es immer tat, wenn er auf etwas hinweisen wollte. »Du hast deine Mutter vergessen.«
»Was ist mit ihr?«, fragte ich.
»Ihr kann ich doch auch davon erzählen, oder nicht?«
Ich tätschelte ihm die Hand. Wenigstens hatte er mich nicht gefragt, ob er mit Santé Leone darüber reden durfte. »Sicher, Dad. Du kannst Mom davon erzählen.« Dann strich ich seine Laken glatt und steckte die Zipfel wieder unter der Matratze fest. Meine Hände berührten dabei eine unerwartet raue Stelle auf dem Stoff, als sei hier etwas verschüttet worden. Ein Fleck bunter Farbe war auf dem Laken – limettengrün, korallenrot, sonnengelb und aquamarin. Die Farben, die Santé Leone bevorzugt hatte.