Nachtflug
014
Als wir nach Hause kamen, war ich froh, dass Becky noch zu ihrem Konzert musste. Jay und Fiona warteten schon auf der Eingangstreppe auf sie, in ihre dicken Mäntel eingemummelt, und in Fionas Honda City stapelte sich bereits bis unter das Dach das Equipment der Band. Fiona umarmte mich innig, und ihr struppiges, schulterlanges Haar strich über mein Gesicht. Diese Woche war es hellrot, dabei war es das letzte Mal, dass wir uns begegnet waren, noch blauschwarz gewesen. Offenbar hatte sie es so gefärbt, dass es zu ihrem Webpelzmantel und den übers Knie reichenden Schaftstiefeln passte.
»Tut mir so leid, was bei euch passiert ist, Garet«, sagte sie mit ihrem weichen irischen Akzent. Sie war als Austauschstudentin für ein Semester ans Pratt Institute gekommen und dann in New York geblieben, als London Dispersion Force allmählich in der Musikszene Fuß fassten. »Ich war heute kurz im Krankenhaus und habe deinen Dad besucht. Er war guter Laune und erzählte ganz begeistert von einem Maler, der ihn besucht hatte.«
Ich brachte es nicht über mich, Fiona zu sagen, dass besagter Maler schon lange tot war. »Das ist lieb, dass du bei ihm hereingeschaut hast«, sagte ich. »Viel Glück bei dem Konzert heute Abend. Ich wette, der Produzent wird euch einen tollen Vertrag anbieten.«
Jay, der einen Verstärker in den Kofferraum schob, brummte etwas, woraufhin Becky ihm einen Klaps versetzte. Ich beschloss, mich zu verabschieden, bevor ich in einen bandinternen Streit geriet, daher wünschte ich ihnen noch einmal alles Gute und stieg die Treppen zu meinem Atelier hinauf. Nachdem ich die Tasche auf meinem Arbeitstisch abgestellt hatte, glaubte ich ein leises Quieken zu hören, aber als ich mich dann umsah und keinen Grund für ein solches Geräusch entdecken konnte, hielt ich es schließlich für eine Ausgeburt meiner überreizten Fantasie. Dann holte ich die Liebaugenbrosche aus meiner Tasche, legte sie auf die Arbeitsfläche und starrte sie an. Sie blinzelte kein bisschen. Sie bewegte sich überhaupt nicht. Hatte ich mir das im Laden etwa eingebildet?
Die Brosche vorsichtig im Blick behaltend – ich mochte die Vorstellung nicht, dass sie mich vielleicht ausspionierte -, suchte ich in meiner Tasche nach meiner Juwelierslupe … als mich etwas in die Hand biss.
Erschrocken ließ ich die Tasche fallen, und sie explodierte geradezu. Orangefarbene und gelbe Flammen schossen zur Decke hinauf, versengten das über das Oberlicht genagelte Sperrholz und trudelten als Funkenregen auf meinen Arbeitstisch hinab. Der Feuerball landete vor mir, überschlug sich einmal und richtete sich dann auf.
»Lol?«, fragte ich.
Die kleine Fee schnatterte etwas, als sie ihre Flügel schüttelte und sich ein paar Fusseln von den Armen und Beinen zupfte, aber ich konnte kein Wort verstehen. Sie klang zornig, und deswegen entschuldigte ich mich dafür, dass ich sie erschreckt hatte, dass meine Kuriertasche in einem so schlechtem Zustand war (in Lols feuerrotem Haar hatte sich eine geschmolzene Pfefferminzpastille verklebt) und fragte sie, ob ich irgendetwas für sie tun könnte. Aber ich war mir nicht sicher, ob sie mich verstanden hatte. Die Hände in die schmalen Hüften gestammt, schritt sie meinen Arbeitstisch auf und ab, betrachtete meine Schweißerausrüstung und stöberte in meinen Aufbewahrungsboxen. Als sie jedoch auf die Liebaugenbrosche stieß, blieb sie wie angewurzelt stehen, stieß ein Zischen aus und sprang dann in meinen Schoß.
»Ziemlich furchteinflößend, nicht wahr?«, sagte ich. »Ich weiß auch nicht, wieso ich sie aus Dees Laden mitgenommen habe. Irgendwie dachte ich wohl, sie könnte noch nützlich sein.«
Lol begann zu summen, oder, besser gesagt, zu vibrieren, dann flog sie wieder zum Tisch, schwebte über der Brosche und sah geradewegs in das Auge. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte den Eindruck, es würde sich überrascht weiten. Dann streckte Lol vorsichtig einen spitzen orangefarbenen Finger aus und piekste hinein.
Das Auge blinzelte und füllte sich mit Tränen.
Lol kicherte und stach noch einmal zu.
»Hör auf!«, rief ich und nahm die Brosche an mich. »Wir müssen doch dieses … Ding nicht quälen.« Ich sah das Auge an, das in meiner geöffneten Hand ruhte, und es erwiderte meinen Blick. »Ich glaube, ich lege es besser weg, bis ich mir darüber klargeworden bin, wozu es dienen könnte.«
Ich besaß einige Schmuckkästchen aus Leder, die ich mir in Italien hatte anfertigen lassen und in denen ich meine kostbareren Stücke aufbewahrte, und wählte ein rotes, auf dem in Gold das Cygnet-Warenzeichen aufgedruckt war. Innen war es mit weißem Samt ausgeschlagen. Sorgsam legte ich die Brosche hinein, klappte den Deckel zu und stellte die Schatulle dann in den abschließbaren Metallschrank, in dem ich mein Silber und Gold lagerte. Währenddessen schwirrte Lol neugierig durchs Zimmer und sah sich genau um. Sie betrachtete meine Bücherregale, nieste wegen des Staubs, der sich darauf angesammelt hatte, wühlte auf den Brettern mit dem Metallschrott und kippte eine Tasse mit Nägeln aus.
Ich hielt es für das Beste, sie zu ignorieren. Endlich gönnte ich mir die überfällige Dusche. Als ich wieder ins Atelier kam, konnte ich Lol nirgendwo entdecken, stellte aber fest, dass die Tür zu meinem Schlafzimmer offen stand. Dort fand ich sie zusammengerollt in meiner Pulloverschublade; sie hatte sich ein Nest aus meinem besten Kaschmirpullover gebaut und schnarchte laut.
Das war eine gute Idee, dachte ich, legte mich ins Bett und machte das Licht aus. Einen kleinen Augenblick verwirrte es mich, wie hell es noch im Raum war, aber schließlich begriff ich, dass von Lol ein rosa-orangefarbenes Glühen ausging wie von einem Nachtlicht, und dann war ich auch schon eingeschlafen.
 
Am nächsten Tag wachte ich erst gegen Mittag auf. Lol war nirgendwo zu sehen, als ich aufstand, aber offenbar hatte jemand all meine Schubladen neu eingeräumt, und durch eine dünne Schicht Talkumpuder auf meiner Kommode führten kleine Fußabdrücke. Als ich die Treppe hinunterkam, roch ich frisch aufgebrühten Kaffee und etwas in Butter Gebackenes. Jay und Becky saßen in der Küche und häuften sich Clotted Cream auf Scones.
»Schläfst du seit neustem mit einem Konditor?«, fragte Becky mich mit vollem Mund.
»Ich dachte, der Typ sei Hedgefonds-Manager«, brummte Jay. »Gibt es da etwa auch noch einen Bäcker?«
»Nun, auf alle Fälle beweist dir jemand seine Zuneigung in Form von Backwaren«, erklärte Becky und hielt eine braune Papiertüte mit großen Fettflecken hoch. »Die hier lag heute Morgen vor der Haustür … und dieser Zettel war dabei.« Sie reichte mir eine lila Haftnotiz. Komm um ein Uhr früh zum Empire State Building, stand darauf. »Das Empire State Building«, seufzte Becky. »Das ist ja wie in Schlaflos in Seattle. Was auch immer du gemacht hast – oder mit wem -, hör bloß nicht auf damit!«
»Ich mache mit niemandem etwas, Becky«, zischte ich. »Hör auf damit! Erzähl mir lieber, was letzte Nacht mit dem Produzenten gelaufen ist.«
»Er möchte uns unter Vertrag nehmen, aber unser lieber Jay hat künstlerische Bedenken.« Becky rollte mit den Augen.
»Wir haben doch schon ein Label«, wandte Jay ein, der ein paar Krümel vom Tisch auftupfte. »Ein Label, das uns in kreativer Hinsicht nicht hineinredet. Ich bin mir einfach nicht sicher, ob dieser Typ kapiert, worum es uns geht.«
»Er bietet uns jedenfalls eine siebenstellige Summe als Vorschuss …«
Ich lauschte dem Geplänkel zwischen meinen beiden Freunden, die nun die Vorzüge ihrer aktuellen Plattenfirma – ein kleines Indie-Label aus Brooklyn – mit dem neuen Angebot verglichen. Es war schon abzusehen, wer diese Diskussion für sich entscheiden würde. Becky war die Vorsitzende des Debattierclubs an unserer Highschool gewesen und hatte bereits einige Juraseminare an der New York University belegt, bevor sie das Studium geschmissen hatte, um mit Jay und Fiona die Band zu gründen. Sie hatte die Zahlen, die Beispiele und die logischen Schlussfolgerungen auf ihrer Seite. Jay konnte nur stur darauf beharren, dass er bei der Sache kein gutes Gefühl hatte. Seine Antworten wurden im Laufe der Auseinandersetzung kürzer und kürzer. Er selbst schien auch immer kürzer zu werden, je weiter er auf seinem Stuhl herunterrutschte.
»Vielleicht kannst du ja mit dem Produzenten reden, was deine Vorstellungen hinsichtlich der Band betrifft, Jay«, schlug ich vor. »Den neuen Song finde ich übrigens super. Ich habe ihn neulich abends auf WROX gehört. So ein trauriges Liebeslied. Ich fand es klasse, wie ihr die ganze alte Troubadour-Tradition wieder aufnehmt, diese Sache mit der unerwiderten Sehnsucht nach dem unerreichbaren Objekt der Zuneigung.«
Jay wurde bei meinem Lob tiefrot und sank noch weiter in sich zusammen. Dann murmelte er etwas und rannte aus der Küche.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte ich Becky verblüfft.
»Nein. Es ist nur … ich glaube, Jay hat an dich gedacht, als er den Song schrieb, und ich könnte mir vorstellen, dass es bei ihm nicht so gut ankam, als du seine Gefühle gerade als uner widerte Sehnsucht nach dem unerreichbaren Objekt der Zuneigung beschrieben hast.«
»An mich? Wieso sollte er an mich denken …« Unter Beckys Blick kam ich ins Stocken. »Scheiße. Ich bin ja so blöd.«
»Na ja … du hattest ja auch viel um die Ohren.«
»Meinst du, ich sollte mit ihm reden?«
»Nein, ich würde ihn erst mal lieber in Ruhe lassen. Ich glaube, er brütet gern ein bisschen vor sich hin. Vielleicht holen wir so auch noch ein paar gute neue Songs aus ihm raus.«
Ich hielt mich an Beckys Rat und sprach Jay nicht auf diese Sache an. Als ich mich später auf den Weg ins Krankenhaus machte, hatte ich trotzdem das Gefühl, mich feige verhalten zu haben. Jay war mein bester Freund. Als meine Mutter starb, hatte er mir in dieser schweren Zeit noch mehr geholfen als Becky. Ein ganzes Jahr lang hatte er nach der Schule jeden Tag mit mir verbracht und mir einfach nur Gesellschaft geleistet, während ich Schmuckstücke fertigte, oder aber wir waren zusammen zum Science-Fiction-Filmfest ins Film Forum gegangen oder hatten chinesisches Essen bestellt und im Fernsehen alte Hollywood-Klassiker geschaut. Er war der perfekte Begleiter für den emotional völlig ausgebrannten Zombie, zu dem ich mich entwickelt hatte. Ohne sich übertrieben fröhlich zu gebärden, war er einfach immer da. Aber ich hatte immer nur den guten Freund in ihm gesehen, keinen potenziellen Geliebten – allerdings hatte ich überhaupt niemanden in diesem Licht betrachtet. Zwar herrschte während meiner College-Zeit kein Mangel an interessierten Männern, aber meine Beziehungen hatten niemals lange Bestand. Die Künstler, die ich an der Uni und über die Galerie kennenlernte, erwiesen sich stets als zu wenig verlässlich und als zu unsicher, und den Managertypen, die ich in den Auktionshäusern und Galerien traf, schien irgendwie etwas zu fehlen. Oder vielleicht war ich es auch, der etwas fehlte. Jetzt wurde mir bewusst, dass viele der Männer, mit denen ich mich in den letzten zehn Jahren getroffen hatte, wirklich nett gewesen waren – einige sogar mehr als das -, aber ich hatte für keinen von ihnen etwas empfunden. Und nun war der erste Mann, für den ich wirklich entbrannte, ein vierhundert Jahre alter Vampir. Was stimmte nicht mit mir?
Ich war so in meinem Selbstmitleid gefangen, als ich von der 12th Street in die 7th Avenue bog, dass ich mit einem gut gekleideten Mann mittleren Alters zusammenstieß; er trug einen Barbour-Wettermantel und eine Tweedmütze, hatte sich ein gefaltetes Wall Street Journal unter den Arm geklemmt und einen Starbuck’s-Kaffeebecher in der Hand. Noch bevor ich mich entschuldigen konnte, fauchte er mich an:
»Du läufst in die falsche Richtung, du Arschloch!«
Ich war so schockiert – sowohl über die rüde Sprache als auch über die Vorstellung, dass es eine richtige und eine falsche Richtung auf dem Bürgersteig geben sollte -, dass ich ihm mit offenem Mund sprachlos hinterherblickte, während er stur weitermarschierte. Als ich mich umsah, ob vielleicht jemand der Umstehenden einen mitfühlenden Blick für mich hatte, stellte ich fest, dass zwar sehr viele Leute unterwegs waren, aber alle in ihre eigenen Gedanken versunken schienen und niemand etwas von dem Vorfall bemerkt hatte. Niemand. Fünf Minuten blieb ich an der Kreuzung stehen, und dabei begegnete mir kein Mensch, der glücklich ausgesehen hätte. Selbst die Kunststudenten, die zur Design-Akademie Parsons unterwegs waren, vermittelten den Eindruck, als ob ihre Mappen mit den eigenen Werken und Entwürfen sie niederdrückten. Gut, heute war der vermutlich kälteste Tag, den wir in diesem Winter gehabt hatten. Trotzdem konnte ich mich nicht daran erinnern, je eine so deprimierte Stimmung in der Stadt erlebt zu haben, höchstens direkt nach dem 11. September. Aber selbst damals waren die New Yorker im Angesicht der Tragödie zusammengerückt und nicht in dieses abgekapselte, isolierte Grübeln verfallen. War das die Rezession, fragte ich mich, oder war es schon der Einfluss von Dees Dämonen, der sich in der Stadt bemerkbar machte?
Im Krankenhaus herrschte dieselbe niedergedrückte Atmosphäre. Als ich im Laufschritt versuchte, noch schnell einen Fahrstuhl zu erreichen, hielt niemand die Tür für mich auf. Ich hörte, wie ein Arzt eine Krankenschwester anschnauzte, weil sie ihm die falsche Akte gebracht hatte, und wie eine Frau ihren müden kleinen Sohn anfuhr, er solle »gefälligst aufhören zu quengeln«. Als ich das Zimmer erreichte, in dem mein Vater lag, sah ich sofort, dass die Depression, die auf der Stadt lastete, auch ihn erreicht hatte. Er lag zusammengesunken in seinem Bett, die Augen müde und umschattet, und starrte mit leerem Gesichtsausdruck zur Decke. Zunächst rührte er sich nicht, als ich eintrat, aber als ich seinen Namen sagte, fuhr sein Kopf herum, und er brachte ein schwaches Lächeln zustande.
»Hier kommt ja meine wunderschöne Tochter«, sagte er. Am liebsten hätte ich angesichts seiner tapferen Geste geweint, nachdem ich draußen so viel Düsternis gesehen hatte, aber irgendwie gelang es mir, einfach zurückzulächeln.
»Hey, Dad, sieh mal, was ich mitgebracht habe.« Santés Bild hatte ich für den Transport in einer Mappe verpackt, und nun zog ich es heraus und lehnte es auf den Stuhl neben Romans Bett. Sofort hellte sich sein Gesicht auf.
»Nun sieh dir das an! Sie sieht genauso aus wie damals, als ich sie kennenlernte …« Er runzelte die Stirn. »Wie konnte Santé sie so porträtieren?«
»Ober… Obie Smith sagte, er hätte sie nach einem Bild aus einem Traum gemalt«, sagte ich.
Mein Vater lachte, bis aus dem Lachen ein Husten wurde. Ich goss ihm schnell ein Glas Wasser aus dem Plastikkrug ein, der auf dem Tischchen neben seinem Bett stand. Nachdem er einige Schlucke getrunken hatte, wedelte mein Vater mit dem ausgestreckten Zeigefinger in meine Richtung. »Dieser Santé war doch ein echter Schwätzer. Ich weiß, wie er zu diesem Bild gekommen ist. Es gibt ein Foto von deiner Mutter als junges Mädchen, noch zu Hause in Frankreich. Es liegt in der Kommode in meinem Schlafzimmer. Du weißt, welches ich meine.«
»Nein, Dad, ich bin mir nicht sicher.«
Er tat meinen Protest mit einer Handbewegung ab. »Natürlich weißt du es. Santé und deine Mutter redeten so gern über Frankreich. Sie sagte ihm immer, er solle einmal hinfahren … und er müsse unbedingt im Süden malen, wo auch Van Gogh und Cezanne ihre Bilder geschaffen hatten. Wahrscheinlich hat sie ihm dieses Bild gezeigt, von dem Dorf, in dem sie aufwuchs …« Seine Stimme verebbte. »Santé hat es allerdings nie nach Frankreich geschafft.«
»Bist du jemals mit Mom in dem Dorf gewesen, aus dem sie stammte?«, fragte ich und hoffte, ihn von der Erinnerung an Santé abzulenken.
»Nein«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Wir waren einige Male in Paris, und ich schlug auch vor, nach Südfrankreich zu reisen, aber sie sagte, dass sie den Menschen ihres Dorfes niemals vergeben könne.«
»Wieso nicht?«
»Ich glaube, weil sie ihre Mutter nicht vor den Deutschen beschützten. Sie hat mir nie die ganze Geschichte erzählt, aber ich weiß, dass ihre Mutter in den letzten Kriegsjahren starb. Sie wollte nicht darüber reden, und das habe ich akzeptiert.«
»Natürlich«, sagte ich und nahm meines Vaters Hand. Ich wusste, dass er es selbst kaum über sich brachte, von seiner Familie zu erzählen, die er ebenfalls im Krieg verloren hatte.
»Manchmal frage ich mich, ob ich Margot wirklich gekannt habe.«
»Wovon redest du da, Dad? Niemand hat sie so gut gekannt wie du.«
Er schüttelte den Kopf. »Am Tag, als sie starb …« Seine Worte waren ein Krächzen. Er unterbrach sich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und bedeutete mir, ihm das Wasserglas zu reichen.
»Lass doch, Dad, du musst jetzt nicht davon reden.«
Er nahm einen Schluck mit dem Strohhalm, und seine Wangen fielen danach sofort wieder ein. Seit er ins Krankenhaus gekommen war, hatte er stark abgenommen, und das ließ ihn älter aussehen.
»Am Tag, als sie starb … wollte sie mich verlassen.«
»Was? Dad, wovon redest du? Mom hat mich nach Providence gefahren, weil wir uns die Rhode Island School Of Design ansehen wollten. Wir waren auf dem Weg nach Hause, als der Unfall geschah.«
Wieder schüttelte er den Kopf. »Sie sagte mir, bevor ihr losgefahren seid, dass sie gehen müsse. Sie wollte es dir auf dem Heimweg sagen. Eine Weile habe ich mich gefragt, ob sie das vielleicht auch tat. Du warst im Krankenhaus so hysterisch, dass so etwas durchaus ein Grund dafür hätte sein können. Dann wartete ich, ob du die Sache ansprechen würdest. Als ich dann merkte, dass sie es dir wohl doch nicht erzählt hatte, war es zu spät … es hätte keinen Sinn gehabt und dich nur aufgeregt … aber ich war feige. Ich hatte Angst, wenn du wüsstest, dass deine Mutter mich verlassen wollte, würdest du ebenfalls gehen.«
»Oh, Dad.« Ich streichelte seine Hand. »Selbst wenn es wahr wäre … selbst wenn Mom hätte gehen wollen, ich wäre doch geblieben. Aber wieso …« Ich unterbrach mich und musste daran denken, wie oft sie sich in der Zeit vor dieser Fahrt wegen des Geldes gestritten hatten, wie zornig sie gewesen war, dass er mein Studiengeld für den Warhol ausgegeben hatte, und welcher Aufruhr bei uns zu Hause herrschte, nachdem im Anschluss an den Warhol-Diebstahl der Vorwurf des Versicherungsbetrugs aufgekommen war. Meine Mutter hatte sicherlich genug Gründe gehabt, auf meinen Vater wütend zu sein, obwohl ich mir dennoch nicht vorstellen konnte, dass sie ihn hätte verlassen wollen. Aber andererseits hatte ich offenbar auch keine Ahnung von einigen anderen Dingen gehabt, beispielsweise davon, dass sie von einer uralten Linie unirdischer Wächterinnen abstammte.
»Vielleicht wollte sie dich nicht länger in meiner Nähe lassen«, sagte mein Vater. »Und da hatte sie vermutlich auch Recht. Sieh dir nur an, in welche Bredouille ich uns jetzt gebracht habe.«
»Wir werden schon zurechtkommen, Dad. Die Polizei hat die Spur eines Mannes gefunden, von dem sie glauben, dass er hinter dem Einbruch steckt. Man hat in seinem Laden ein Stück Leinwand von einem der Pissarros entdeckt. Es wird alles wieder gut werden.«
Ich wollte noch etwas Beruhigendes über meine Mutter hinzufügen – dass er die Frau, mit der er vierzig Jahre verheiratet gewesen war, natürlich gekannt hatte -, aber ich konnte es nicht. Inzwischen war ich mir nicht mehr sicher, dass ich wusste, wer sie war. Und so saßen wir schweigend da und betrachteten das Gesicht der Frau, die wir beide geliebt hatten und die uns beide nicht in ihre Geheimnisse eingeweiht hatte.
 
Den größten Teil des Tages verbrachte ich im Krankenhaus, leistete meinem Vater Gesellschaft oder sprach mit seinem Arzt. Dr. Monroe berichtete, dass die Schusswunde gut verheilte, aber dass er sich Sorgen um Romans Blutdruck machte. Auch wollte er meinen Vater von einem psychologischen Gutachter untersuchen lassen, bevor er ihn nach Hause entließ.
»Weil Sie glauben, dass er sich selbst angeschossen hat.«
»Weil ich weiß, dass er sich selbst angeschossen hat«, hielt er mir entgegen.
»Mein Vater hat keine Selbstmordabsichten«, sagte ich. »Er dachte …« Ich beendete den Satz nicht, denn mir wurde bewusst: Wenn ich nun erklärte, dass mein Vater auf sich selbst geschossen hatte, weil er glaubte, nur auf diesem Wege die Dibbuks, die von den Einbrechern Besitz ergriffen hatten, daran hindern zu können, auch in seinen Körper zu fahren, dann würde Monroe erst recht zu der Überzeugung gelangen, mein Vater sei verrückt. Und wenn ich auch noch durchblicken ließ, dass ich durchaus derselben Meinung war wie Roman, dann würde nicht nur er einer psychologischen Untersuchung unterzogen werden. »Er war verwirrt«, erklärte ich schließlich.
»Dann müssen wir auch Alzheimer in Betracht ziehen. Sind Sie damit einverstanden, wenn ich eine Kernspintomographie seines Gehirns veranlasse?«
Ich sagte Ja. Dabei hoffte ich, dass dieser Vorgang meinen Vater nicht zu sehr beunruhigen würde, aber auf gewisse Weise war ich überzeugt, dass er momentan im Krankenhaus am besten aufgehoben war.
Später holte ich für Roman, Zach und mich etwas zu essen von Sammy’s Noodleshop, und dann ging ich wieder nach Hause, um mich noch kurz auszuruhen, damit ich für mein Treffen mit Oberon um ein Uhr nachts wieder einigermaßen wach sein würde. Ich war es nicht gewöhnt, so lange aufzubleiben.
Als ich das Empire State Building erreichte, stellte ich überrascht fest, dass die Leute immer noch Schlange standen, um zur Aussichtsplattform hinaufzufahren. Ich hatte jedoch das Gefühl, dass Oberon und ich es ihnen nicht gleichtun würden. Zumindest hoffte ich das. Wie die meisten New Yorker hatte ich eine Abneigung gegen die typischen Touristenattraktionen der Stadt. Zwar war ich selbst auch schon auf der Aussichtsplattform gewesen, aber nur, weil Becky mich dazu am Tag unseres Highschool-Abschlusses überredet hatte; sie war der Meinung gewesen, wir müssten diesen Tag mit etwas ganz Besonderem krönen. Ich hielt das für eine blöde Idee, war aber mitgegangen, weil Becky einfach nicht zu bremsen war, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Und sie hatte Recht gehabt – es war überwältigend, auf ganz Manhattan herunterzusehen.
»Jetzt steht uns die Welt offen und wartet darauf, dass wir ihre Möglichkeiten am Schopf packen, James«, hatte Becky gesagt, als sie sich gegen den heftigen Wind stemmte. »Wir können nun alles tun, was wir wollen.«
Becky hatte das beherzigt und eine Rockband gegründet, statt den Vorstellungen ihrer Mutter zu genügen und Anwältin zu werden – und nun zahlte sich das aus. Die Band stand kurz davor, einen Vertrag mit einem großen Label abzuschließen. Aber was hatte ich in den acht Jahren geleistet, seit wir die Highschool verlassen hatten? Na schön, ich hatte ein kleines Unternehmen für Schmuckdesign aufgebaut, aber ich hatte weder je allein gelebt noch eine ernstzunehmende Beziehung mit einem Mann geführt, die länger als ein halbes Jahr gedauert hätte. In Wahrheit hatte ich seit dem Autounfall stets versucht, auf Nummer sicher zu gehen.
Gerade wollte ich mich erneut in Selbstmitleid auflösen, da kam Oberon von der Fifth Avenue her auf mich zu. Seine langen Dreadlocks flatterten hinter ihm her, und sein knöchellanger Mantel umwallte ihn wie ein Umhang. Er sah durch und durch wie ein König aus. Um ihn herum leuchtete eine purpurne Aura. Die Menschen, die in der Schlange für die Aussichtsplattform standen, richteten sich auf, wenn sie damit in Kontakt kamen, aber sie starrten ihn nicht an.
»Wie machst du das?«, fragte ich ihn. »Wie gelingt es dir, dich so unauffällig einzugliedern?«
»Die Menschen sehen, was sie sehen wollen«, antwortete er. »Du wärst überrascht, wie viele ungesehen durch diese Welt gehen. Die meisten von uns versuchen, unauffällig zu sein. Auf das Geschöpf, das wir heute Nacht besuchen werden, trifft das allerdings nicht zu.«
»Geschöpf?«, wiederholte ich ner vös, während ich Oberon in die Eingangshalle folgte. Mir fiel wieder ein, dass Fen und Puck bei dem Gedanken an einige der Lehrer, an die ich mich würde wenden müssen, beunruhigt ausgesehen hatten.
Oberon lachte. »Keine Sorge, dieses Wesen ist ziemlich gutwillig. Ich lasse dich mit den sanfteren unserer Art anfangen.«
Wir gingen zwischen den Fahrstuhlblöcken hindurch, die zu den Büroetagen des Gebäudes führten. Vor jedem befand sich aus Sicherheitsgründen ein Drehkreuz. Als wir den letzten Block erreichten – den, dessen Aufzug zu den obersten Stockwerken hinaufging -, holte Oberon wieder seine Haftnotizen hervor, schrieb etwas darauf und führte sie über den Sensor. Das Licht schaltete sofort auf Grün. Nachdem er hindurchgegangen war, reichte er mir den Zettel, damit ich es ihm gleichtat. Ich erwartete, irgendein esoterisches Symbol darauf zu sehen, aber stattdessen standen dort die Worte: Sesam, öffne dich! Das brachte mich zum Lachen, und weil er mir bereits vorausgegangen war und sich nicht mehr zu mir umwandte, steckte ich den Zettel einfach in die Tasche.
 
Auf dem Weg nach oben spürte ich einen heftigen Druck auf den Ohren, aber ich hielt mich gut, bis die Fahrstuhltüren sich im 100. Stockwerk öffneten und sich vor mir eine Glasfront erstreckte, hinter der ganz Lower Manhattan und die obere Bucht von New York unter einem klaren Nachthimmel funkelten. Für einen Augenblick fürchtete ich, über der Stadt zu schweben, sobald ich den Fahrstuhl verließ, und war wie gelähmt. Oberon musste mich anstupsen, damit ich einen Schritt tat. Dann bemerkte ich, dass zwischen der ersten Glasfront und dem Außenfenster ein Sendestudio eingezwängt war. In silbernen Lettern prangten die Buchstaben WROX auf dem Glas.
»Diesen Sender höre ich dauernd«, sagte ich überrascht und trat nun endlich aus dem Lift. »Vor allem das Nachtprogramm …« Nun sah ich zu der einsamen Gestalt im Studio, die vor einem Mischpult saß, das so kompliziert wirkte wie die Instrumententafel einer Boing 747. Mit den großen, halbkugelförmigen Kopfhörern über den Ohren wirkte die Moderatorin tatsächlich ein wenig, als säße sie im Cockpit eines Flugzeugs.
»Ist das Ariel Earhart, die Moderatorin von ›The Night Flight‹?«
Oberon nickte. »Ich habe ihr gleich gesagt, der Name sei viel zu verdächtig, aber sie wollte nicht auf mich hören. Außerdem ist sie viel zu verliebt in den Klang ihrer eigenen Stimme …« Die Hand an der Tür hielt er inne und sah zu der roten Leuchtschrift ON THE AIR hinauf. Ariel Earhart saß zwar in ihrem schalldichten Studio und wandte uns den Rücken zu, aber dennoch hob sie die rechte Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger. Oberon lachte.
»Willst du damit sagen, sie ist die Ariel aus Shakespeares Der Sturm?«, fragte ich, aber Oberon legte nun den Finger auf die Lippen und öffnete die Tür. Als wir das Studio betraten, umgab uns die weiche, melodische Stimme einer Frau, die gerade jenes Gedicht vorlas, mit dem sie jede ihrer Sendungen eröffnete.
Die Nacht ist ein Geschöpf wie Fledermaus und Eule
die Stimmung wechselhaft, von lautem Windgeheule
bis warmer Sternenpracht zur Sommerzeit,
die andrer Art von Flügeln Raum verleiht,
der weichen Schwinge der Musik, dem Flug des Geists,
unsichtbar zwar, doch voller Freude Richtung weist.
Wollt mit mir schweben ihr, die mit der Nacht ihr reist,
Die Stadt weit unter uns funkelt adieu
und mondwärts steigen wir wie Falken in die Höh.
»Guten Abend, New York, hier ist wieder Ariel Earhart, die euch an Bord des Night Flight willkommen heißt. Unseren heutigen Nachtflug beginnen wir mit einem neuen Song einer meiner aktuellen Lieblingsbands, London Dispersion Force.«
Sie drückte einen Knopf, und Jays Song über unerwiderte Liebe drang durch das Studio.
I might as well attempt to scale a tower, sang Fiona,
a thousand miles in height, its walls slick stone,
as try to win your heart which by the hour
grows more distant, leaves me so alone.
Hatte Becky Recht, sprach Jay wirklich von mir? Versuchte er mein Herz zu gewinnen, während er fühlte, dass ich mich immer weiter von ihm entfernte?
»Ja, ich fürchte, das stimmt wohl«, sagte die Moderatorin, als sie auf ihrem Drehstuhl herumschwang und die Kopfhörer abnahm. Aufgrund ihrer verführerischen Stimme hatte ich mir Ariel Earhart immer als kurvige Schönheit vorgestellt, aber die Frau, die nun vor mir saß, wirkte überhaupt nicht fraulich. Mit ihren schwarzen, engen Jeans, den Chucks und dem langen schwarzen T-Shirt sah sie mehr wie ein halbwüchsiger Junge aus. Ein Gothic. Ihr hellblondes Haar stand stachlig vom Kopf ab, und sie trug dicke Gliederketten um Hals, Taille und Handgelenke. »Du bist das Mädchen aus dem Song, Garet James«, schnurrte sie. »Ich habe mich sehr darauf gefreut, dich kennenzulernen.«
»Wirklich?«, fragte ich und fühlte mich etwas unwohl angesichts der Tatsache, dass sie so viel über mich wusste. »Ich bin schon so lange ein Fan deiner Sendung … aber woher weißt du, dass Jay da von mir singt? Kennst du ihn etwa?«
»Nein«, sagte sie, schlug die Füße unter ihre Beine und bedeutete mir, ich solle mich neben sie auf einen Stuhl setzen. »Aber ich habe mir die Songs von London Dispersion Force jetzt schon eine ganze Weile angehört.« Dann neigte sie den Kopf, als ob sie einer Botschaft lauschte. »Ja, deine Freunde haben gerade einen Vertrag mit Vista Records angeboten bekommen. Ich hoffe nur, dass der Streit zwischen Jay und Becky nicht dazu führt, dass die Band auseinanderbricht. Du weißt ja, so etwas kann schnell passieren.« Sie lächelte, hob die rechte Hand und spreizte ihre Finger. Die schweren Ketten an ihrem Handgelenk schlugen wie Glocken gegeneinander.
»Oh, sie werden das sicher irgendwie lösen«, sagte ich, »aber woher …?« Bevor ich meine Frage ganz aussprechen konnte, hatte sie sich wieder zum Mischpult umgedreht und setzte die Kopfhörer auf.
»Das war ›Troubadour‹ von London Dispersion Force«, hauchte sie mit rauchiger Stimme ins Mikrofon. »Morgen Abend könnt Ihr sie live in der Mercury Lounge erleben. Den nächsten Titel hat sich Obie Smith für seine Freunde in der Stadt gewünscht. Ein Sturm braut sich zusammen, meine Lieben, also haltet die Ohren steif und ergebt euch nicht euren tiefsten Ängsten. Denkt immer daran, vor dem Morgengrauen ist die Nacht am dunkelsten.« Dann zog sie einen anderen Regler, und aus den Lautsprechern erklangen Regen und Donner, dann folgten die Anfangsakkorde von »Riders On The Storm«.
»Okay.« Ariel erhob sich von ihrem Drehstuhl, und die Ketten, die sie trug, machten dasselbe Geräusch wie der Donner von der Platte. »Ich habe zwanzig Minuten Sturmmusik einprogrammiert. Das sollte uns genügend Zeit geben.«
»Vergiss nicht, es ist ihr erstes Mal«, sagte Oberon und folgte Ariel aus dem Studio zum Fahrstuhl.
»Umso besser.« Ariel grinste mich an und drückte meinen Arm. »Das erste Mal ist immer das Schönste, und diese Nacht ist perfekt dafür. Der Wind kommt von Süden und ist klar und rein.«
»Was für ein erstes Mal?«, fragte ich und merkte, dass ich nervös wurde. Wieso sollten wir überhaupt das Studio verlassen? »Wozu ist die Nacht perfekt?«
»Hier kommt der Fahrstuhl«, sagte Ariel, ohne auf meine Fragen einzugehen. »Die letzten Besucher haben die Aussichtsplattform verlassen.«
Eigentlich wollte ich darauf hinweisen, dass die Plattform in diesem Fall auch sicherlich schon geschlossen sein würde. Davon abgesehen war ich überzeugt, dass man nur dorthin gelangen konnte, indem man erst wieder zur Eingangshalle hinunterfuhr. Aber Oberon kritzelte bereits die Zahl 86 auf eine Haftnotiz, zog einen Kreis darum und klebte sie neben die Anzeigetafel mit den Knöpfen für die einzelnen Stockwerke. Die Nummer und der Kreis leuchteten sofort ebenso grün auf. Oberon drückte auf die neu geschaffene Taste, und der Lift fuhr zum 86. Stock hinunter, wo sich die Türen zur verlassenen Aussichtsplattform öffneten.
Als wir durch den dunklen Souvenirladen gingen, vorbei an den Modellen des Empire State Buildings und den Postkarten von der schönen Aussicht, nahm Ariel die Ketten von ihrem Hals und ihren Handgelenken und drapierte sie über die Ladentische. Als wir die Tür erreichten, die nach draußen führte, wandte sich Oberon zu mir um. »Ich glaube, du hast den Schlüssel«, sagte er.
»Oh.« Schuldbewusst zog ich die Haftnotiz mit dem Sesam, öffne dich aus meiner Tasche und klebte sie an die Tür, die sofort aufschwang. »Hier«, sagte ich und reichte ihm den kleinen Zettel. »Tut mir leid, dass ich ihn einfach so eingesteckt habe.«
»Das war völlig in Ordnung«, gab er zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin erleichtert, dass du vorausschauend denkst. Behalte ihn. Du wirst alle Hilfe brauchen, die du bekommen kannst.«
Also steckte ich den Zettel wieder in meine Tasche, gerade rechtzeitig, bevor ihn mir der Wind aus den Händen reißen konnte, als ich die offene Plattform betrat. Es war schon damals, als ich mit Becky hier gewesen war, recht windig gewesen, aber nicht annähernd so heftig wie jetzt. Auch hatte die Aussicht tagsüber nicht ganz so schwindelerregend gewirkt. Die Lichter, die sich unter uns ausbreiteten, waren wie ein zweiter Nachthimmel – eine ganz eigene Galaxie, wenn auch erdgebunden.
»Ich weiß nicht, ob es eine so gute Idee ist, bei einem solchen Wetter hier hinauszugehen«, brüllte ich über den heulenden Sturm.
»Unsinn, der Wind ist perfekt.« Ariel musste nicht einmal schreien, damit ich sie verstand. Im Gegenteil, es war vielmehr so, als ob der Wind ihre Stimme nahm und sie direkt in meine Ohren transportierte. »Da er von Süden kommt, würde ich sagen, wir fangen auf der Nordseite an.«
»Womit?«, rief ich fragend zurück.
»Das wirst du noch früh genug sehen«, antwortete sie.
Wir umrundeten die Plattform, bis wir die Nordseite erreichten. Die Gebäude der Innenstadt erhoben sich wie aus Licht gehauene Klippen unter uns. Ariel trat bis an die Brüstung und legte ihre Hände um das stählerne Geländer. Der Wind zerzauste ihr das Haar am Hinterkopf, legte ihren Nacken bloß und enthüllte eine kleine Tätowierung, die zwei ausgebreitete Flügel zeigte. Oberon stellte sich neben sie, und seine langen Dreadlocks umspielten sein Gesicht wie lebende Schlangen.
»Hörst du es?«, fragte sie, und der brüllende Wind ließ ihre Stimme in meinen Ohren tanzen.
»Was denn?«, fragte ich zurück.
»Mach die Augen zu«, befahl sie und nahm meine Hand. »Und hör genau zu.«
Ich tat wie geheißen und lauschte auf den Wind, der sich sammelte, anschwoll, rauschte … und abflaute. Sammeln, Anschwellen, Rauschen und Abflauen. Langsam kristallisierte sich eine Stimme heraus, die weder eindeutig männlich noch weiblich war, weder jung noch alt, weder laut noch leise. Sie lockte und seufzte, brüllte und flüsterte. Sie sang ein Lied so alt wie die Zeit, das dennoch stets auch etwas Neues mit sich brachte. Die Stimme zupfte an den Härchen auf meinen Armen, pumpte Luft in meine Lungen, bewegte meinen Herzmuskel und pfiff durch meine Adern. Sie blies durch mich hindurch, als sei ich ein Instrument. Dann öffnete ich wieder die Augen und sah die Stadt unter mir. Ganz New York war das Instrument des Windes, die Wolkenkratzer waren die Tasten, die langen Straßenzüge die Pfeifen einer großen Orgel, auf der dieser Sturm spielte. Er blies durch die Stadt, durch jeden Menschen, der sich in ihr befand, und verband jedes einzelne Molekül mit allen anderen, die es umgaben. Starke Emotionen wallten in mir auf – ob Angst oder Freude, das konnte ich nicht sagen – und schienen mich auf den Rücken dieser singenden Macht zu heben. Und tatsächlich zogen sie mich empor, über das geschwungene, stählerne Geländer und dann über die Stadt. Als ich über die Brüstung glitt, hielt ich mich mit meiner Rechten hastig fest, aber Ariel griff schnell nach meiner anderen Hand und schnalzte sanft missbilligend mit der Zunge.
Es hat dich jetzt gepackt, ertönte ihre Stimme in meinem Kopf. Meine Stimme liegt im Wind, und nun ist der Wind in dir. Keine Angst. Lass dich einfach tragen und höre weiter zu. Solange du das Lied des Windes hörst, wirst du nicht fallen … und falls doch, dann fange ich dich auf.
Aus dem Augenwinkel sah ich zu Ariel hinüber, aber neben mir war nichts als leere Luft. Die Panik, plötzlich allein zu sein, dröhnte so laut in meinen Ohren, dass ich den Wind nicht mehr hörte. Sofort begann ich zu fallen, aber eine Hand zog mich wieder empor.
Es ist keine gute Idee, sichtbar zu fliegen, trillerte Ariels Stimme durch meine Gedanken. Da würden wir den Sternenguckern sonst einen Heidenschreck einjagen.
Reflexartig bedeckte ich mein Gesicht mit der rechten Hand, aber ich konnte durch die Finger direkt zu den Lichtern der Fifth Avenue hinunterblicken. Ariel und ich – Oberon hatten wir zurückgelassen – bewegten uns nun schnell nach Norden, tanzten auf dem Rücken des Winds. In sein Lied waren auch andere Stimmen hineingeflochten, wie ich nun feststellte – das Murmeln von Paaren, die mit Taxis nach Hause fuhren, Abschiedsworte von Betrunkenen, die kurz vor der Sperrstunde aus den Bars kamen, die Seufzer der Schlafenden in weit oben gelegenen Wohnungen. Wir kamen an den Türmen der St. Patrick’s Kathedrale und am grünen Mansardendach des Plaza Hotels vorüber, und dann erstreckte sich dunkel und grün der Central Park unter uns. Doch irgendetwas kam mir komisch vor. Obwohl die Nacht trocken und klar war, bedeckte dort ein dünner Nebel den Boden.
Sehen wir uns das einmal an, befahl Ariels Stimme.
Das habe ich doch die ganze Zeit getan, dachte ich bei mir, aber dann fühlte ich einen Ruck, und wir sausten pfeilschnell den Baumwipfeln entgegen. Unter mir konnte ich die Eislaufbahn ausmachen, die zu dieser Stunde verlassen war, und die große Rasenfläche des Parks. Über beiden lag ein nasser, grauer Nebel wie eine Schicht geronnene Milch auf einer Tasse kalten Kaffees. Zuerst dachte ich, auch hier sei niemand mehr unterwegs, doch dann entdeckte ich zwischen den Bäumen schwache, vielfarbige Lichtpunkte.
»Lichtsylphen?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Ariel laut. Ihre Stimme klang noch ernster als zuvor. »Sie bewegen sich allerdings viel langsamer als üblich. Ich will doch einmal nachsehen …«
Wir gingen so schnell in den Sinkflug, dass es in meinen Ohren knackte. Dann flogen wir zwischen den Bäumen umher und wichen den nackten Ästen aus. Welche Farben wollten die Lichtsylphen hier trinken? Es hingen nur noch ein paar mattbraune Blätter an den Ulmen, die die Promenade säumten.
»Sie hätten schon längst einen Unterschlupf suchen sollen«, erklärte Ariel auf meine unausgesprochene Frage hin. »Dieses Grüppchen hier verbringt den Winter normalerweise im Regenwaldhaus des Zoos oder manchmal auch in der Schmetterlingskuppel des Museums für Naturgeschichte …« Ariel verstummte, als wir über einem nackten Ast schwebten. Etwas hing daran, ein Stück Abfall, das der Wind hierhergeweht hatte … aber als wir näher kamen, erkannte ich, dass es sich tatsächlich um eine der Lichtsylphen handelte, aus deren Körper alle Farbe gewichen war. Grau und starr lag sie auf der rauen Rinde. Die Flügel zitterten leicht im Wind und machten dabei ein Geräusch wie zerknülltes Zellophanpapier.
»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht … hier liegt noch eine.« Wir flogen von Baum zu Baum und entdeckten dabei immer mehr von den ausgesaugten und verschrumpelten Geschöpfen. Einige waren auf den Boden gefallen, wo sie der Wind nun zusammen mit den leeren Plastiktüten, dem Süßigkeitenpapier und den Zigarettenstummeln durch die Gegend wirbelte. Diese Sylphen lösten sich bereits auf, verwandelten sich in kreideartigen grauen Staub, der von dem allgegenwärtigen grauen Nebel eingesaugt wurde.
»Was hat sie nur getötet?«, fragte ich.
Ariel antwortete mir nicht laut, aber ich hörte ihre Stimme wieder in meinem Kopf: Der Nebel. Sie haben von dem Nebel getrunken und sind daran zugrunde gegangen. Laut sagte sie: »Wir kehren besser gleich zurück und sagen Oberon Bescheid.«
Wieder erhoben wir uns in den Wind. Es war schwerer, da wir uns nun nicht mehr mit dem Luftstrom bewegten, sondern ihm entgegenflogen, und uns blieb keine Kraft, um uns zu unterhalten, weder laut noch in Gedanken. Das Hochgefühl, das ich zu Beginn des Flugs gefühlt hatte, war verschwunden. Als ich nun dem Lied des Windes lauschte, hörte ich nur noch ein leises Klagen, als ob irgendwo jemand weinte.