Die Transmigration der Atome
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Eine Zeit lang konnten wir unsere Fahrt recht
ruhig fortsetzen, obwohl ich mit Schrecken auf der Höhe der
Vierziger-Straßen auf dem Highway zu unserer Linken einen großen
Nebelfleck entdeckte. Als ich länger hinsah, entdeckte ich, dass
diese Masse genug Substanz hatte, um von Ebbe und Flut bewegt zu
werden – der Hudson River war in seinem Unterlauf auf über hundert
Kilometern noch ein Gezeitenstrom – und dass dieses Gebilde
entfernt einem Flugzeug glich. Zumindest war es von ungefähr
zylindrischer Form und so lang wie ein Footballfeld, zwei
flügelartige Flächen ragten aus seiner Mitte, und am Ende lief es
in einer Art aufgestellter Heckflosse aus. Wie seltsam, dachte ich
zunächst, aber dann fiel mir ein, dass einige Flugzeuge nach dem
Start am Flughafen LaGuardia recht niedrig über den Hudson fliegen.
Möglicherweise war dieser Nebel ohne Vorwarnung aufgekommen.
»Will«, sagte ich schließlich und stupste ihn mit
dem Ellenbogen an. »Was ist das für ein Ding da im Fluss?«
Er sah so schnell aus dem Fenster, dass ich seiner
Augenbewegung kaum folgen konnte. Seine Pupillen weiteten
sich alarmiert und verdrängten beinahe das silberne Schimmern der
Iris. »Dee legt es langsam auf Massenmord an. Diesen Nebel haben
Zwietracht und Verzweiflung geschaffen. Aber ich glaube, die
Notrufzentrale würde uns nicht glauben, wenn wir dort anriefen und
verlangten, alle Flüge abzusagen. Umso wichtiger ist es …« Er
drängte seinen Chauffeur, sich zu beeilen. Der Fahrer trat so fest
aufs Gas, dass selbst der sonst so sanft dahingleitende Rolls einen
Satz nach vorn machte. Aber wir konnten die Geschwindigkeit nicht
lange halten.
Etwa achthundert Meter vor uns sah ich etwas
Düsteres, Großes auf der mondsilbernen Straße aufragen. Davor
leuchteten Bremslichter wie kleine schimmernde Blüten. Erst leise,
dann deutlicher, drangen Aufprallgeräusche an mein Ohr. Als der
Rolls ruckartig die Fahrt verlangsamte, kuschelte ich mich an Will.
»Was zum …«, brummte er. Dann wurden seine Augen hell, und sein
Blick durchdrang die Dunkelheit, als ob seine Augen
Suchscheinwerfer wären, aber mir erhellten sie nicht die Sicht, und
er bedeutete mir zu schweigen, als ich ihn fragte, was los
sei.
Als wir etwa zehn Meter weitergerollt waren, konnte
ich es jedoch selbst erkennen. Der dunkle Schatten wuchs zu einer
Pyramide ineinander verkeilter Fahrzeuge an, die vorn und hinten
stark eingedellt waren. Sie hatte sich hauptsächlich auf der
entgegengesetzten Fahrbahn in südlicher Richtung aufgetürmt, ragte
aber auch auf unsere Seite. Aus größerer Entfernung im Norden hörte
ich das grelle Heulen der Rettungswagen. Der pyramidenförmige
Aufbau der Wracks überraschte mich, als sei bei allem verdrehten
und verformten Chaos eine gewisse Ordnung
beachtet worden, und ich begriff auch nicht, wieso sich die
Auffahrunfälle nur auf der anderen Spur ereigneten.
»Was zur Hölle ist das?«, fragte ich Will
erneut.
»Hölle ist schon das richtige Stichwort«, sagte er,
drückte jetzt aber doch beruhigend meine Hand. »Dort ist Zwietracht
so richtig am Werke. Der Dämon hat an der 96th Street ein Kraftfeld
aufgebaut, eine unsichtbare Barriere, und dann hat Dee einen Nebel
davor aufwallen lassen, damit die Fahrer in Richtung Süden sie und
auch die Autowracks vor sich nicht erkennen können. Und so fährt
einer nach dem anderen in die Unfallstelle hinein. Der Dämon hat
entweder nicht genug Kraft, um beide Seiten der Straße zu
blockieren, oder aber er hat eine noch größere Katastrophe geplant,
sobald sich genug Fahrzeuge auf der Strecke nach Norden befinden.
Wir haben aber keine Zeit, das herauszufinden. Kannst du Feuerwehr
und Notarzt alarmieren, während wir wenden?«
»Wenden?«, fragte ich mit aufgerissenen Augen. Zwar
wirkte die völlig leere Gegenfahrbahn äußerst verlockend, aber wir
waren durch eine über ein Meter hohe Mauer von ihr getrennt. Rechts
befanden sich kahle Bäume, schattenumlagertes Gras und die
graffitibeschmierten Lampen des Riverside Parks; die Wege dort
waren zwar geteert, aber nicht breit genug, um sie mit einem Auto
befahren zu können.
Ich versuchte es beim Notruf, während der Chauffeur
offenbar ebenfalls darüber nachdachte, welchen Weg er nun
einschlagen konnte. Die Nummer war besetzt – etwas, das bei der
breiten Netzanbindung überhaupt nicht passieren sollte. Ich mochte
gar nicht darüber nachdenken, wie viele Katastrophen sich bereits
in der Stadt ereignet
haben mussten, wenn man bedachte, was wir schon auf unserem kurzen
Weg gesehen hatten – sicher waren mehr als zehntausend Anrufe
nötig, bis das Netz überlastet war. Dann war Wills Geduld mit
seinem Fahrer vorüber. Er riss das Fenster in der Trennwand
zwischen den Vorder- und Rücksitzen auf, befahl dem Chauffeur, auf
den Beifahrersitz zu rutschen und glitt mit den Beinen voran
geschmeidig wie ein Jaguar hinters Steuer. Während er das Lenkrad
nach rechts riss, drückte er hart aufs Gas, manövrierte den Rolls
auf geradezu unmögliche Weise an einigen Autos auf der mittleren
und rechten Spur vorbei und überwand die Bordsteinkante zum Park
hin mit nur einer winzigen Erschütterung. Dann schoss er
überraschend ruhig über das Gras, zwischen den hageren,
winternackten Bäumen hindurch und kam so mühelos voran, als sei er
als Jogger im Park unterwegs.
Trotz all seiner Geschicklichkeit fürchtete ich
dennoch einmal, dass wir gegen eine majestätische Eiche prallen
würden, die wie aus dem Nichts plötzlich vor uns aufragte. Einen
winzigen Augenblick hatte ich den Eindruck, als sei der Baum
wirklich vor unseren Kühler gesprungen, und seine Wurzeln seien wie
federnde Beine über den gefrorenen Boden geglitten, während in den
fein verzweigten Enden der Äste winzige Augen saßen, die es der
Eiche ermöglichten, genau die richtige Position einzunehmen. Ich
kniff die Augen zusammen und bereitete mich auf einen schrecklichen
Aufprall vor. Und in dem Moment, in dem ich meine Augen schloss,
fühlte ich einen starken Wind durch den Wagen blasen, der uns in
eine Leere stürzte, die tiefer war als bloße Dunkelheit. Als ich
die Augen wieder öffnete, konnte ich nicht das Geringste
sehen. Die Temperatur schien stark gefallen zu sein, aber die
einzige Bewegung in dieser völligen Schwärze war mein eigenes
Zittern; der Wind war verschwunden. Kurz hörte ich ein ganz
schwaches, hohes Jammern. Mir kam der Gedanke, dass ich auf eine so
winzige Größe reduziert worden war, dass ich nun auf dem kühlen
Kern eines einzelnen Atoms stand und das Schwirren der Elektronen
hörte. Ich konnte das Atom sogar lokalisieren; es befand sich am
Rand des Universums. Ohne Vorwarnung kehrte jedoch die Realität des
Autos wieder zurück – einen Augenblick noch schien es sich zu
drehen, war aber nicht verunglückt -, und dann fuhr Will bereits
wieder ruhig über den nächsten Bordstein und auf den Riverside
Drive Richtung Norden. Er bog so lässig nach rechts auf die West
76th Street ab, als wollte er nur schnell auf den
Supermarktparkplatz am Broadway, dann wandte er sich nach links in
die West End Avenue. Ich war sprachlos vor Erleichterung und
Staunen. Als wir an einer Ampel in einer langen Autoschlange
hielten – offenbar war hier aufgrund der Unfälle auf dem Highway
schon wesentlich mehr Verkehr als sonst -, nickte Will dem Fahrer
zu, stieg aus und auf dem Rücksitz wieder ein, und der Chauffeur
übernahm erneut das Steuer.
»Was um alles in der Welt war das?«, fragte
ich.
»Die Transmigration der Atome«, sagte Will
leichthin. Er lächelte, und in diesem Lächeln lag ein kleiner
Triumph.
»Und was ist das?«
»Wie ich dir schon auf Governors Island sagte, kann
ich nicht direkt fliegen, aber …« Er schlang den linken Arm um mich
und drückte liebevoll meine Schulter.
»Atomtransit ist sozusagen die nächstbeste, wenn nicht sogar eine
bessere Möglichkeit. Du hast mit Melusine zusammen bereits etwas
Ähnliches in Wasserform kennengelernt, aber der Atomtransit ist auf
die Luft beschränkt. Mir hat vor vielen Jahren einmal ein
Unirdischer diese Technik beigebracht, aber nicht ganz richtig,
deswegen passieren durchaus unerwartete Dinge, wenn ich sie
anwende. Generell ist die Willensanstrengung, die dafür
erforderlich ist, enorm, und deswegen kann man wirklich nur in
größter Not darauf zurückgreifen. Der bösartige Baum, der uns
angriff, von Zwietracht angestachelt, hat seine Wurzeln in einem
unkontrollierten Experiment des französischen Botanikers Jean
Robin, und sein Samen wurde vermutlich von einem transozeanischen
Wind vor Jahrhunderten hier herübergeblasen – ja, ich würde sagen,
in diesem Fall bestand wohl wirklich größte Not. Vor allem, da Dee
nebenbei immer noch versucht, ganz New York zu zerstören. Aber
selbst unter den extremsten Bedingungen ist die Transmigration
nicht immer erfolgreich. Mir sind über die Jahre immer wieder
Pannen passiert. Aber wenn es dann klappt, ist es göttlich – wir
alle haben die lange Reise verschlafen. Ist auch gut so. Diese
Trilliarden-Kilometer-Trips werden schnell ein wenig langweilig.«
Er lachte, als hätte er ein bisschen zu viel getrunken.
Ich überlegte gerade, ob ich ihm sagen sollte, dass
ich gar nicht geschlafen hatte – es sei denn, mein Augenblick auf
der Oberfläche des Atomkerns war ein Traum gewesen, aber mir war es
sehr real vorgekommen -, da wurde der Wagen vom überwältigenden
Schlag einer Explosion ganz in der Nähe erschüttert, die den
Verkehr und auch
alle Gedanken einstweilen zum Erliegen brachte. Während meine
Trommelfelle sich allmählich wieder erholten, schüttelte ich
probeweise alle Glieder, um sicherzugehen, dass sie noch fest an
meinem Körper saßen. Das taten sie. Auch war kein Blut auf meinem
Mantel, ebenfalls immer ein Zeichen dafür, dass man gute Chancen
hatte, ein Unglück zu überleben. Meine Begleiter wirkten ebenfalls
unverletzt, und sogar das Auto schien nicht beschädigt, obwohl der
Knall ebenso heftig durch den Wagen gefahren war wie kurz zuvor der
Wind des Atomtransits. Soweit ich es feststellen konnte, hatte sich
die Explosion etwas weiter nördlich auf der West End Avenue zu
unserer Linken ereignet, entweder direkt dort oder aber in einer
Seitenstraße. Glücklicherweise war es weit genug entfernt gewesen,
dass wir unversehrt geblieben waren. Aber natürlich war der Verkehr
nun erneut zum Stillstand gekommen. Wieder ein Sieg für John
Dee.
Schon rasten Feuerwehrautos entgegen der
Verkehrsrichtung das südliche Ende der West End Avenue hinauf, und
die Fahrzeuge, die noch auf dieser Spur unterwegs waren, wichen
blindlings aus oder drängten sich auf die Gegenfahrbahn. Es würde
sicherlich eine ganze Weile dauern, bis sich die Situation hier
wieder normalisiert hatte. Und sicher würden Zwietracht und
Verzweiflung noch mehr Chaos stiften, während wir einfach nicht
vorankamen. Vielleicht würde New York in dieser Nacht Straße für
Straße, Block für Block zerstört. Mir grauste es bei dem Gedanken,
was diese Detonation oder auch die Autopyramide für die unmittelbar
betroffenen Opfer bedeuten mochten. Doch noch mehr machte mir die
Verzweiflung in Wills Augen zu schaffen, als er seinen gequälten
Blick auf mich richtete. Waren ihm die Ideen ausgegangen?
»Der Eingang zum Turm ist sechzehn Kilometer von
hier entfernt«, sagte er. »Das schaffen wir niemals.«
Es war das erste Mal, seit ich ihm begegnet war,
dass er überhaupt keine Hoffnung mehr zu haben schien. Ich hatte
ihn traurig erlebt. Reuevoll. Aber nie hoffnungslos. »Trans… wie
war das noch …migration?«, war alles, was ich in Gedanken darauf
antworten konnte. Vielleicht brauchte er mich, damit er die nötige
Willensanstrengung aufbringen konnte. Es hatte doch schon einmal
geklappt, warum nicht ein zweites Mal? Die Reise rund um den Baum
hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, aber wenn meine
Erkenntnis über die kurzzeitige Lage des Atoms, auf dem ich
währenddessen gestanden hatte, richtig war, dann hätten wir in
diesem Bruchteil jeden beliebigen anderen Ort erreichen können. Es
war dort, wo wir gewesen waren, ziemlich kalt gewesen, aber es
hatte nicht so wehgetan wie die Auflösung im Wasser mit Melusine.
Aber ich kannte mich mit den physikalischen Gegebenheiten jener
anderen Welt nicht so gut aus, dass ich hätte erahnen können, wo
das Problem liegen mochte.
Doch meine Gedanken wurden erneut unterbrochen, als
ich einige Blocks weiter östlich, vielleicht in der Nähe des
Central Parks, einen großen Bogen aus weißen und goldenen Flammen
in den Himmel steigen sah. Funken und etwas Leuchtendes, das wie
winzige, flammende Zylinder aussah, sprühten daraus hervor. Ein
paar Sekunden später ertönte ein tiefes Grollen, ähnlich dem
Donner, der auf einen Blitz folgt. Allein der Anblick des Feuers
war so intensiv, dass es in meinem Blut die Erinnerung an die
Begegnung mit Ddraik weckte, als hätten wir einen
Aschezu-Asche-Bund unter der City Hall geschlossen. Eine Hitzewelle
ging durch meine Adern, als wollte mein Körper in Brand geraten.
Ich erschauerte; wir hatten sicherlich keinen Augenblick zu
verlieren, wenn wir weiter nach Norden vordringen wollten. Aber die
nächsten Worte, die Will sprach, waren wenig ermutigend.
»Ich habe es bisher einfach nie geschafft, es in
kurzer Zeit gleich zweimal hintereinander zu tun. Und ich habe es
wirklich versucht.«
Der Schein der Feuersbrunst, die im Osten wütete,
beleuchtete Wills Züge, als er mir das Gesicht zuwandte, während er
sprach. Sie nahmen einen unheimlichen Schimmer an, als ob sich sein
silberner Teint in zwieträchtiger Chemie mit Bronze verband. Er
bemerkte mein Erschrecken und versuchte, seiner Stimme einen
hoffnungsvolleren Klang zu geben. »Wir könnten versuchen, meinen
Hubschrauber anzufordern, aber mir gefällt der Nebel auf dem Fluss
überhaupt nicht.«
Ein besonders lautes Krachen hallte nun vom Dach
des Wagens wider, ein Geräusch, das vielleicht drüben beim Central
Park von fallenden Trümmern verursacht wurde. Aber nun stellte ich
erst erstaunt und dann voller Freude fest, dass Lols winziges
Gesichtchen kopfüber oben an Wills Fenster erschien. Sie krabbelte
langsam vom Dach herunter, während sie auf der anderen Seite des
Glases mit einem Finger auf ihn deutete, wild gestikulierte und ihn
energisch anschnatterte. Langsam, als sei er sich nicht sicher, ob
er es tun sollte, ließ er das Fenster hinunterfahren. Sie flog auf
den Rücksitz und schwebte in der Luft; ihre Flügel schlugen
schneller als die eines Kolibris. Dann
hielt sie Will in entschlossener Manier ganz offensichtlich einen
Vortrag.
Ich zupfte an seinem Ärmel. »Was sagt sie
denn?«
Er wandte sich kurz mir zu, obwohl sie seine
Unaufmerksamkeit sofort mit lautem Kreischen quittierte. »Sie sagt,
mit ihrer Hilfe könnten wir ein zweites Mal transmigrieren. Sie
kann nicht mit uns kommen, da ihr Wissen und ihre Fähigkeiten hier
gebraucht werden, um die Feuer zu bekämpfen. Aber sie kann bei dem
Atomtransit behilflich sein. Wie sie sagt, kennt sie einen Teil der
Zauberformel, an den ich niemals herankommen konnte.«
Ich war vor allem erleichtert, dass Lol sich
offenbar schnell von Oberons brutalem Schlag erholt hatte. Über ihr
Angebot musste ich nicht lange nachdenken. »Wir können es
schaffen!«, rief ich. Und ich fand es aufregend, »wir« zu sagen.
Wenn es sich hier um eine Kraft handelte, an der wir beide unseren
Anteil haben konnten, dann konnte Will nicht nur schlecht
sein, egal, was Oberon oder Dee sagen mochten oder in welchem Ruf
Vampire allgemein standen.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Will bedeutete
seinem Fahrer, aus dem Wagen auszusteigen, und der Mann mischte
sich unter die Menschenmenge, die vom Ort der Explosion die West
End Avenue hinuntereilte. Offensichtlich wollte Will damit die
molekulare Last verringern. Er setzte sich nun selbst ans Steuer
und hieß mich ebenfalls vorn einzusteigen. Dann fuhr er das Fenster
auf der Fahrerseite hinunter, und Lol schwebte halb drinnen, halb
draußen in der Luft, um Will noch letzte Instruktionen ins Ohr
flüstern, dann aber im letzten Moment vor der Transmigration
davonfliegen zu können. Will sah sie an, dann
nahm er die rechte Hand vom Lenkrad und umschloss fest meine Linke
mit den Fingern.
»Brauchst du sie nicht zum Lenken?«, fragte ich.
Aber ich zog meine Hand nicht weg.
Er grinste. »Wenn nichts weiter nötig wäre als
beide Hände am Steuer, dann wären wir beide schon durch ganze
Galaxien gereist!«
Nun drückte er das Gaspedal durch und bog in die
inzwischen völlig freie, nach Süden führende Fahrbahn der West End
Avenue ein. Eine Beschleunigung, wie ich sie in meinem ganzen Leben
noch nicht gefühlt hatte, drückte mich in den Sitz. Meine
Augenlider wurden mit Gewalt geschlossen. Im letzten Augenblick
glaubte ich noch Lols grüngoldenen kleinen Blitz zu sehen, als sie
sich in entgegengesetzter Richtung in den Himmel erhob. Ich hielt
mich an der Vorstellung fest, dass sie nun durch die Luft sauste,
um mit ihren angeborenen Fähigkeiten, wie auch immer die aussehen
mochten, die Feuer am Central Park zu bekämpfen. Dann überfiel mich
wieder die extreme Kälte und das Gefühl, auf einem Atomkern zu
stehen, während Elektronen wie entfernte Planeten um uns kreisten,
obwohl das gesamte Atom samt seines Orbits lediglich ein winzig
kleiner Partikel Materie war. Plötzlich schwand die Kühle, und für
einen brennenden Augenblick stand ich auf beinahe unendlicher,
pulsierender Hitze, größer als die Sonne in einem Sonnensturm, und
eher an jene weißglühende Welle gemahnend, die alle Materie
erschaffen hatte. Unwillkürlich fragte ich mich, ob wir dieses Mal
aufgelaufen waren, während mir vom Beobachten der mich umkreisenden
Elektronen allmählich schwindlig wurde. Aber wenn ich mir diese
Frage stellen konnte,
dann lebte ich vermutlich noch, und ich konnte auch die Wärme und
das Leben in Wills festem Griff vom plötzlichen Zischen des Atoms
unterscheiden.
Als Nächstes stellte ich fest, dass die atomisierte
Landschaft verschwunden war und wir unsanft und holpernd wieder
aufschlugen. Diese Landung war härter als die letzte, aber mir war
nichts passiert. Ein metallisches Krachen und Knirschen, wie ich es
zuletzt bei dem Unfall mit meiner Mutter gehört hatte, ließ mich
jedoch vermuten, dass man das von dem Auto nicht sagen konnte. Als
sich meine Augenlider mühsam hoben, stellte ich fest, dass dieses
Mal nun doch ein riesiger Baum den Motorraum des Wagens
aufgebrochen hatte. Der breite Spalt endete nur wenige Zentimeter
vor der Windschutzscheibe. Ganz kurz hatte ich den Eindruck,
winzige Augen an den Spitzen der Zweige zu sehen, die sich wie
Spinnenbeine über das Glas schoben. Viel wichtiger war mir jedoch,
dass Will ebenfalls unverletzt war. Er versuchte bereits die
Fahrertür zu öffnen, während er meine Hand losließ und mir sanft
über das Gesicht strich. Die Tür ließ sich nur ein kleines Stück
aufdrücken, woraufhin er das Fensterglas mit einem harten Stoß
seines Ellenbogens zerschlug und sich so elegant aus der von
Splittern gesäumten Öffnung schob, wie er zuvor auch durch das
Fenster zur Fahrerkabine gestiegen war. Draußen suchte er sich
einen sicheren Stand, streckte mir seine Arme entgegen, hob mich
dann hoch und zog mich mit einer einzigen Bewegung aus dem Wagen,
so vorsichtig, dass ich keinen einzigen Kratzer durch das
zerbrochene Fenster davontrug. Will hatte in seinen Unterarmen die
Kraft, Stahl zu zerreißen.
»Ich habe ein bisschen danebengezielt«, sagte er
ein
wenig betreten, als er mich wieder abgesetzt hatte und wir das
Auto betrachteten.
Immerhin standen wir vor dem Eingang des Van
Cortlandt Parks nahe dem Old Croton Aqueduct Trail, wie uns ein
Schild verkündete. Ich kannte mich in dieser Gegend überhaupt nicht
aus, war aber überrascht, wie verlassen die Straße wirkte. Über die
Gründe dafür wollte ich lieber nicht allzu lange nachdenken, aber
meist war es ja so, je größer die Katastrophe war, die sich draußen
abspielte, desto mehr Menschen saßen drinnen vor dem
Fernseher.
»Oder aber der Baum, der unseren Wagen aufgespießt
hat, ist ein Neuankömmling«, fuhr Will fort. »Auf dem Geoschirm,
den ich für die Planung der Landung verwendete, tauchte er
jedenfalls nicht auf. Wenn das so sein sollte, dann ist es wirklich
bedauerlich, wie sehr Jean Robin sich geirrt hat. Ich kannte ihn
und habe ihn zu seiner Zeit sehr gemocht. Aber manchmal hatte er
seine Botanik einfach nicht unter Kontrolle.«
Ich war zu erledigt, um ihn zu fragen oder mich
auch nur im Entferntesten dafür zu interessieren, wer Jean Robin
war.
Für einen Kuss hingegen war ich nicht zu
müde.