Der Himmel war weißblau wie der Schnee, und mit jedem Schritt eroberte Nadja sich ein unbetretenes Feld. Das Pferd kam nur noch langsam voran, es blieb wiederholt stehen, schnaubte, dampfte aus den Nüstern und winkelte abwechselnd die hinteren Hufe zur Entspannung an. Es war noch ein Stück, der Weg durch den Wald bis zum See. Eine weiße Schneise zwischen den graubraunen Bäumen, die Büsche am Rand sahen aus wie Fontänen, deren Wasser plötzlich zu Eis gefroren war. Nichts war zu hören, nur sie und das Pferd, dessen Schnaufen, dessen Geruch sie so mochte. Es war ein eigenwilliges, verläßliches Pferd, es war das Pferd des Nachbarn; immer, wenn sie draußen war, aus der Stadt, hier auf der Datscha, dann hatte er es ihr überlassen. Wie auch jetzt. Er hatte es ihr überlassen, und sie hatte entschieden, es so zu machen.

Sie hatte ihm nie einen Namen gegeben, der Nachbar war Nutztierhändler, er gab seinen Tieren generell keine, sie spürte die Macht, die darin lag, einem anderen Lebewesen einen Namen zu geben, es zu seinem zu machen und doch zu etwas anderem, und in einem kurzen Augenblick von Wehmütigkeit begann sie, sich Namen auszudenken. Sie dachte an Otto, ihren Direktor, Regisseur, Spielmacher, wie er sich selber nannte. An Anton, ihren Mann, der, was seine Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft betraf, doch auch was mit diesem Pferd zu tun hatte, wobei die ursächlichen Impulse seines Handelns im Dunkeln lagen. Sie dachte an den Moment, da sie sich für die Namen ihrer zwei Kinder entschieden hatte, aber darauf war sie nicht stolz, denn ihr Mann hatte sich durchgesetzt und ihnen deutsche Namen gegeben, um sie zeitlebens daran zu erinnern, wo ihre Vorfahren väterlicherseits einmal hergekommen waren. Das Pferd, das wohl keinen Namen mehr bekommen würde, setzte sich von allein wieder in Bewegung, Nadja flüsterte ihm Mut zu, einen Rest Durchhaltevermögen, eine Kraft, von der sie sich im Übermaß erfüllt wußte, gepaart mit der Überzeugung, alles meistern zu können, selbst diesen Weg hier durch die Nacht, an dessen Ende eine traurige und doch auch erlösende Erfahrung stehen würde.

Sie kamen am See an, die Nacht war gleichbleibend hell, und ihr schmerzten ein wenig die Augen. Das Pferd stand da und dampfte, Nadja zog ihre Lederhandschuhe aus und strich über sein Fell, vom Hals über den Bauch, über den Rücken, ein Eintauchen in die Mulde unter dem Kopf. Sie verbat sich jeden nostalgischen Gedanken, nur das ruhige Streichen über das Fell, die festen Muskeln darunter, die Barthaare am Maul. Es schnappte nicht mal mehr nach ihrer Hand. Es senkte nur den Kopf, Nadja forderte es auf, weiterzugehen, noch ein bißchen weiter, raus aufs Eis. Sie tat das für sich, natürlich auch fürs Pferd, aber dem Pferd schien alles gleichgültig zu sein. Einem kurzen Impuls folgend, begann Nadja zu summen, das Gutenachtlied der Kinder, und das Tier drehte ein Ohr in Richtung ihrer Stimme, dampfte sonst bewegungslos weiter. Während man singt, dieser Satz von Otto fiel ihr ein, kann man weder befehlen noch weinen. Das sei die politisch-soziale Dimension des Singens. Hier draußen, im Endlosweiß ihrer Heimat, in der Grenzenlosigkeit, war ihre Stimme sehr klein, filigran, nur eingebettet in die schönste aller Sprachen.

Plötzlich ging es weiter, Schritt für Schritt ging sie neben dem Pferd weiter aufs Eis, der frische Schnee stob auf, tiefer unten knirschte er. Als sie zurückschaute, waren sie fast auf der Mitte des Sees. Es ging ein Zucken über das Fell des Tieres, es schnaubte, knickte dann die Vorderhufe ein, kniete und ließ sich zur Seite fallen. Sie versuchte, es noch einmal zum Aufstehen zu bewegen, aber scheinbar sollte das hier der Platz sein. Nadja schoß einmal in die Luft, um dem Pferd die Schreckhaftigkeit zu nehmen. Es machte keine Anstalten, wieder aufzustehen. Dann schoß sie Löcher ins Eis, graue Schmauchspuren am Blütenweiß, und der gestaffelte Nachhall zerstob zusammen mit meckernden Vögeln. Mit ihren Fellstiefeln wischte sie den Schnee so gut es ging zur Seite. Etwas Wasser schwappte aus den Löchern. Sie trat in den Ring, den sie um das Pferd gemacht hatte, und sprang mehrere Male auf, unter ihr knirschte und knarrte es, kam in Bewegung. Das Pferd versuchte wieder von der Seite auf die Knie zu kommen, blieb dann liegen. Nadja schmolz ihm ein Stück Eis in den Händen, klaubte den Zucker aus der Manteltasche. Es leckte ihr die Hände ab, die rauhe Zunge an der handschuhwarmen Haut, ein kurzer Moment des Zweifels, ob das, was hier passierte, wirklich richtig war. Aber es war wie ein Versprechen, das sie gegeben hatte, ein Schwur, wie sie ihn immer voller Überzeugung gab, auch die Schwüre, über die die anderen der Compagnie heimlich bis offen zu lästern begonnen hatten, ein dreifaches Hoch auf den Genossen. Sie würde nicht damit anfangen, halbe Sachen zu machen, sie akzeptierte kein Durchlavieren, sie stand ein für das, was sie versprach. Sie lud das Jagdgewehr des Nachbarn nach und schoß weitere Löcher in die Fläche. Es knackte mit einem Geräusch, als zerreiße jemand ein langes Stück Taft in einem Rutsch, sie spürte, wie sich der Boden unter ihr senkte, sie sprang zur Seite, stolperte, griff in den Schnee, rollte sich in Sicherheit. Das Pferd hatte den Kopf gehoben und schnaufte, wie in Verwunderung über den rätselhaften Hechtsprung, den sie gerade vollführt hatte. Es war auch zum Wundern, nur hatte sie jetzt diesen Rahmen geschaffen, sie sah den Nachbarn vor sich, der ihr versichert hatte, der Abdecker leiste gute und schnelle Arbeit, ein Schnitt durch die Kehle des Tieres, danach erst die Hufe, und außerdem sei Pferdefleisch noch immer das nahrhafteste Fleisch, was sie als Stadtmensch natürlich nicht wisse. Selbst die Innereien, die Knochen, alles könne man hervorragend verwerten. Aus dem Pferd wird keine Wurst, hatte sie erwidert, und er hatte mit den Augenbrauen gezuckt, über ihre Verve gelächelt und ihr sein Gewehr ausgeliehen. Sie war immer hier rausgeritten, sommers wie winters, hatte mit dem Pferd die Einsamkeit geteilt, Glücksmomente nach gelungenen Aufführungen, Wut über die oftmals so realitätskonformen Entscheidungen ihres Ehemannes, kleinliche Aufregungen, die sich hier draußen sofort in Luft auflösten. Natürlich war es Einbildung, und sie gestand dem Pferd eine Wahrnehmung zu, die es nicht hatte, aber ihr Gefühl war gewesen: Sie hatten die beruhigende Schönheit hier draußen geteilt.

Sie rappelte sich erst auf, als sie durch das Fell ihres Mantels die Kühle zu spüren meinte, es war der Schweiß auf ihrer Haut und die Bewegungslosigkeit, in der sie zu frieren begann. Sie wollte keinen Abschied, das hatte sie sich vorgenommen, das wäre nur selbstmitleidiges Zögern gewesen. Sie warf die Zuckerstücke so nah wie möglich vor sein Maul, sie fielen ins Weiß und verschwanden. Das Pferd schnupperte und schnappte, im Liegen, Schneeflusen flogen auf. Nadja kroch an den Rand, reichte dem Pferd von dort aus noch Zuckerstücke auf ihrer Hand. Es hörte auf zu kauen, lag nur im Pulverschnee. Sie stand auf, griff nach dem Gewehr. Sie entfernte sich, drehte sich nicht um, hörte nur plötzlich das Knacken, das Reißen des Eises, rannte los, so schnell es im Schnee ging, meinte, das Plätschern des Wassers zu hören, in ihrem beschleunigten Herzschlag, im Rauschen in den Ohren. Sie drehte sich um, das Pferd war verschwunden, und sie spürte, wie etwas Unkontrollierbares in ihr ausbrach, womit sie nicht gerechnet hatte, eine Lust, dem Verschwinden etwas entgegenzusetzen. Sie schoß mehrere Male in die Luft, schrie zum Salutieren und war zugleich glücklich darüber, hier allein zu sein. Wie gut war diese Einsamkeit. Wie groß die Freiheit, die es nur hier gab, in ihrem Land, wo Leben und Tod nah beieinanderstanden, Schönheit und Grausamkeit, und der Schmerz darüber, weil er spürbar blieb, eine so lebendige Kraft entfalten konnte.