Anton stellte die Koffer neben die Eingangstür des Antiquariats, dann zog er beide Kinder zu sich, als könnte er sie unter den Aufschlägen seines Mantels verstecken. Nadja trat neben ihn, nahm Peter an die Hand, zog Senta auf die andere Seite, womit sie es schaffte, eine Wand zu errichten, die der dunklen Ladenfront etwas entgegenzusetzen hatte. Tante Ingje schloß von innen auf und richtete mit einer nervösen Geste ihr perfekt gewelltes Haar. Anton fädelte sich wieder vor Nadja ein, so war er, ein Faden, der durch jedes noch so kleine Öhr paßte, und schüttelte Tante Ingjes Hand, wobei er einen krummen Rücken machte und unentschlossen schien, ob er nicht doch einfach einklappen und ihr einen Handkuß geben sollte. Sie gingen im Entenmarsch hinein, Anton voran. Das Antiquariat war klein und vollgestopft, wie Anton es beschrieben hatte. Staubiges Papier, eine Tür mit zwei Stufen davor, eine altersschwache Türklinke, Spinnweben in den Stucktrauben unter der Decke. Eine Couch an einer Stirnseite, umrahmt von Regalen und Ablagen, davor ein Beistelltisch, auf dem auch Stapel von Noten, Liederbüchern, lose Blätter lagen.

»Seid ihr endlich da«, plapperte Tante Ingje, »endlich, endlich, ich hab so lang gewartet, ich wußte ja nicht genau wann, sonst hätte ich euch vom Bahnhof, es ist ja nicht weit, sonst hätte ich auch den Herrn Drenner, der kümmert sich um so was, Achtung, hier, eine Stufe, nicht stolpern, ich stolpere hier immer, ich sag euch, seid ihr endlich, Achtung, hier.« Sie blieb unter dem Türrahmen des nächsten Durchgangs stehen, drehte sich um. »Ihr schlaft im Laden, hab ich mir gedacht, dann habt ihr eure Ruhe. Die Kinder können im Wohnzimmer, ja, dachte ich mir, so macht es keine Umstände.«

»Keine Umstände«, wiederholte Anton.

»Ich spreche ja kein Russisch«, sagte Tante Ingje.

»Wir aber Deutsch«, sagte Anton.

»Keine Umstände«, schloß sie und huschte voran durch den Flur, der Laden und Wohnung verband.

Nadja hatte nichts gesagt zur Begrüßung, der Tante nur stumm die Hand gegeben, noch angewidert von Antons Untertänigkeit. Sie sagte den Rest des Tages nichts, setzte sich nur auf die Couch im Laden und betrachtete den Ausschnitt Berlin, den sie von hier aus sah: Fensterrahmen, Rhododendronblätter, mit etwas Abstand der schmiedeeiserne Zaun, Kopfsteinpflasterstraße, wieder ein Zaun, diesmal mit Bajonettspitzen, eine Hecke, dahinter ein Platz, ein Springbrunnen, Sandwege, Blumenbeete. Die Fensterscheibe war frisch geputzt. Die Spinnenweben und den Notenstaub konnte Ingje offenbar ignorieren, solange die Aussicht eine gewisse Klarheit hatte. Ihre Wohnung dagegen war der Inbegriff von Reinlichkeit. Sie wirkte wie ein Zuhause, in dem niemand zu leben schien. Leben wirbelte Staub auf. Leben hieß, daß man Spuren hinterließ. Tante Ingje schien sich von den Unbilden dieses Weltgesetzes befreit zu haben.

Anton kam herein, klemmte sich hinter Rudolfs alten Schreibtisch – er stand viel zu nah an einem Regal – und übte das Inbesitznehmen. Dann blieb er einen Moment vor Nadja und der Ausklappcouch stehen, hob ein Blatt hoch, noch ein weiteres, legte beide zurück. Nadja hörte, wie Senta mit der Tante sprach, ob sie nicht in der Kleiderkammer schlafen dürften? Dort fanden sie es gemütlich. Aber die Tante wollte das nicht, sie sah ihren Satin, den Chiffon und die Wolle Schaden nehmen. Ingje residierte selbstverständlich in ihrem Schlafzimmer. Selbstverständlich. Sagte auch Anton, bevor er aus dem Laden ging.

Nadja umschritt mit wanderndem Blick den Ort, an dem sie saß, das Karree des Neuanfangs. Noten, kein Gesang. Papiermusik, nur dazu da, die Erinnerung zu erhalten.

Sie griff nach ihrer Handtasche, schrieb in ihr Chinaseiden-Buch: In Rußland überläßt man den Gästen das größte Bett. Man gibt ihnen die letzte Roulade, das letzte Piroschki, den letzten Schlag Sahne. Man zieht sich in die hinterste Ecke seiner eigenen Wohnung zurück, die Gäste sollen es schön haben. Notfalls liegt man nur unter einem Laken, Hauptsache alle anderen haben es warm. Tante Ingje zeigt ihre Sammeltassen vor, wobei sie einen Klaps auf die Hände der Kinder andeutet, falls die ihr Hutschenreuther berühren sollten. Ich nehme mir eins vor, jetzt und hier, und ich schreibe es auf, um mich immer wieder daran zu erinnern. Ich rede mit Tante Ingje kein Wort. Soll sie glauben, ich sei stumm. Und taub. Oder beides zusammen. Schweigen ist die vollkommenste aller Lügen. Die schärfste Waffe. Hat Otto immer gesagt.

Sie schrieb das Russische in ihrer geschwungenen, mädchenhaft verzierten Schrift, sie genoß jeden Buchstaben. Sie schrieb weiter, die Buchstaben waren eine Wohltat, die Bögen, die Schwünge, sie zwiebelte sich ein in ihre Ornamente, sie rüschte, verschmückte, sie vergaß den Rest.

Sie fand eine Reißzwecke, riß die Seite aus dem Buch und befestigte sie an der Kopfseite des Bettes, wie ein hübscher, für Ingje unentzifferbarer Morgenappell.

Die Tante ließ am nächsten Tag mit geschäftigem Rattern das Gitter vor ihrer Ladentür hochfahren und fegte in kantigen, kurzen Strichen den Weg davor. Sie hielt mit der Nachbarin einen Snack, wie sie betonte, um ihre Hamburger Herkunft herauszustellen. Anton ging auf die Pirsch. Nadja zog die Kinder an und wanderte mit ihnen hinüber zum Platz. Dort saß sie den Vormittag über und beobachtete beide bei ihren Spielen.

Ein paar bürgerliche Frauen mit ihrer Entourage aus Kindern und Kindermädchen. Ein paar eilig den Platz querende Männer in Hut und Mantel. Spatzen, die aus den Buchenhecken hüpften und sich im Sand der Beete wuschen. Die Stimmen der Kinder, das Rattern der Straßenbahn vom Korso, das Quietschen der Züge von der Ringbahn, es war noch hier zu hören. Sie igelte sich ein in das Gefühl emanzipatorischer Überlegenheit. Sie hatte immer gearbeitet, ihr Geld verdient, sogar ihre Talente dafür einsetzen können, weil sie in einem Staat lebte, der Frauen als wahrhaft gleichberechtigt betrachtete. Sie war eine Künstlerin. Hier, auf diesem Platz, im großen Berlin, nicht weit entfernt vom Kurfürstendamm, wo es mal die Wilde Bühne, das Schall und Rauch gegeben hatte, lange her, nichts mehr von übrig, hier schien es jetzt nur noch Frauen zu geben, die ihre Mutterschaft zelebrierten, Kinderwagen mit Andacht und Stolz schoben, als sei das die alleinige Bestimmung der weiblichen Seite der Menschheit. Hier gab es Bänke, auf denen nur Frauen saßen, im Schatten des vaterländischen Nibelungen-Brunnens, kleine Inseln, auf denen sie ihr Dasein fristeten, weit davon entfernt, eine Stimme zu haben.

Sie hatte gehört, wie Anton sich Tante Ingje gegenüber entschuldigend geäußert hatte: Nadjas Deutsch sei noch arg schlecht. Sie solle Geduld mit ihr haben. Die Tante hatte ein gleichgültiges Schnalzen von sich gegeben, das den Vorwurf nicht kaschierte. Nadja wollte keine Geduld und auch nicht Antons Entschuldigung, beides steigerte nur ihren Unmut.

Mehr und mehr erschien ihr in Träumen, im Dämmern am Morgen, der gutaussehende Mann mit den schwarzen Augen, dem friedfertigen Bart. Der ihr deutlich machte, daß er zu einer Entschuldigung bereit sei. Jawohl, er wollte sich entschuldigen. Ein Irrtum sei es gewesen, sie hatten das Theater nicht schließen, sie hatten die Compagnie nicht in Angst und Schrecken versetzen, zur Demütigkeit zwingen wollen. Sie war eine gut gelittene Künstlerin der Sowjetunion, eine tragende Säule einer wahrhaft gerechten Gesellschaft, des Aufbruchs, ein Teil von allem. Irrtümer waren, bei der Suche nach den wahren Volksfeinden, unvermeidlich. Es gab viele, sie tarnten sich gut. Sie jagten Fabriken in die Luft, brachten Züge zum Entgleisen, sie ermordeten Menschen. Unsere Sicherheit ist ein Trugbild, wir müssen kämpfen, um das zu bewahren, was wir haben. Gegen die Feinde des Volkes. Überall sind sie. Daher muß man sie suchen. Beim eiligen Suchen unterlaufen jedem Menschen Fehler.

Sie saß auf dem kühlen Stein, hinter ihr gurgelte der Springbrunnen, eine Stimme, die sie heraushörte, je länger sie dort saß. Am Rande nur nahm sie wahr, wie ein Mädchen, das bei Peter und Senta stand, etwas fragte. Senta antwortete laut und mit unverkennbarem Stolz: »Hamburg.«

»Hamburg?«, fragte das Mädchen, »Da kommt auch meine Cousine her. Die wohnt an der Alster. Und stolpert immer über den spitzen Stein.«

»Wir haben auch an der Alster gewohnt.«

»Wo denn?«

»In der Straße Nummer 12.«

»So heißt keine Straße«, sagte das Mädchen.

»So hieß unsere Straße«, sagte Senta und schenkte ihrem Bruder einen geringschätzigen Blick.

»Du weißt noch nicht einmal, wie eure Straße heißt«, sagte das Mädchen und ging.

Als Senta ihre Mutter sah, wich sie ihr aus. Nadja wollte nach den Händen ihrer Kinder greifen, aber ihre Tochter stob weg. Nachdem sie ihres Abstands sicher war, trottete sie über den Platz, sie hatte die schmalen Schultern ihres Vaters geerbt, und Nadja betrachtete den Knoten ihrer Schürze im Rücken, ihre geflochtenen Zöpfe, ihre leicht nach innen gestellten Knie. Sie war sehr dünn.

»Ihr kommt aus Moskau«, sagte Nadja laut in den Rücken ihres Kindes. Als habe es kein Ohr mehr fürs Russische, trottete es weiter. »Wiederhole das«, sagte Nadja noch lauter. Senta begann, schneller zu gehen. Peter an Nadjas Hand fiel in einen Laufschritt, das stolpernde Eilen eines Kindes.

»Und das wird immer so bleiben. Seid stolz darauf.«

Senta zog mit beiden Händen die schmiedeeiserne Tür auf, wie eine Antwort das Quietschen der Scharniere. Schon lief sie über das Kopfsteinpflaster.

»Nie im Leben«, schwor sich Senta, als sie das sichere Rechteck der Treppenstufe hoch zum Antiquariat betrat, nur aus den Augenwinkeln einen Blick zurück wagte, wo die Mutter auf der anderen Straßenseite stand, weit entfernt, ihren Bruder an der Hand. Als ginge ihr einen Moment die Luft aus, so stand Senta da. Das Fehlen der mütterlichen Zuneigung stach, wie an einem trockenen Wintermorgen, wenn man auf die Straße sprang, voller Tatendrang, in Erwartung anderer Spielgefährten, und die Luft wie Eis am Gaumen klebte, ein Schmerz bei jedem Atemzug.

Anton kam an einem der nächsten Tage ins Geschäft und verkündete mit strahlendem Gesicht, er habe Arbeit. Die Tante war ganz Ohr, die Kinder auch, Nadja stand abseits und hörte, wie er es sich schönredete. »Es ist die größte und bedeutendste Zeitung in Berlin. Ein Tor von Eingang. Ein Portier. Eine große Treppe. Ich teile mir ein Büro mit vier anderen Journalisten. Wir berichten aus aller Welt. Wir sind die ersten, die die Neuigkeiten wissen. Wir müssen schnell arbeiten, manchmal in größter Eile, wenn noch etwas passiert, das in unsere Zeitung muß. Und ich werde sogar im Impressum stehen, ja, Anton Neudecker, Redakteur, wird dort stehen.«

»Und in welchem Ressort wirst du schreiben?«, fragte die Tante spitzfindig. »Politik, Feuilleton?«

»Aus aller Welt«, sagte Anton, und Nadja empfand einen Augenblick lang Mitleid mit ihm, dem Mann, der lächelnd, zum Frohsinn entschlossen, auf einem leeren Tisch ein Menü sehen wollte.

»Also letzte Seite«, triumphierte Ingje in milder Stimmung.

»Die Horoskope«, sagte er später zu Nadja, als sie in der Abgeschiedenheit des Ladens nah beieinander auf der Kante der Ausklappcouch saßen. »Dafür bin ich zuständig, aber sicherlich auch mal die eine oder andere Meldung, und es ist eine Arbeit. Ich kann jede Woche gekündigt werden, aber ich werde jede Woche bezahlt. Es ist ein Anfang, glaub mir, das ist es.«

Er drehte sich zur Wand, das Sofa knarrte, Nadja betrachtete seinen Hals, den Stoff seines Schlafanzuges, sie berührte mit einem Finger seinen Haaransatz, fuhr daran entlang. Sie war fast erstaunt darüber, wie warm seine Haut war. Er drehte sich zu ihr. »Könntest du jetzt«, fragte er leise, »jetzt, wo ich eine Arbeit habe, ein Wort mit meiner Tante reden?«

Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

»Ich bring’s nicht über die Lippen«, sagte sie auf Russisch, so leise und schnell, als habe sie jemanden überlisten wollen.

»Sie hält dich für schwer von Kapee.«

»Das soll sie gerne.«

»Wenn wir eine Wohnung haben, eine für uns, dann reden wir Russisch«, sagte er leise und berührte ihr Haar.

»Wenn du ein Klavier hast, eines für dich.«

Sie betrachtete ihren Mann. »Du wirst singen, wenn du ein Klavier hast.« Sie machte eine unbestimmte Geste, einem Schulterzucken nicht unähnlich. »Ein Klavier«, sagte Anton leise, »das ist das nächste, was ich organisiere.« Sie schaute ihm in die Augen, er forderte das. Sie hielt seinem Blick stand, dann verlor sie ihn. Sie würde sich nicht ans Klavier setzen, aber warum ihm das sagen. Das Instrument hatte nur eins im Sinn, nach ihr zu schnappen, über sie zu triumphieren, eine Frau ohne Stimme. Sich sprachlos am Schicksal zu rächen war lächerlich, aber im Moment war alles stärker als sie, selbst ein klappriges, angeschlagenes Pianola am schattigen Ende eines Wohnzimmers.

Die Außenminister schlossen den Nichtangriffspakt, und Nadja stellte ein daumennagelgroßes Stalin-Bild so zwischen das gute Geschirr von Tante Ingje, daß nur sie es sehen konnte. Jeden Morgen, wenn sie die Küche betrat, grüßte sie ihren gutmütigen Herrn mit den treuen Augen und dem sympathischen Walroßbart, gegen den Tante Ingjes Hitler eine Karikatur von einem Führer war, blaß, häßlich und mit einem so kleinen Schnauzer, daß es wirkte, als wüchse ihm ein haariger Bremsklotz unter den Nasenlöchern.

Anton brachte nach seinem ersten Arbeitstag die Zeitung mit. »Morgen«, sagte er, »morgen erscheint ein Artikel von mir.« Er brachte die Zeitung wieder mit und las vor: »Der Thronfolger von Spanien gehört zu den reichsten Männern der Welt. Er wird ein Königreich erben. Dennoch ist ihm das Schicksal nicht hold. Seine Angebetete, Prinzessin Alma Isabell von Portugal, fühlte sich von ihm zu wenig hofiert. Und so spielte sie ihm vor, entführt worden zu sein. Die Entführer forderten schriftlich eine hohe Summe Lösegeld. Sie selbst schrieb diesen Brief, ohne daß der Thronfolger ihre Handschrift erkannt hätte, und als er beschloß, einen Großteil des Vermögens zum Freikauf der Prinzessin ...«

»In Spanien herrscht Bürgerkrieg, und du schreibst was über diesen ollen Monarchen«, unterbrach ihn Tante Ingje, »wenn du das Journalismus nennst, heiß ich Fürst Bismarck.«

Nachdem die Kinder im Bett waren, mäanderte Anton durch den Flur, der Laden und Wohnung trennte, er schritt den Weg ab, als hole er Anlauf, dann kollidierte er mit der Tante auf halber Strecke in ihrem Wohnzimmer und sagte: »Mir brauchst du den Glauben nicht nehmen. Aber den Kindern könntest du ihn lassen.«

»In meinem Haus werden keine Lügengeschichten erzählt«, sagte Ingje kalt, »da hast du in Rußland vielleicht einen lascheren Umgang mit unseren Tugenden gelernt.« Sie warf Nadja einen Blick zu, die am Bügelbrett stand und die Wärme des Eisens mit knappen Berührungen testete. Nadja erwiderte den Blick nicht, murmelte nur einen kleinen Fluch auf Russisch, der das Bügeleisen betraf, das schon wieder zu kalt war, um Leinen zu glätten. »Und bitte, wenn deine Frau schon was sagt«, sagte Tante Ingje, »dann auf Deutsch.« Nadja drückte das Eisen auf den Stoff, mit aller Kraft, eine Hoffnung, Tante Ingje und ihre Reden in gepreßter Hitze verdampfen zu lassen.

»Das ist nicht zuviel verlangt. Daß die Frau Deutsch spricht.«

»Das ist nicht die Frau, das ist meine Frau.«

»Ich weiß, daß das Revuemädchen sprechen kann. Das ist nicht zuviel verlangt, oder?«, sie schaute Anton an, schon jetzt in Reue ob ihres Ausspruchs.

»Keiner lügt hier. Nadja nicht. Ich nicht. Das laß dir gesagt sein.« Er schob eine wütende Sekunde lang die Unterlippe gen oberer, wobei seine Mundwinkel absanken. »Je härter die Zeiten, desto wichtiger ist Unterhaltung. Ich kann auch aus der komplizierten Welt der Politik berichten, aber ich finde es angemessener, daß jeder ab und zu mal was zu lachen hat und seine Sorgen vergessen kann. Das ist unser gutes Recht, wenn wir eine Zeitung kaufen. Also sag mir nicht, ich würde lügen. Ich unterhalte.«

»Wie die famose Schauspielerin. Da seid ihr füreinander geschaffen.«

Nadja kannte Antons Beherrschung, das Gären darin. Er nahm viel hin, er redete sich vieles schön, aber es gab einen Punkt, an dem sein ballonartig dehnbarer Langmut durchstoßen werden konnte. »Bilde dir nicht ein, daß wir deine Hilfe nötig hätten, deine Almosen erbetteln müßten.«

»Es wird klappen«, sagte er leise, als sie im Dunkeln des Geschäfts auf der Couch lagen. »Und wohin?«, fragte sie flüsternd auf Russisch. Er gab keine Antwort, er mußte das Fenster öffnen, heute kam ihm der Raum noch stickiger vor als sonst. Er legte sich zurück auf die schmale Couch, er spürte ihren Körper, die Wärme, er wollte ihr nah sein. »Ein Kollege sagte gestern zu mir, daß wir als Russen und Juden ein Schicksal teilen. Ich bin da nicht ganz seiner Meinung, wir hatten aber keine Zeit, weiter miteinander zu reden, er sagte mir nur, wir könnten in seine Wohnung gehen. Er wird Berlin verlassen. Er werde nicht warten. Er geht, mit nur vier Koffern.«

»Dann sollten wir das auch tun.«

»Ich hab Arbeit, wir haben eine Wohnung, da gehen wir doch nicht wieder«, flüsterte er auf Russisch zurück.

»Was sagen sie über einen Krieg?«

»In Wenigers Wohnung steht ein Klavier, hättest du das gedacht?«

»Was, Anton, was.«

»Nichts sagen sie. Ein Klavier. Das ist doch was.«

Sie setzte sich auf, spürte am Nacken die Scharfkanten eines Notenstapels, griff hinter sich, zog die Blätter heraus, knallte sie auf den Boden. Ein Geräusch wie ein dumpfer Knall.

»Sch!« Er hob den Arm.

Sie rutschte darunter hindurch, sprang vom Bett, eilte quer durch den Laden und quetschte sich am anderen Ende des Zimmers am Schreibtisch vorbei in die Ecke. Dort stand sie. Antons Blick war dunkel, umschattet vom wenigen Licht der Nachttischlampe, zwei Falten zwischen den Augenbrauen, der Mund stand ihm offen, dann schloß er ihn und schluckte so, daß sein Adamsapfel zuckte. Er schob seinen Körper mit einer seltsamen Trägheit unter die Decke.

Von unten zog es kalt an ihr hoch.

Irgendwann wurde sein Atem ruhig und gleichmäßig, ob er es spielte oder wirklich schlief, konnte sie nicht erkennen.

Sie nahm ein Blatt Papier aus der Ablage neben sich, eine uralte Rechnung, sie schrieb auf die Rückseite: ›Ich verabscheute deine Naivität.‹ Sie stockte. Dann schrieb sie darunter: ›Ich verabscheute sie, und ich verteufle dein Schönreden der Welt, denn die Welt ist schrecklich und häßlich, eine einzige Fratze, und Deutschland eine Hölle, in der man nicht leben kann, dagegen ist Sibirien ein Mittelmeerparadies, aber du schließt die Augen und forderst mich auf, es genau wie du zu tun. Mich anzupassen, einzufügen, zu ducken. Wie soll ich das machen? Wie soll ich eine andere werden? Wenn ich es nicht will. Und es macht keinen Sinn, daß ich so werde wie du. Denn, ich liebe dich. Genau für das alles, was ich an dir auch so widerwärtig finde.‹

Ein verschlüsselter Brief wieder, eine Nachricht aus einer Welt, in der Buchstaben Häuser waren, keine Notunterkünfte. Sie näherte sich der Couch, wachsam ob Antons Schlaf, löste den Reißnagel, an dem ihre Selbstermahnung hing, hielt den eben geschriebenen Brief davor und befestigte beides zusammen über dem Kopfende des Bettes.

Sie schlich in die Kleiderkammer von Tante Ingje, breitete dort zwei Handtücher aus, sah dann den Tweed eines Mantels, das Chiffon eines Kleides, nahm sich alles von der Kleiderstange, was sie brauchte, um sich ein Bett zu machen, knüllte ein paar von Tante Ingjes besten Pullovern zu einem Kopfkissen und wachte erst am Morgen auf, als sie die Stimmen der Kinder im Badezimmer nebenan hörte.