Nur die Fenster im ersten Stock des alten Eckhauses waren erleuchtet, türkisblaues Fernsehflimmern in den Scheiben des Mansardenzimmers. Senta versuchte erst gar nicht, dem Haus, das sie bis vor wenigen Jahren ihr Zuhause genannt hatte, nahe zu kommen. Sie blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen, die Hände in den Taschen des Mantels. Der Grobputz an der Fassade war rissig und angegraut, der Garten wieder so struppig wie beim Einzug. Der schmiedeeiserne Zaun beugte sich nach vorn, es hatten sich Lupinen ausgesät, ihre Hochhausgerippe standen stolz, aber erfroren bis an den Weg. Im Erdgeschoß brannte keine Lampe im Fenster, es war, als sei niemand dort, aber Senta hörte bis auf die Straße das Klavierspiel ihrer Tochter, ihr typisches Spielen, das als Nachspielen von Komponiertem begann und sich zunehmend in der Improvisation verlor, die Art von Konversation, in die Katarina sich gerettet hatte und dank derer sie sich mit dem Gefühl von Sicherheit betrügen konnte, ständig und unablässig mit ihrer Mutter in einer Art Zwiegespräch zu sein. Anton saß im ersten Stock, im Mansardenzimmer, und errechnete das Horoskop einer hysterischen Aktrice aus Nikolassee, die immer nur eines wissen wollte, dieses Mal, wie ihre Nebenrollenverkörperung in einer bunten Hexen-Revue beim Hannoveraner Publikum ankommen würde. Er saß ausnahmsweise nicht im früheren Kinderzimmer, wo nun sein Weltempfänger und das Schachbrett den alten Kinderschreibtisch zierten, seine Anzüge im Schrank hingen und die astrologische Fachliteratur sowie sein Archiv die schmalen Bücherregale füllten. Er hatte keines der mittlerweile verblichenen Jugendposter abgenommen, keine Pinselei seiner Enkel übermalt, er hatte ihre Bildbände und Karl-May-Gesamtausgaben zur Seite geschoben und seine Bücher neben die windschiefen Ordner gestellt, die alle seine je erschienenen Artikel, Horoskope und Meldungen aus aller Welt enthielten. Etwas nachlässig beschriftet waren sie, standen kreuz und quer durcheinander, was Anton nicht im geringsten interessierte, er wollte die Ordner nur um sich haben, ohne genau zu wissen, warum. Vielleicht als Puffer, vielleicht als Pfand, obwohl er in jeder zweiten Nacht von dem trockenen Staub und der uralten Druckerschwärze einen Reizhusten bekam.
Weil draußen in Berlin gerade soviel passierte, saß er im Mansardenzimmer und ließ den Fernseher laufen. Er wäre nicht nur nicht auf die Idee gekommen, sich der zunehmend dezimierten Grenze in der Mitte Berlins zu nähern, er vermied es, mehr als nötig daran zu denken. Aber ein Unwohlsein hatte ihn erfaßt, seither, und dieses Unwohlsein, das ihn von morgens bis abends begleitete, ließ sich nur beruhigen, indem er wieder und wieder ähnliche, mehr und mehr sich gleichende Nachrichtenbilder anschaute. Manchmal durchzog ihn ein Schaudern der Verzückung, eine Art patriotisches Staunen, wozu dieses Volk der Deutschen fähig war, gerade bei den Bildern von Männern, die in Jeans und dünnen Jacken, mit Locken und Schnauzbärten auf der runden Kuppe der Mauer saßen und lachten, weinten, die Fäuste reckten und sangen, alles in allem so wirkten wie Cowboys, die gemeinsam auf einem zahmen, gar nicht mehr störrischen Pferd ritten. Bei diesen Bildern erfaßte ihn das Staunen, das aber immer schnell in ein Schaudern hinüberglitt, womit das Unwohlsein wieder einsetzte und sich für einen weiteren Tag nicht hatte bezwingen lassen.
Lydchen saß, wie immer um diese Zeit, für eine halbe Stunde in ihren anderthalb Mädchenzimmern hinter der Küche, säuberte und feilte ihre Fingernägel, jeden vierten Tag lackierte sie sie neu, nie farbig, nur durchsichtig, wozu sie dann insgesamt ungefähr eine Stunde brauchte. Wobei dieses Ritual eher einer Meditation am Ende des Tages glich als einer äußerlichen Verschönerungsmaßnahme.
Senta konzentrierte sich auf ihre Fremdheit, den Überschuß an Süden in ihr. Sie war kurz davor, der Abstoßung klein beizugeben und wieder vom Haus wegzugehen, zurück in das Hotel. Da hörte ihre Tochter im Erdgeschoß mit dem Klavierspiel auf, und die Stille dehnte sich nicht aus, sie zog die Dunkelheit zusammen, und in dieser Dunkelheit setzte Senta einen Schritt auf das leicht zur Mitte hin gerundete Kopfsteinpflaster der Straße. Katzenköpfe aber regten sie schon immer zum Gehen an, sie konnte nicht stillstehen auf ihnen, und so ging sie einfach weiter, weiter auf ihr Eckhaus zu. Lydchen, in ihrer Kammer, die Feile am rechten Mittelfingernagel, hielt einen Augenblick inne, auch weil das so gewohnte Klavierspiel unterbrochen war, und auch, weil sie in solchen Momenten immer als erstes damit rechnete, daß Anton über einem seiner Horoskope zusammengesunken sein könnte.
Dem war nicht so. Anton atmete, wie er seit nun über achtzig Jahren geatmet hatte, etwas flach und voller Pragmatismus. Er hatte mit dem Abspannbild der Tagesschau seine Deklinationsberechnungen beendet, den letzten Aspekt zwischen dem vierten und dem neunten Haus gezogen und zur Erinnerung für die Aktrice unten links in die Ecke geschrieben: Erstellt am 15. November 1989 von Anton Neudecker. Er hatte widerstanden, noch eine knappkantige Aufmunterung hinzuzufügen, in der Art von: ›Hals- und Beinbruch für Ihre Revue, sie wird, wenn wir den Sternen glauben können, ein wirklich außergewöhnlicher Erfolg.‹ Er mochte nicht mehr lügen. Die Aktrice glaubte ihm alles. Aber ihn langweilte dieser Glaube, der nur die Suche nach Bestätigung des Immergleichen war. Weil sie zweifelte, befragte sie die Sterne. Ohne Zweifel wandte sich niemand diesem Hintergrundgetöse zu. Und sosehr Anton die Berechnungen mochte und schätzte, weil sie ihn mit sinnstiftender Konzentration füllten und keinen Platz für sein nervöses, immer fahriger werdendes Nachdenken ließen, sosehr ermüdete ihn das von seinen Kunden immer deutlicher gewünschte Herauslesen allein von guten Nachrichten, positiven Charaktereigenschaften, glücklichen Konstellationen. »Wir wollen getäuscht werden. Also zählt die Selbsttäuschung immer noch zu unseren unveräußerlichen Rechten«, hatte er letztens zu Lydchen gesagt, »warum sollte ausgerechnet ich gegen dieses Recht verstoßen?«
Außerdem gab es eine Menge guter Nachrichten in der Welt. In dieser Zeit. Denen konnte er keine hinzufügen.
Katarinas Hände lagen noch auf den Tasten, seit ihr Spiel gestockt hatte. Ihre Füße standen nicht auf den Pedalen, sondern auf der Matratze, die sie zu Beginn ihres Einzugs unter das Instrument gelegt hatte, alle anderen Möbel hatte sie in die gegenüberliegende Zimmerecke geschoben, möglichst weit weg vom Klavier. Jenen Hügel mittlerweile wurmstichiger Antiquitäten hatte sie mit den doppelten, ehemals weißen Samtvorhängen aus dem Wohnzimmer abgedeckt, wobei sie eine dekorative Gipsbüste des alten Beethoven zum Beschweren der Stoffkante oben auf dem Schrank benutzt hatte. Eine Woche lang hatte Beethoven von oben zu ihr hinübergegrimmt. Dann hatte sie ihn umgedreht und sich wohler gefühlt beim Anblick seiner Kaskadenperücke.
Mit Katarinas Einzug in ihr altes Elternhaus, der zusammenfiel mit ihrer Rückkehr aus Spanien, hatte eine zarte Freundschaft zwischen ihr und ihrem Großvater begonnen, eine Freundschaft, die damit einherging, daß Anton Katarina das Schach- und sie ihm das Klavierspiel beibrachte. Sie machte beim Schach größere Fortschritte als er am Klavier. Genaugenommen kam er nie über Für Elise hinaus. Wenn sie Schach spielten, saßen sie auf den Kissen der Sofas, die Katarina in den an das Arbeitszimmer grenzenden Wintergarten ausgelegt hatte, sie tranken Schnaps und manchmal auch Cognac, Weinbrand oder Likör, und Anton ließ sie so lange gewinnen, bis seine Beine im Schneidersitz eingeschlafen waren, er ihren Übermut in Schranken weisen mußte und sie nach drei Zügen schachmatt schlug.
So war es um die Bewohner des Hauses bestellt, als es unten an der Tür klingelte.
Das Lydchen stand noch in der Sekunde des ersten Läutens auf, legte die Nagelfeile zur Seite, strich sich ihren Rock glatt und prüfte, ob ein Taschentuch im Ärmel ihres Pullovers steckte.
Die beiden Frauen lächelten jeweils gequält, die Befangenheiten waren zu groß. Lydchen nestelte in ihrem Ärmel nach dem Taschentuch, das eingeschnaubt genug aussah, so daß niemand, der es in ihrer Hand sah, noch ein großes Bedürfnis nach einer Begrüßung verspürt hätte. Senta machte erst gar keine Anstalten, ihre kalten Finger aus den wärmenden Taschen zu ziehen. Sie wünschte sich Michael an ihre Seite, er hätte sein Haus selbstverständlich aufgeschlossen und wäre hineingegangen – vielleicht war es das erste Mal, daß sie seine Abwesenheit als Leere neben sich spürte. Der sanfte Hügel des Kopfsteinpflasters lag hinter ihr, der verwitterte Zaun, seine altersmüden Speerspitzen. Kein Schnee, kein Regen, nur eine Kälte, die von überall hineinkroch.
»Wollen Sie noch etwas zum Essen?«, fragte Lydchen statt einer Begrüßung.
Senta ging an der ergrauten Frau vorbei, jedoch nur einige Schritte, dann drehte sie sich um. Es roch im Haus, wie es eigentlich immer gerochen hatte, nach Kohlsuppe und Griesbrei mit Zimt, nach dem Staub in den Samtvorhängen, nach Holunder-Majoran-Tee und dem Holz der Fußböden. Eine neue Nuance war dazugekommen. Ein Demut verbreitendes Veilchenparfüm.
Lydchen deckte sofort den Tisch in der Küche, zwei Suppenteller, ein Korb mit Brot, zwei Löffel, eine neue Butterschale aus Edelstahl mit Plastikhaube.
»Wer ißt mit mir?«, fragte Senta.
»Ihr Vater nimmt so spät nichts mehr zu sich. Aber bestimmt Ihre Tochter.«
Senta war drauf und dran, Überraschung zu spielen, dann sagte sie nichts, setzte sich nur an den Tisch. In der Gegenwart von Lydchens mütterlicher Bestimmtheit schrumpfte Sentas Selbstverständnis als Frau auf ein Minimum. »Sie wußten natürlich, daß Katarina hier bei uns lebt«, konstatierte Lydchen im Tonfall der Überzeugung, daß Familie eine unzerstörbare Einheit ist, die im Zweifelsfalle durch gutes Essen zusammengeführt werden konnte. »Nur deshalb sind Sie hier.«
Schon war die Suppe warm, und Lydchen schickte sich an, ins Arbeitszimmer zu gehen. Da begann die Saudade.
Ohne daß Lydchen oder Senta es hätten bemerken können, war Katarina in ihrem Innehalten am Klavier der Umstand bewußt geworden, daß mit dem Klingeln niemand anderes als ihre Mutter das Eckhaus betreten hatte. Katarina spürte die Kühle der Tasten, den Rand der Matratze unter ihren Fußsohlen, hatte Beethovens Lockenkaskade im Augenwinkel, darunter den Samtschnee mit graubraunem Faltenwurf. Sie hatte Lydchens Verkupplungsversuch gehört. Sie holte Luft, schüttelte kurz ihre Finger aus und stürzte sich in Rachmaninows 2. Klavierkonzert, in seine Läufe und Gänge, rannte durch sie hindurch, als laufe sie über brennendes Gras. Ohne noch nach links und rechts zu schauen, schlug sie in die Tasten, rettete sich in seine russische Melancholie und vor der Anwesenheit ihrer Mutter, mit der sie – das hatte sie sich in einer Minute jugendlicher Selbstgerechtigkeit geschworen – nie mehr ein Wort reden würde. Höchstens noch durch Rachmaninow würde sie ihr sagen, was sie von ihr dachte. Sollte er von der Trance, der Hypnose und dem darin bewältigten Schmerz erzählen, davon erzählen, wie es einem Menschen ging, der von einem anderen sehr verletzt worden war. Sie selbst würde ihre Schwächen nicht offenbaren. Sollte ihre Mutter zuhören, solange die Suppe heiß war.
Senta aß, während Lydchen an der Einbauspüle lehnte und ratlos das Taschentuch im Ärmel von oben nach unten drehte. Beide hofften auf ein Ende der wütenden Musik, Senta aus anderen Gründen als Lydchen. Lydchen hoffte außerdem, daß Anton auftauchen und für einen Ausgleich der Mißstimmung sorgen könnte, aber Anton war nichts Ungewöhnliches im oberen Mansardenzimmer aufgefallen, auch das Klingeln hatte er im Gong der Tagesschau nicht gehört, daher kam er nicht herunter. Lydchen verbot es sich, aus der Küche zu gehen, Senta allein über ihrer Suppe und neben dem verwaisten Gedeck sitzen zu lassen, sie brachte es nicht übers Herz, sie sah in Sentas Einsamkeit ihre eigene und blieb aus Solidarität. Im Stillen verwünschte sie das Mädchen und ihr Klavierspiel. Um in der nächsten Sekunde in einen Fluß aus Mitgefühl zu fallen, der sie eben dorthin trieb, hinein in die Musik.
Senta aß stur und abgewandt ihre Suppe. Mit betont kontrollierten Gesten nahm sie Löffel für Löffel der Flüssigkeit auf, senkte den Kopf, führte das Silber an die Lippen, pustete, kaute nicht, schluckte. Löffel und Porzellan klimperten, Senta kratzte die Selleriewürfel zusammen, Lydchen fragte: »Möchten Sie noch einen Nachschlag?«, und Senta erwiderte: »Nein, danke. Ich bin schon satt.« Als Katarina im Allegro scherzando angekommen war, in dem die Tonschauer freundlicher, fast frech auf die beiden Frauen in der Küche hinabregneten, aller Vorwurf sich in den bereits hereingebrochenen Gewittern verausgabt zu haben schien, da stand Senta schließlich auf, ohne das Ende des Konzerts abzuwarten und verließ die Küche Richtung Haustür.
»Warten Sie«, sagte Lydchen und zog einen unbeschrifteten Umschlag aus ihrem Dr.-Oetker-Kochbuch über der Spüle. Sie ging Senta nach. Der Umschlag war zerknickt, und Senta ahnte etwas, als sie ihn entgegennahm.
»Hat ihn ein Mann mit einem Hut gebracht?«
Lydchen schüttelte den Kopf. Senta bemerkte das Haarnetz über ihren dünn gewordenen, steingrauen Wellen.
»Der Mann, der ihn brachte, hatte einen Bart bis zum Bauch.«
Instinktiv drehte Senta den Brief um, prüfte die dreieckige Zunge, ob jemand sie gelöst hatte über Wasserdampf.
»Sie hätten den Brief auch lesen können.«
Lydchen drehte sich weg.
Senta hielt das Papier fest, ein weißes Rechteck, ein unbeschriebenes Blatt, keine Spuren eines vorausgegangenen Öffnens. Katarinas selbstgefällige Rufe wurden immer lauter und zu schnellen, abgehackten Läufen, dann knallte sie ihnen die Akkorde und den wiederkehrenden, russischdicken Weltschmerz vor die Füße, und Senta hielt den Brief fest, als könne er dazu neigen, sich gleich selbst in Flammen zu setzen, ganz am äußersten Rand, diese Nachricht aus der anderen Welt, burn after reading, dachte sie kurz, wie Michael manchmal gesagt hatte, und dachte sogleich, wie gut, daß Lydia sich solche Freiheiten verbot, nie würde sie – um in Ungnade bei ihrem Gott zu fallen – Post von anderen lesen, also mußte Senta selbst den Brief vernichten nach dem Lesen, wenn sie ihn überhaupt las, denn vielleicht war das Geschriebene im Schweigen viel besser aufgehoben, im Darüberhinweggehen, im Fortspülen, wie ihre Tochter sie gerade fortspülte, im letzten Sturzbach des Konzertes, den sie hinter ihr ausgoß, mit Wut und einer Art tippelnder Freude, hier, Mama, ich weiß, daß du da bist, aber ich rede so wenig mit dir wie du mit mir.