Obwohl Senta ihre weiße Welt beharrlich verteidigte, verlor sie ihren Kindern gegenüber jeden Tag an Terrain. Martin und Markus sorgten dafür, daß die meisten Wände im ersten Stock mit Elefantenherden, glubschäugigen Außerirdischen oder komplizierten Farbexperimenten verziert waren, an der Wand neben der gerundeten Treppe nach oben, entwarfen sie über Wochen hinweg zwei Portraits ihrer Eltern. Die Köpfe schwollen überproportional groß im Vergleich zu den Körpern an. Sentas mitunter strengen, nicht ganz anwesenden Gesichtsausdruck trafen die Jungs gut. Michael hatte etwas von einer Statue, ein Herrscher, den man wohlwollend portraitierte, um nicht in Mißgunst zu fallen. Michi Junior und Malte bauten im Wohnzimmer aus Teppichen und Stühlen Höhlen, die nicht eingerissen werden durften und somit über Monate, vielleicht sogar Jahre die moderne Sofalandschaft durch die Heimeligkeit einer Jurte ersetzten.

Dann begann Sentas Radiozeit. Egal wo, sie trug ihr kleines Braun-Gerät wie ein Maskottchen mit sich herum. Sie hörte nur den einen Sender, gesprochenes Wort, klassische Musik. Über dem Zischen des Fetts in der Bratpfanne hörte sie Rachmaninow, über dem Pinkeln Mahler, dem Einschlafen Bruckner, was Michael nicht akzeptieren wollte, da ihm dieser Mann zu düster und brachial komponierte, er wechselte dann meist in ein verwaistes Kinderzimmer. Die Kinder schliefen so gut wie jede Nacht im grünen Zimmer, zusammen auf den dort gelagerten Matratzen. Wie Senta zuvor die Dunkelheit des Hauses nicht mehr hatte ertragen können, so ertrug sie nun keine Stille mehr. Die Musik wurde ein Gang mit endlos vielen Abzweigungen, auf dem sie unterwegs sein konnte, ohne mit der Wirklichkeit zu kollidieren. So wurden selbst Nachrichten, noch so lange Gesprächsrunden oder Hörspiele zu Musikstücken. Als Katarina an den Rändern ihrer Auffassungsgabe, eher unbewußt, verstand, daß sie ihre Mutter nirgendwo anders mehr treffen konnte als genau in diesen Gängen, beschloß die Elfjährige, das Klavierspielen zu lernen. Sie setzte sich an den Flügel im Arbeitszimmer, öffnete die mahagonifarbene Klappe und betrachtete bis zum Abend, als die Dämmerung das Zimmer in ein mildes Graurosa tauchte, das Elfenbeinweiß und Ebenholzschwarz der Tasten. Katarina hatte nie das Notenlesen gelernt. Sie hatte keinen Blockflötenunterricht genossen. Sie hatte sich bisher in der Schule eher für die Naturwissenschaften und die Mathematik interessiert. Die Reaktionsarten, die Stoffvereinigung und die Stoffzerlegung in der Chemie, die unumgehbare Einfachheit von Addition und Multiplikation, das faszinierte sie.

Sie hörte drüben im Flur eine dramatische Sinfonie auf ihr Ende zustreben, etwas blechern im tragbaren Braun, und sie saß hier und sah den verschlüsselten Code der Tasten an, der sich ihr nur erschließen würde, wenn sie sich traute, die Flächen zwischen den Linien zu berühren, sie zögerte, sie verharrte ratlos, keinen blassen Schimmer, welchen Ton sie zuerst anschlagen konnte, sie hörte den kurzen Augenblick Stille im Radio, bevor die kühle Frauenstimme die nächste Sinfonie ankündigte, sie wußte, ihre Mutter war nicht weit entfernt, zumindest physisch, sie breitete in einem drängenden, fast panischen Impuls ihre zehn kurzen Finger aus, als gelte es ein fliehendes Tier zu fangen, und feuerte sie hinab auf die Tasten. Die Ansage im Radio schwieg noch.

Katarina hob die Hände wieder hoch, ließ sie auf die Tasten fahren.

Senta drehte das erste Mal seit langer Zeit das Radio leiser.

»Was war das?«, rief sie durch den Flur.

Katarina spürte das Zittern ihrer Finger bis in die Oberarme und wünschte, sie hätte ihre Mutter nicht so unmittelbar angelockt. Das ursprünglich Drängende verlor sich im Zögern. Senta sagte zu sich: »War wohl nur eine Störung im Gerät.«

Katarina saß da, die Klänge hatten sich längst in Luft aufgelöst.

»Kann ja mal passieren«, sagte Senta in die eisbonbonkühle Ansagerstimme, und Katarina hörte, wie Senta den Lautstärkeregler ihres treuen Freundes neu justierte.

Eine nicht gekannte Wut schwappte durch Katarinas Körper, sie preßte die Hände auf ihre Oberschenkel. Sie blickte auf das Schwarz der Spalten zwischen zwei Tasten, dann zum aufrecht stehenden Notenbrett, dem Schnörkelgitterfenster. Sie sagte sich die Reihen des chemischen Periodensystems auf, die verläßlichen Ordnungszahlen, Buchstaben mitsamt Farben, die für die tafelgroße Übersicht gewählt worden waren, und gewann den Eindruck, daß die Noten, die andere spielten und die aus dem Braungerät kamen, nichts wesentlich Komplizierteres sein konnten. Und während sie darüber nachdachte, mischten sich in ihre Zweifel und in das Zögern all die Melodien, die sie in den langen Monaten von Sentas Radiozeit mitgehört hatte. Sie schloß die Augen, hörte überlaut ihren eigenen Atem in der Nase, wie weit ihr Brustkorb sein konnte, wie flimmernd das Schwarz vor den Augen, wie ungewohnt es sich anfühlte zu lächeln, und begann, sehr langsam und sehr suchend, eine der vierundzwanzig Chopin-Préludes zu spielen, die sie am frühen Morgen an Sentas Radio mitgehört hatte.