»Ihr Visum?«, hatte bei Gregors Betreten der Grenzschützer knappkantig gefragt. Gregor stand in der Schleuse im Übergang, neben dem Kontroll-Kabuff, und hatte einen Moment gebraucht, um seine Fassung wiederzugewinnen. »Ich, nun, ich bin avisiert«, hatte er dann gesagt, der Grenzer hatte das mit einem ironischen Kopfnicken abgetan: Sicher, du Wichtigtuer, auf dich wartet die Welt. Dann war er mit Gregors visumfreien Paß durch die hintere Buchenfurniertür verschwunden. Gregor hatte ein Gespräch mitgehört, die knarrende, nun vorsichtige Stimme des Grenzers, ein zurückgekegelter Befehl. Das Bild einer Feldmaus an der Wand gegenüber, ein Abrißkalender, ein Bleistift auf dem schmalen Spanplattentisch. Hier begann das Land seiner Träume als ein kleines Rechteck, das der Grenzer mit seinem Körper ausfüllen konnte. Aber wenn er durch dieses Nadelöhr war, würde sich das Land auftun, in dem er leben wollte, der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Und nicht der letzte, so viel war sicher.
Ein weiterer Befehl aus dem Nebenraum, die knarrende Stimme zur Antwort, dann schob sich der Grenzer durch den Spalt der Tür zurück ins Kabuff, lächelte Gregor an. »Herzlich willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik.« Er zog aus einem Hefter ein Einlegevisum, ein Blatt statt eines Stempels. Falls Gregor jemals zurückkehren wollte. Er überlegte, ob er dem Grenzer das sagen sollte: Rückkehr ausgeschlossen. Aber dann schaute er seinem Gegenüber nur in die Augen und sagte »Danke«. Beide hatten sie ihre Hände an Gregors Bundesrepublik-Paß, der Grenzer lächelte genüßlich, die Frage vielleicht noch auf den Lippen. Ein kleines Kräftemessen, Gregor zog mit einem Ruck dem Grenzer den Paß aus den Fingern. Dieser hob das Kinn, weiterhin lächelnd, und sagte, jetzt ungezwungen berlinernd: »Na, maximale Kampferfolge wünsche ick unserm neuen Jenossen.«
Seit seinem Übertritt waren zwanzig Jahre vergangen. Zehn davon hatte er der Idee nachgehangen, Berufsrevolutionär zu werden. Dieser Plan hatte sich zunehmend am sozialistischen Alltag abgeschliffen, und Gregor war beim freudigen Aufrechterhalten seiner Überzeugungen immer nachlässiger und bei der freudigen Verbreitung seiner Ideale immer dezenter geworden. Bis er in einem Halblaut, einem Mezzopiano sozusagen, angekommen war, dann in einem Piano, das hinüberglitt in ein Flüstern. Danach fing er an zu schweigen. Parallel dazu hatte er in einer Gärtnerei in der Nähe von Dresden gearbeitet, Gedichte erst noch für sich, dann für die Schublade und schließlich fürs sofortige Verbrennen geschrieben, aber es offensichtlich über den Umgang mit den Setzlingen und die Arbeit an der frischen Luft verstanden, nicht in Schwermut zu fallen. Er behielt, seltsam genug, seinen Optimismus, seine unbeirrbare Frohnatur. Er war beliebt bei den Genossen, und dennoch kannte ihn keiner wirklich. Bis er Winfried kennenlernte.
Die letzten zwei Jahre, bis zum Frühjahr 1986, hatte er als Gärtner nicht mehr nur Pflanzen in Umlauf gebracht, sondern auch eine knappe Handvoll Bücher, die ihm sein guter Freund zum Lesen gegeben hatte und die das Prädikat der Staatsgefährdung trugen. Er hatte Winfried in dessen Wohnung kennengelernt, über eine Bekannte aus der Gärtnerei. Und Winfried bewohnte eine stattliche Wohnung mit einer eindrucksvollen Sammlung von Büchern. Winfrieds Eltern hatten in Moskau für die Kommunistische Internationale gearbeitet, Winfried war Mitglied der SED und arbeitete zu dem Zeitpunkt am Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf. Er war wie Gregor kein Mensch, der zu Ängstlichkeit neigte. Winfried war überzeugt davon, daß es an der Zeit wäre, über die Ausübung der Macht durch die Diktatur des Proletariats neu nachzudenken, die führende Rolle der SED in Frage zu stellen, der sozialistischen Demokratie Haltungen wie zum Beispiel den Mut zur freien Meinungsäußerung hinzuzufügen. Schlußendlich unterzog Winfried die Bündnisbeziehungen mit der Sowjetunion und dem proletarischen Internationalismus einer so ausführlichen Analyse, daß er zu dem Schluß kommen mußte, seine Republik habe sich wie in einer Ehe in eine ungute Form von Abhängigkeit begeben. Winfried fand seine Auffassungen vor allem in vier Schriften, die er Gregor zum Lesen gab, widergespiegelt. Jürgen Fuchs’ Vernehmungsprotokolle waren darunter wie auch Wolfgang Leonhards Die Revolution entläßt ihre Kinder. Solschenizyns Archipel Gulag und der Text Menschenrechte – ein Jahrbuch für Osteuropa.
Winfried war ein Mensch, der individuelle Befindlichkeiten für unwürdig hielt angesichts der historischen Lage. Er erweckte Gregors zwischen Kartoffelknollen und Begonienzwiebeln zum Schlummern gebrachten Enthusiasmus wieder. Sie teilten ihren Optimismus, und das machte sie froh, doppelt zuversichtlich, wie sie des öfteren sagten.
Zuerst entwickelten sie sich zu überzeugenden Herausgebern, im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie gaben alle Schriften heraus, verteilten sie in selbsterstellten Kopien. Sie tippten sie ab, wieder und wieder. Sie kamen durch diese Gemeinsamkeit weder auf die Idee, ihre Befürchtungen in Alkohol zu ertränken oder in jeder anderen Form von Schweigen, noch verdrängten sie ihre Ängste im wilden Tippen auf der längst altersschwachen Schreibmaschine, bei der zuerst das S und dann das D zu haken begann, später auch ab und zu noch das Z und das P.
Es gab viele Wörter, die mit diesen Buchstaben beginnen wollten, aber die tückische Technik schrieb ihnen fortan vor, sozialismus und demokratie, manchmal auch zentralorgan und politbüro klein zu schreiben.
Sie merkten an unauffälligen Details, daß sich um sie herum etwas veränderte, sie hatten eine geschulte Wahrnehmung, vor allem Winfried, und so wußten sie früh, daß man ihnen auf den Leib rückte, daß sich die unsichtbaren Augen und Ohren auf sie richteten, ihnen immer ein Stück näher kamen. Weder ignorierten sie dies, noch übersahen sie es naiv, noch retteten sie sich in den Gedanken kalter Feindschaft oder blanker Abscheu. Eher suchten sie den Kontakt zu denjenigen, die sie verfolgten, schauten sich nach ihnen um, provozierten Zusammentreffen und damit eine offen wütende Reaktion, so daß beide zu ebenso vielen Jahren Haft verurteilt wurden, wie sie Bücher in Umlauf gebracht hatten.
Es war Winfried ein so tiefes Bedürfnis, seine Ansichten mit seinen Mitmenschen zu teilen, daß er auch in der folgenden Gerichtsverhandlung keine Aussage verweigerte. Er beharrte vor dem Bezirksgericht Dresden auf der Feststellung, er sei Marxist-Leninist, und zwar jetzt und heute. Die Richter Frätz, Scheumann und Lidenhoff urteilten knapp: »Die wiederholt vom Angeklagten abgegebenen Erklärungen und die in seiner Vernehmung zur Person und zur Sache gemachten Aussagen, die insgesamt darin münden, daß er auf dem Boden des Marxismus-Leninismus stehe und daß er ein kritischer Marxist und Kommunist sei, werden aufgrund der von den Zeugen getroffenen Aussagen, die in wesentlichen Teilen vom Inhalt her übereinstimmen, nicht bestätigt, obwohl er sich stets als Marxist ausgab.«
Gregors Erklärung, daß auch er sich als Marxist-Leninist verstehe, wurde mit der nicht ganz ironiefreien Bemerkung abgetan, er habe ja erst zwei Jahre nach seinem Übertritt auf den Boden der Deutschen Demokratischen Republik überhaupt die Staatsbürgerschaft angenommen, da wisse man ja, wie man ihn zu behandeln habe. Er sei, so urteilten die Richter Frätz, Scheumann und Lidenhoff abschließend, in seinem Herzen immer ein Feind geblieben. Eine Nettigkeit also, ihn nicht härter zu bestrafen.
Dann verkündeten sie weiter, daß die Äußerungen der Angeklagten nichts mehr mit dem verfassungsgemäß garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung zu tun gehabt hätten, was zumindest dem Angeklagten Winfried Schlack bei seiner familiären Vergangenheit vom Wissensstand her auch hätte geläufig sein müssen. Aber, so bogen sie den Fall und zurrten ihn fest, dieser Angeklagte habe sich bewußt Positionen zu eigen gemacht, die als staatsfeindlich zu werten seien. Mit den Bemerkungen, mit denen die Angeklagten Gregor Naumann und Winfried Schlack die Bücher übergeben hätten, wobei auch die zuvor geführten politischen Gespräche in Zusammenhang gebracht werden müßten, könne man deutlich beweisen, daß die Angeklagten jedes der übergebenen Bücher vom Inhalt her kannten.
Was keiner von beiden je bestritten hatte. Im Gegenteil, sie hatten glaubhaft nachgewiesen, ein jedes über zweihundertmal abgetippt zu haben.
Nur einen Tag, bevor die Staatssicherheit in Form eines überwiegend dunkel gekleideten Trupps äußerst unhöflich und jenseits aller üblichen Einlaßrituale in Winfrieds Wohnung krachte und Gregor und Winfried von einem weiteren nächtlichen Kopiervorgang abhielt –, nur einen Tag zuvor hatte Gregor einen alten Bekannten aus der Gärtnerei, der vor einem Jahr in Rente gegangen war, gebeten, ob er bei seiner Westreise nicht einen Abstecher zu einer Adresse machen könne, die er zuvor freundlicherweise in einem WestBerliner Telefonbuch unauffällig ermitteln müsse. Gregor war immer davon ausgegangen, daß Senta seinen einstigen Mitbewohner Michael Müller-Bredow geheiratet hatte. Das war sein Glück. So fand der alte Bekannte das Eckhaus im Grunewald, und damit Senta, und übergab ihr den von Gregor verfaßten, mitunter blumig gehaltenen Brief, der nicht weniger war, als ein in einer ängstlichen Minute verfaßter Hilferuf auf der Schreibmaschine mit dem kaputten großen S und D. Gregor kannte und schätzte Winfrieds unbeirrbare Überzeugung, da gab es keinen falschen Stolz, keine Eitelkeit, sondern nur den Glauben, daß jede große Veränderung ihren Ursprung im Kleinen hat. Aber in einer Nacht zuvor – Winfried hatte sich mit einer Erkältung ins Bett gelegt, die Schreibmaschine klackerte und ratschte nicht – hatte Gregor am Fenster des Arbeitszimmers gestanden, in die Dunkelheit draußen geschaut, ohne etwas oder jemanden zu sehen, und plötzlich das starke Gefühl gehabt, ein Mensch sei hinter ihm ins Zimmer getreten. Ruckartig hatte er sich umgedreht. Erwartet, daß Winfried dort steht. Niemand stand dort. Er war sich aber sicher gewesen. Ein Zittern hatte seinen Körper ergriffen, wie eine zu lang ausgehaltene Beherrschung, die sich lösen mußte. Er hatte ins Dunkle des Zimmers gestarrt, fest überzeugt, daß derjenige nun bald eintreten, aus dem Schrank, seinetwegen auch aus der Wand treten müßte. Niemand erschien. Es blieb nur das Zittern und das Rätselhafte des Augenblicks, das sich in eine diffuse Vorahnung wandelte. Da hatte er schon angefangen, im Kopf den Brief zu formulieren. Er mußte ihn nur noch tippen, und während er tippte, konnte er nicht mehr daran denken, wie der Staat mit Republikflüchtlingen umging, was an der Grenze passierte. Er konnte nur noch an Terrassenüberdächer, an brückenartige Verlängerungen, an Möglichkeiten zur Fortbewegung denken. Er war drauf und dran, den Brief in den Ofen zu werfen, aber dann drückte er ihn seinem pensionierten Freund doch noch in die Hand.