Es polterte. Es knarrte, knallte. Es war wieder still.
Es quietschten die Gummisohlen der Etagenkellner, wie sie sie nannten, auf dem Boden vor den Zellen. Hin und her. Den Gang rauf und runter. Es knallte wieder, so, wie die Türen knallten, wenn sie ganz geöffnet mit ihren Eisenriegeln gegen die Wand krachten.
Dann klackerte, quietschte und knarrte es bei ihm. Er sah keinen Menschen, keine Hand, keinen Fuß, kein Tablett im Schlitz, Eisen im Loch, nur hörbar das metallische Klimpern der hundert Schlüssel. Seine Zelltür wurde dreißig, vierzig Zentimeter weit geöffnet, blieb offenstehen. Das Quietschen der Etagenkellnersohlen entfernte sich.
Gregor stand sehr langsam von der Pritsche auf, strich sich seinen Bart glatt, der mehrheitlich weißgrau war und einen ausgefransten Dreieckszipfel hatte.
Er zog mit den Füßen seine Schuhe zu sich heran, bedächtig und konzentriert, als gelte es, das alles unauffällig und unbemerkt zu tun, er schlüpfte in jeden Schuh, bückte sich, wobei sein Bart gefaltet wurde, band die Schnürsenkel zu, als habe er noch nie zuvor Schleifen gebunden. Er machte jeweils einen doppelten Knoten. Er stand auf, schaute in Richtung Tür, drehte sich zurück in den Schlauch, den Tunnel der vergangenen Jahre, und stockte. Dann machte er einen Schritt an die Pritsche, zog sein Tagebuch hinter der Matratze hervor, klemmte es unter die linke Achsel. Er atmete ein letztes Mal die abgestandene Luft ein, hörte das Knallen der Türen, weiter den Gang hinunter, und entschied sich, langsam und bewußt, fast bis an die Grenze von etwas, was man einen Genuß nennen könnte, Schritt für Schritt aus dem Raum hinauszuschreiten.
Der einzige Grund für das hier mußte sein: Es stand schlecht um seine sozialistische Wahlheimat.
Sie mußten mit einem Mal uninteressant geworden sein. Ungefährlich auch. Womöglich sogar überflüssig, so überflüssig, daß man sie vorschnell loswerden wollte, kein Fitzel einer Staatsgefährdung hing ihnen mehr an, von konterrevolutionärer Bedrohung ganz zu schweigen. Höchstens noch dachte man, daß sie sich eines Tags rächen wollten, Wiedergutmachung also, so was in der Art. Er schaute sich um nach seinem Freund.
Er sah Winfried das erste Mal seit drei Jahren wieder. Auch Winfried hatte sich vom ersten Tag der Haft an einen Bart wachsen lassen, seiner war noch etwas länger als Gregors. Was daran liegen konnte, daß er insgesamt auch größer war. Beide verbargen ihre eingefallenen Wangen, ihre sehnigen Hälse und schmalen Brustkörbe hinter den grauen Haaren.
Sie sahen sich nahe dem Haupttor, das auch offenstand, niemand war in der Schleuse. Sie gaben sich zuerst die Hand, dann nahmen sie sich in den Arm und hielten sich fest. Sie sagten kein Wort, flüsterten nichts in ihre Bärte, was auch nicht nötig war, sie hatten beide das Gleiche erlebt, sie mußten es nicht noch einmal teilen, denn geteiltes Leid wurde in ihrem Falle nicht halbes Leid, es ging nur darum, die Gefängniskälte aus ihren Körpern zu drücken, die hoffnungslosen Gedanken aus den Windungen ihres Denkens zu pressen und sich daran zu erinnern, was ein jeder von ihnen im anderen hatte.
Nebeneinander gingen sie durch das offenstehende Tor.
Keine Menschenseele, die ein Papier sehen wollte. Keiner, der ihnen sagte, wohin.
Die Straßenbahn fuhr, die Stadt sah aus wie eh und je.
Erst langsam bemerkten sie, daß es ein bißchen wie im Sommer war, in der Urlaubszeit, wenn viele Menschen nicht zu Hause waren, sondern abgereist. Schließlich, als sie allein im Waggon saßen, kurz vor der Endstation, da rangen sie sich durch, beim Aussteigen den Schaffner zu fragen, wo denn alle hin seien. »Wech«, sagte der nur und angelte eine Graubrotschnitte aus einer leuchtendroten, funkelnagelneuen Plastikklappdose mit aufgedrucktem Logo der Hamburger Sparkasse.