Sie erwartete Michael in der Küche, wie sonst immer, aber er schien noch nicht aufgestanden zu sein. Die Ruhe des Hauses erfüllte sie mit einer genüßlichen Vorfreude, eine Mischung aus Zufriedenheit im Alleinsein und der Gewöhnung an die wohltuende Tatsache, gleich gebraucht zu werden.

Sie öffnete das Vorratsglas, goß die Kaffeebohnen in das Edelstahlrund der Mühle, ihr Klimpern, wie Perlen, sie drückte den Schalter mit der Handfläche und horchte auf das mahlende Geräusch der Klingen, bis es im feinen Kaffeepulver verstummte.

Es ist gut, dachte sie mit einem Mal, daß es nur uns zwei hier gibt, daß die Kinder nicht viel von Michaels Zuständen mitbekommen. Sie erzählte kaum etwas, die sie aus der Fassung bringenden Ereignisse verschwieg sie sowieso, und es war besser so. Warum die Kinder verunsichern, warum ihre Leben beeinflussen und Gefühle wecken, mit denen sie dann gar nicht klarkommen konnten. Sie konnte es.

Konnte sie es?

Sich die Antwort nicht erlauben. Den beruhigenden Geruch einatmen, salzig und bitter, dann wusch sie die Espressokanne unter laufendem Wasser aus, innen und außen, ein schwarzbrauner Mond in der Edelstahlspüle, der Kaffee von gestern, bis der Wasserstrahl ihn zerstörte, bis alle Krümel weggespült waren, den Abfluß gereinigt hatten. Diesen Mythos glauben, ja, das tat sie, sie glaubte solche Sachen, die sie in der Zeitung las oder von ihren spanischen Nachbarn hörte: Espressoreste schaffen es, Kakerlaken zu vernichten. Sie stellte den 8-Liter-Plastikkanister ab, behielt das milchweiße Plastikgefühl in den Händen und war zufrieden zu wissen, daß es mit dem Gartenschlauch, der Zahnbürste, den Mülltüten noch einmal abgerufen werden konnte, dieses künstliche Materialgefühl, mehr Plastik würde sie aber am Tag auch nicht anfassen. Das war ihr wichtig gewesen, ein Anliegen, das immer bedeutsamer wurde, je länger sie im Haus lebten: harmonische Proportionen und natürliche Materialien. Holz, Keramik, Kupfer, Steingut, Wolle, Porzellan, Edelstahl, sie ertrug nur noch Stoffe mit Eigenschaften, Plastik war ein Stoff ohne Eigenschaften, und daher konnte sie es physisch kaum noch ertragen, mit ihm im Supermarkt – oder selbst auf dem Markt, wo die Verkäufer noch einzelne Zitronen in flattrige Tüten packten – in Berührung zu kommen. Mit der Linken drückte sie den Regler am Gasherd, ein flackerndes Zischen, die bläulichgelbe Flamme umleckte die schwarze Sonne, bis sie die Kanne auf das Gitter stellte, sorgsam das Gewicht auf allen vier Schienenenden verteilte und einen Schritt zurücktrat.

Der Geruch. Von ganz weit weg drängte er sich auf. Sie roch Kakerlaken, hatte sie mal festgestellt. Natürlich hatte sie Michael gegenüber nie ein Wort davon gesagt. Jorge, dem nächsten Nachbarn, schon. Er hatte ihr lachend erzählt, daß sie damit kein großes mediales Talent geworden sei oder so, seine Mutter habe diese Fähigkeit auch, wie die meisten Frauen, die viel Zeit ihres Lebens in der Küche verbracht haben. Sie traute sich ihm gegenüber nie zu sagen, daß sie in Berlin lange Zeit von Lydia bekocht worden waren. Vielleicht auch, weil sie an Lydia nicht denken wollte. Die kümmerte sich jetzt um Anton, der seit Michaels und ihrem Weggang im Eckhaus eingezogen war. Eine beruhigende Lösung, wie sie fand, über die es auch nicht lohnte, mehr als nötig nachzudenken. Die grüne Zitrone lag im Abtropfgitter neben der Spüle, die Gasflamme zischelte. Die Grillen von draußen. Und dann ein Rascheln unter der Spüle, als finde etwas eine Öffnung in einer noch flachgepreßten Mülltüte, einen Eingang, den man sonst nur durch Reiben der Tüte zwischen dem angefeuchteten Daumen und Zeigefinger findet. Es war eine Kriegserklärung. Nicht mehr nur eine Beleidigung. Nichts verabscheute sie so sehr wie dieses typische Rascheln, zusammen mit dem Geruch, der seltsamerweise etwas vom Kaffeeduft hatte, etwas Herbes, dazu eine beißende Schärfe, als hätten die Kakerlaken alle gesprühten Gifte in ihrem Körper gespeichert und dünsteten sie nur langsam wieder aus, statt an ihnen zu verrecken. Sie machten ihr Haus zum belagerten Terrain, sie akzeptierten keine Silikongrenzen, keine tödlichen Köder, sie kamen immer wieder als flitzende Pfeile in Bodennähe, viel zu schnell, als daß man sie erschlagen konnte, man mußte sie direkt ansprühen, aus nächster Nähe, und lang ansprühen, um sie umzubringen.

Sie huschten hinein, wie eine Erinnerung, kurz nach dem Aufwachen, ins Bewußtsein huschen konnte, an den letzten Traum der Nacht. Eine Ahnung, vielleicht auch, von den Kräften, die in jedem Menschen wirken. Daß sie so machtlos dem Ekel ausgesetzt war, schockierte Senta am meisten. Sie konnte sich manchmal für Minuten nicht mehr bewegen, nachdem sie ihre Kontrahenten gerochen hatte.

Und es gab eine seltsame Konstante in ihrem südländischen Leben. Immer, wenn die Kakerlaken auftauchten – so war es in der Vergangenheit geschehen – passierte etwas Unangenehmes, Beängstigendes. Etwas, womit sie nichts zu tun haben wollte.

Der Kaffee begann zu kochen, das sprotzende Wasser auf dem heißen Herd. Das überdeckte den Geruch für einen Augenblick. Sie beugte sich weit vor, um den Topflappenhandschuh zu greifen, schüttelte ihn aus, denn auch dort hatte schon mal eine gesessen, der tiefe Ekel, die Beine, die langen Antennen an den Fingerspitzen gespürt zu haben. Dann war das Tier ihr über den Daumen gelaufen, die drahtigen Beinchen mit Widerborsten. Hatte sich fallen lassen, wie eine Katze, war auf den Füßen gelandet, hinter der gefliesten Kante der Arbeitsplatte verschwunden. Danach hatte Senta diese und jede nur erdenkliche Ritze im Haus, jeden noch so schmalen Spalt mit Silikon versiegeln lassen. An den darauffolgenden Tagen war Michaels Krankheit das erste Mal wie mit einem Schlagstock in ihren ruhigen, gleichförmigen Alltag gekracht.

Etwas hastig stellte sie die Kanne auf das Holzbrett, das helle Holz war verziert mit schwarz gebrannten Ringen, wie eine Hornbrille, so schaute sie das Brett an. Aufgeregt wartete sie, bis der Kaffee sich beruhigt hatte, dann ging sie bewußt nicht in die Speisekammer, wo auch der Kühlschrank stand, weil die Speisekammer immer zuerst Feindesland wurde – wenn sie wiederkamen, eroberten sie diese Halbinsel zuerst –, sie ging zur alten Holzanrichte, um eine haltbare Milch herauszunehmen, und riß dem wabbeligen Karton eine der Klappspitzen ab. Auf die noch brennende Flamme stellte sie den Emailletopf, daß die Milch, als sie sie hineingoß, laut zischte. Dann richtete sie all ihre Konzentration darauf, mit dem Schneebesen Blasen in der Milch aufzuwerfen, den Griff zwischen den Handflächen, als plane sie mit einem Stock ein Feuer zu entfachen.

Sie wollte ihm den Kaffee ans Bett bringen, ein paar beruhigende Worte mit ihm sprechen, ob er aufzustehen plane, wie er sich fühle – an all die Beschimpfungen, die sich erst gestern über sie ergossen hatten, wollte sie nicht denken. Vor allem an das eine, was er gesagt hatte. Daß er überzeugt sei, sie habe ihm immer nur etwas vorgespielt, geliebt, zumindest, geliebt habe sie ihn nicht. Er hatte diesen Ausspruch sicher schon längst wieder vergessen, das wußte sie bereits von anderen Malen, auch seine Schimpftiraden waren für ihn nicht mehr präsent, fast wie nie dagewesen, was sie – als sie das verstanden hatte – unendlich beruhigte. Er sollte von den Kakerlaken nichts mitbekommen, es würde ihn nur unnötig in Aufruhr bringen. Sie wußte schon, wie sie ihre Feinde bekämpfte. Sie würde sich um die Eindringlinge kümmern, ihre Küche verteidigen. Der Ort, an dem sie herrschte, seit sie hier wohnten und die Kinder in Internaten erzogen und betreut wurden, sie also sonst nichts hatte, was ihre andauernde und ständige Aufmerksamkeit forderte. Außer der Garten. Der war ein Ersatz, ein guter, beruhigender Ersatz. Komisch, dachte sie, während sie mit dem Topflappenhandschuh den Emailletopf anhob, die geschäumte Milch in einen Becher goß: Die Insekten draußen, die ekeln mich nicht. Wie oft huschte etwas Ähnliches wie eine Kakerlake, nur dicker, voluminöser, zwischen den Töpfen der Setzlinge hindurch. Das war ihr vollkommen egal. Nur hier im Haus, hier in der Küche, da konnte sie keinen Zentimeter Boden in Feindeshand übergehen lassen.

Sie erschrak so, daß der Kaffee überschwappte. Jorge, der Nachbar, stand draußen, hinter dem Küchenfenster, eine Hand an die Stirn gelegt, die Augen, die Augenringe beschattet, nah am Glas. Sein Gesicht wirkte unrasiert, unter der Schiebermütze noch dunkler, dann klopfte er kraftvoll.

Sie hielt ihren Kaffeebecher fest, der beschleunigte Herzschlag des Schrecks lähmte sie. Jorge ging ums Haus herum, öffnete die klapprige Küchentür in einem Schwung und sagte in seinem für sie immer wieder viel zu schnellen Spanisch: »Dürfte ich mir einen Augenblick Ihrer Zeit borgen?«

Senta dachte sofort an Michael. Er hatte irgend etwas gemacht, den freundlichen, ihnen zugewandten Nachbarn angegriffen, seine alte Mutter, seine alte Tante, die alle drei zusammen in der dorfnahen Steinvilla wohnten. Sie holte schon Luft, um eine Entschuldigung zu formulieren, da verwunderte sie doch die ruhige Ratlosigkeit in Jorges Gesicht. Kein Ausdruck, den man nach einer Beschimpfung oder ähnlichem hatte.

Don Jorge, wie er genannt wurde, in ausgebeulten Hosen und beigefarbenem Hemd, blieb vor der Tür stehen, sie ging auf ihn zu, er wich zurück, und so standen sie sich erst auf der Terrasse gegenüber. »Möchten Sie einen Kaffee?« Sentas Spanisch war nicht prächtig, aber sie hatte sich eingehört, sie konnte sogar die Alten verstehen, die die Enden schliffen und das Gurgelige des Katalanischen ins Spanische hinüberretteten. »Ach ja. Wozu die Eile. Die verfeindeten Seelen. Meine Mutter und meine Tante sind heute nacht gestorben. Seit dreißig Jahren haben sie kein Wort mehr miteinander geredet. So entzweit, daß die eine es noch nicht einmal schafft, die andere zu überleben.«

Senta gab ihm die Hand zur Beileidsbekundung, sie wollte den großen und irgendwie auch dominanten Mann nicht umarmen. Ihr nachbarschaftliches Verhältnis zeichnete sich durch respektvolle Distanz aus, Senta hatte manchmal bemerkt, daß Jorge ihr die Nuance eines anderen Blicks zuwarf, den sie nur schmeichelhaft fand, wenn Michael nicht in der Nähe war.

Dann reichte sie ihm den Kaffee, den sie für ihren Mann zubereitet hatte, und dachte darüber nach, ihn zu wecken, damit er später keinen Grund zu einem jähzornigen Ausbruch von Eifersucht haben konnte.

»Mein Gott, beide zusammen. Das tut mir leid.«

»Meine Mutter war siebenundneunzig, meine Tante neunundneunzig. Bis auf die Tatsache, daß sie es geschafft haben, so viele Jahre nicht mehr miteinander zu reden, würde ich ihre Leben als in Ordnung bezeichnen. Sie sind beide einfach entschlafen. Wie verabredet. Nur daß sie sich nicht haben verabreden können.«

Senta und er tranken gleichzeitig.

»Mit einer wären wir klargekommen, aber beide. Ich dachte, ich frage Sie.«

Er schaute sie an, prüfend, mit schmalen, undefinierbaren letztendlich aber seltsam heiteren Lippen, als gäbe es im Tod hauptsächlich eine Dimension von Erleichterung, die aber nur der verstand, der zeitlebens unter dem Verstorbenen gelitten hatte.

Die linke Seite in der alten Villa, das war Maria Conceptíon – Jorges Mutter –, die nur knapp zwei Jahre jünger war als ihre Schwester Maria Puríssima, die auf der rechten Seite des Hauses wohnte. Niemand konnte recht sagen, woran sich der Streit entzündet hatte, der die beiden Damen so entzweite, daß sie nicht mehr miteinander sprachen und das Haus nur verließen, wenn sie sicher sein konnten, der jeweils anderen nicht zu begegnen. Maria Puríssima, die alle Puri nannten, schickte in jedem Falle lieber ihr kolumbianisches Hausmädchen, die kleine Gabriella, die selbst zwei Töchter und zwei Enkeltöchter hatte, aber für Puri alles machte: Sie kaufte das harte, alte Brot beim Bäcker, das Puri nur noch aß, jeden Tag die eine Tomate dazu, das Olivenöl und den ganz bestimmten Knoblauch, auf den Puri schwor, sie bereitete das Pan amb Oli zu, wie Puri es mochte, sie saß bei ihr, wenn sie einen Cortado nach dem Essen trank, machte den Fernseher an, wischte den Staub, der Tag für Tag auf die dunklen Holzanrichten und ausladenden Stühle mit kerzengeraden Lehnen fiel, sie feudelte den schwarz-weißen, durchgetretenen Fliesenboden, zupfte das Unkraut aus den Oleanderkübeln, schloß die Fensterläden am Abend. Gabriella ging auch ab und zu in den zweiten Stock, wo ehemals eine katholische Mädchenschule residiert hatte, um nachzuschauen, ob Jorge noch lebte. Er hatte sich noch nicht zu Tode gesoffen und war damit beschäftigt, seine epischen Gedichte an die Wände der vierhundert Quadratmeter großen Etage zu schreiben.

Bis zu ihrem Tode stand Puri noch jeden Tag auf, zog sich langsam und mit Bedacht an, so daß der Vormittag darüber verstrich, puderte sich dann erst unter den Achseln, um anschließend ein kaltes Fußbad und ein lauwarmes Bad für die Hände zu nehmen und sich den Hals mit Olivenöl einzureiben; war dann so weit gerichtet, daß ihr mit Hilfe von Gabriellas geschickten Händen das daunenfederige Haar zu Wellen gelegt werden konnte – worüber es Nachmittag wurde und die schlimmste Hitze überstanden war.

Puri, die Erstgeborene, schien von den beiden Schwestern die Würdenträgerin zu sein, die nie ihre strenge Selbstbeherrschung verlor. Als wache die Ältere mit Adlerblick nicht nur über jeden Vorgang im Haus, sondern erhalte Unterstützung auch noch durch weitere Informanten, so verließ Maria Conceptíon – Jorges Mutter – das Haus nur zu nächtlichen Stunden, schlich sich aus ihrer Tür, im Schutz der Dunkelheit, um gerade noch eine Tafel Schokolade, einen Weichkäse, Kamillentee und ein Roggenbrot zu kaufen. Maria Conceptíon lebte nachts, im Verborgenen, hinter ihren pflaumenfarbenen Samtvorhängen. Maria Conceptíon und Maria Puríssima starben so verstritten und verbunden, wie man es sonst von Ehepaaren kennt. Maria Puríssima schlief für immer in ihrem Bett ein, Maria Conceptíon auf einem staubigen Sessel zwischen ihren Volieren. Jorge bat Senta, auf Maria Conceptíon zu achten, während Gabriella drüben in der anderen Haushälfte bei Puri war. Er selbst wollte sich um das Behördliche kümmern.

Es war ihm ein Anliegen, das Senta auf eine seltsame Art berührte.

Er wollte die alten Damen auf keinen Fall allein im Bett und auf dem Sessel liegen wissen. Er wollte, daß sie in diesen Stunden des Übergangs Besuch hatten, er bat Senta, wenn es ihr nichts ausmache, ruhig mit seiner Mutter zu reden, über was auch immer, und Senta erwiderte nichts, denn sie war mit einem Mal gefangen in der Erinnerung an den Tod ihrer eigenen Mutter, mit der sie fast ununterbrochen geredet hatte, in dieser Zeit, die irgendwie zwischen allen Zeiten war.

Sie konnte neben der alten Dame, die Jorge mit Kissen auf ihrem Sessel abgestützt zu haben schien, nicht sitzen. Sie öffnete die Fenster, denn der Gestank des Guano in den Vogelkäfigen raubte ihr den Atem. Dann spürte sie die längst vergessenen, damals nicht geweinten Tränen, wollte aber hier nicht weinen, beherrschte sich durch einige Betriebsamkeit: Sie öffnete nach und nach alle Volieren. Die Kanarienvögel, Mönchssittiche, Papageien hüpften, stolperten und fielen aus den Käfigen, einige blieben leicht schaukelnd auf dem Boden sitzen, als säßen sie noch auf ihren quietschenden, von Maria Conceptíon selbst hergestellten Holzschaukeln.

Einige Vögel flogen später durchs Dorf, auch hinaus zu ihrem Grundstück, saßen noch Tage in den Kiefern oberhalb und auch im silbrigen Blattwerk der Oliven. Seither verband Senta mit den neongrün leuchtenden Sittichen, die angeblich mit den Bananendampfern aus Südamerika eingeschleppt worden waren, das Ende eines Menschenlebens. Ein tröstlicher Gedanke, fand sie, denn die Vögel schnatterten ununterbrochen, laut und knarrend, dann wieder hell und fast melodiös, alles in allem noch etwas ausdauernder als die Singzikaden.

Ein Fenster knallte im Luftzug, Senta ging zurück in das Zimmer, in dem die alte Dame lag, in dem Moment rutschte ein taubengraues Satintuch, das einen der Käfige bedeckt hatte, von den Stäben. Es glitt mit einer zum Hinschauen zwingenden Eleganz hinunter, als tanze es bewußtlos. Senta hob es auf, legte es über den Käfig und wartete, nur, um es noch einmal fallen zu sehen. Maria Conceptíon war ihr immer sympathischer gewesen als ihre Schwester, die beherrschte Puri, die nichts aus den Augen ließ, deren Strenge etwas Übermenschliches angenommen hatte, die nur eine verschreckte Schwester und einen im Dickicht des Lebens verlorenen Neffen neben sich zu dulden schien, der wohl das Dichten oben im zweiten Stock des Hauses brauchte, um der Unnahbarkeit und menschlichen Kälte, die unten im Haus herrschte, zu entkommen. Aber er war bei den Damen geblieben. Vielleicht brachte er seine Trauer um sein ungelebtes, verhindertes Leben in seinen epischen Gedichten zum Ausdruck. Wie es schien, las niemand seine Werke, dort oben, in den Gängen der ehemaligen Mädchenschule, die er immer im Kreis herum an die Wände schrieb. Kurz dachte Senta darüber nach, jetzt einfach einmal nach oben zu gehen, es sich anzuschauen. Dann betrachtete sie Maria Conceptíon, wie man sie aus dem Sessel rausbekommen sollte?, und begann, die Hinterlassenschaften der Vögel zusammenzukehren.

Als sie am frühen Nachmittag ihr Grundstück betrat – Jorge war mit dem Bestatter, dem örtlichen Apotheker, ins Haus zurückgekehrt – fand sie es seltsam verlassen vor. Michael war weder auf der Terrasse noch im Schatten des Sonnenschirmes unten am Pool zu sehen. Sie stob die Einfahrt hinauf, von der Wucht ihres schlechten Gewissens angetrieben, nicht Bescheid gegeben zu haben, wo sie den ganzen Tag gewesen war.

Michael lag im Bett, verzweifelt und jähzornig mit einem Blick in den Augen, der sie erschrecken ließ, seine Lippen waren trocken, er wolle etwas trinken, wo sie denn gewesen sei, wie sie ihn einfach hatte verlassen können, seine Beine seien taub, er könne nicht aufstehen. Sie traute sich nicht, ihm nahe zu kommen, er schrie, spuckte dabei, fluchte, sein Gesicht war rot bis zum Hals. Er rappelte sich auf, griff nach dem Stoff ihres Kleides, krallte seine Hand hinein, zog sie zu sich, sie fiel, weil sie nicht darauf vorbereitet gewesen war, auf ihn, er quetschte seine Hände in ihre Haut. Sie wehrte sich nicht. Sie versuchte nur, so weit weg zu kriechen, wie sie konnte, er griff sie an beiden Schultern, an den Armen. Sie zitterte, als friere sie, ihre Arme und alle Stellen, die er berührte, brannten. Sie kam nicht dazu zu sagen, wo sie gewesen war. Dann preßte er seine Lippen auf ihren Mund, sie zuckte zurück, er hatte sie aber fest in seinem Griff, er hörte mit dem verrutschten Küssen auf und sagte in einem Tonfall, der sie an die Stimme ihres jüngsten Sohnes erinnerte, als er noch Vorschulkind war: »Ich weiß es einfach.«

»Was weißt du.«

»Du kannst es gar nicht.«

»Was kann ich nicht.«

»Mich Lieben.«

»Das stimmt nicht«, sagte sie sofort.

»So ist es eben.«

»Hör auf damit«, sagte sie streng, in einer Art, wie sie früher auch mit ihren Kindern gesprochen hatte.

Er ließ sie los, sie rutschte ans Ende des Bettes und blieb dort erschöpft und reglos sitzen. Irgendwann flog draußen einer von Conceptíons Mönchssittichen vorbei, setzte sich wenig später auf die Fensterbank. Senta konzentrierte sich auf den Vogel, der ein wenig nach rechts, ein wenig nach links hüpfte, während Michaels Atem immer ruhiger zu werden schien. Sie schaffte es, während des Vogelbetrachtens, ihren Schmerz zu verschlucken und stand erst auf, als Michael leise, ein wenig heiser zu ihr sagte: »Nie wieder gehst du fort, wenn ich es dir nicht erlaube.«

Eine Woche später war er tot. Die Taubheit hatte, seiner Wahrnehmung nach, seine Achseln erreicht, und er hatte nächtens neben ihr einfach das Atmen aufgegeben. Ohne daß sie durch das Rütteln eines vorbeifahrenden Airbusteils, durch einen Traum, durch eine vorbeihuschende Kakerlake oder irgend etwas anderes aufgeweckt worden wäre.

Jetzt stand sie neben dem Bett und sah den Körper ihres Mannes unter dem weißen Laken. Friedlich, so schien es, ohne Angst vor den Schatten, die sich zwischen ihn und die Wände geschoben hatten. Sie schaute auf das Laken, den Boden, das Fenster, das Fliegengitter, sie erinnerte sich an die Vögel, wünschte sie alle herbei, schaute wieder auf das Laken, seinen Saum, auf die Körperform darunter, sie konnte ihrem Mann noch einmal kurz ins Gesicht sehen, aber näher kommen konnte sie ihm nicht.

Sie umrundete das Bett. Sie wollte ihm nahe kommen, aber es war, als versuche sie gegen einen anders gepolten Magneten anzulaufen. Sie schloß die Augen, suchte alle Kraft zusammen, die sie meinte zu haben, dachte an ihre Kinder, die vier Söhne, die sie mit ihm gezeugt hatte, überwand den Widerstand, machte einen Schritt auf ihn zu, legte ihre Lippen auf seine Stirn, spürte das Wachshafte, das Nichtvondieserwelt, nahm wahr, daß er nach nichts mehr roch, wie Süßwasser oder Luft, sie küßte ihren Mann mit geschlossenen Augen und verließ, nicht ohne Erleichterung, das Zimmer.

Während sie Jorges Nummer wählte, hielt sie sich eine Hand vor den Mund und wußte, daß das Gefühl der Kälte, das sie auf ihren Lippen zu schmecken meinte, nachlassen würde, aber nicht die Erinnerung, daß ein Mensch seinen Geruch verloren hatte, das Flüchtige, das stets Bittersüße, das Einzigartige, für das es keine Worte gab, das aber eines jeden Wesen auszumachen schien.