18
Meister Nicholas lief Gefahr, über seine schlaue Zunge zu stolpern, so eifrig war er bemüht, der Herzogin zu schmeicheln. »Euer Gnaden, Ihr ehrt dieses Haus«, sagte er und drängte sie zu einem Sessel. »Aber ich fürchte um Eure Sicherheit. Die Seuche, vor der die Wachen Euch und Euren Gefolgsmann an den Toren gewarnt haben, ist kein Spaß.«
»Ich fürchte keine Seuche, Meister«, antwortete die Herzogin. Sie schaute über seine Schulter zu Siobhan und lächelte, als teilten sie ein Geheimnis. »Es heißt, sie befiele nur die Sündigen, richtig?«
»Ja, Euer Gnaden«, stimmte er mit einem Lachen zu, das eher gezwungen klang. »So heißt es in der Tat.« Er wandte sich wieder an Siobhan. »Lord Tristan sollte hier sein, Mylady«, sagte er mit einer Spur Tadel in der Stimme. »Er darf gewiss gestört werden …«
»Nein, Meister«, unterbrach ihn die Herzogin. »Lord Tristan und mein Ehemann gehören demselben Orden an, und ich versichere Euch, er darf nicht gestört werden.« Sie war wunderschön, das zarteste, weiblichste Wesen, das Siobhan jemals in ihrem Leben erblickt hatte. Neben diesem Traumbild war ihre eigene Verkleidung ein Witz. »Aber wenn Ihr mir meinen Diener Orlando holen würdet, wäre ich Euch äußerst verbunden.«
»Ich, Mylady?«, fragte Meister Nicholas überrascht.
»Ja, bitte.« Sie lächelte Siobhan erneut zu. »Ich möchte mit Lady Siobhan allein sprechen.« Sie behielt ihr anmutiges Lächeln bei, während er sich verbeugte und »Natürlich« murmelte. Aber sobald er fort war, erhob sie sich und schloss die Tür hinter ihm.
»Geht es ihnen gut?«, fragte sie und wandte sich wieder an Siobhan. »Eurem Tristan und Simon – geht es ihnen gut?«
»Ja«, antwortete Siobhan, noch immer verblüfft über die Veränderung. »Sie … es geht ihnen vermutlich gut.«
»Und Kivar?«, fragte sie. »Ist er erschienen?«
»Ich … ich glaube nicht.« Alles an dieser seltsamen Frau, angefangen von ihrem perfekt frisierten roten Haar bis zu den Spitzen ihrer edel gepunzten kleinen Stiefel, ließ Siobhan sich wie ein Maultier im Geschirr eines Zelters fühlen. Und doch war sie hier und sprach mit ihr, als wären sie schon lange Freundinnen. »Ich weiß nicht, wer das ist«, räumte sie ein.
»Ihr wisst nicht …?« Die Herzogin sank auf einen Stuhl, als hätten ihre Beine unter ihr nachgegeben. »Aber habt Ihr nicht …? Lady Siobhan, wie seid Ihr zu den Malen an Eurer Kehle gekommen?«
»Tristan hat mich gebissen«, gestand sie. »Ich weiß, dass er ein Vampir ist.« Sie setzte sich ebenfalls hin. »Und Euer Ehemann vermutlich auch, obwohl er es mir nie erzählt hat. Tatsächlich glaube ich nicht, dass ich überhaupt je mit ihm gesprochen habe.« Zu spät erinnerte sie sich an Silas’ Lektionen. »Euer Gnaden«, fügte sie hinzu.
»Bitte, um Himmels willen«, erwiderte die andere Frau lachend und offensichtlich erleichtert. »Wir haben die gleichen Probleme, Mylady. Nennt mich Isabel.«
»Isabel«, wiederholte sie und erwiderte das Lächeln. »Ich bin einfach Siobhan.« Sie merkte, dass sie diese Herzogin wider Willen mochte, und eine seltsame Art von Sehnsucht ergriff sie. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine Freundin gehabt, und Isabel hatte recht – sie hatten einige der gleichen Probleme. Wie wunderschön es gewesen wäre, mit allen ihren Sorgen herauszuplatzen, sie zu vergleichen und zu hören, was dieses kluge, hübsche Wesen an ihrer Stelle tun würde. Aber das war natürlich unmöglich. »Um Eure Frage zu beantworten, Isabel, denke ich, dass es unseren beiden Dämonen gut geht«, sagte sie stattdessen. »Sind sie irgendwie in Gefahr?«
Sie sah einen flüchtigen Moment einen verhaltenen Ausdruck in den haselnussbraunen Augen der Frau aufblitzen, aber ihr Lächeln verschwand nicht. »Ich hoffe es nicht«, sagte sie lachend. »Aber ihre Lage ist recht bedenklich, meint Ihr nicht?«
»Vermutlich«, räumte Siobhan ein. »Obwohl ich sagen muss, dass ich mir größere Sorgen um uns andere mache.«
Das hübsche Lächeln verblasste zu einem gleichermaßen hübschen Ausdruck der Sorge. »Meint Ihr das ernst?«, fragte sie.
Bevor Siobhan antworten konnte, öffnete sich die Tür, und Orlando kam eilig herein. »Mylady«, fragte er, »was tut Ihr hier?« Er umarmte Isabel, als wäre er ihr Vater und nicht ihr Diener. »Was ist in Euch gefahren?«
»Ich habe natürlich meinen Ehemann vermisst«, sagte Isabel leichthin, aber es lag auch unmissverständliche Schärfe in ihrem Tonfall. Sie befreite sich aus seiner Umarmung. »Wir sind erst sehr frisch verheiratet«, erklärte sie Siobhan über seinen Kopf hinweg.
»Er sieht sehr gut aus«, sagte Siobhan, die einzige Erwiderung, die ihr einfiel. »Ich werde Euch verlassen, damit Ihr mit Orlando allein sprechen könnt.« Sie vollführte einen Hofknicks und zog sich zurück. Sie war zwar neugierig, aber zu sehr in ihre eigenen Pläne vertieft, um mehr herausfinden zu wollen.
Als sie fort war, verriegelte Orlando die Tür hinter ihr. »Mylady«, fragte er Isabel, »warum seid Ihr wirklich gekommen?«
»Ihr lernt nie dazu, nicht wahr, Orlando?«, sagte sie und ließ ihrem Zorn freien Lauf. »Dieses arme Mädchen … niemand von euch hat ihr irgendetwas erzählt.« Sie öffnete die Tasche, die kein Dienstbote hatte berühren dürfen, und nahm das Bündel Schriftrollen heraus, das sich darin befand. »Narren, ihr alle«, schimpfte sie, während sie sie auf dem Tisch ausbreitete.
»Dieses arme Mädchen, wie Ihr sie nennt, ist eine Brigantin und eine Diebin, die bei mehr als einer Gelegenheit versucht hat, ihren Ehemann zu ermorden«, erklärte Orlando. »Ihr hättet nicht kommen sollen, Isabel. Ihr habt keine Ahnung …«
»Ich weiß mehr, als Ihr denkt«, unterbrach sie ihn. Ihr Ausdruck wurde etwas milder, und sie griff nach seiner Hand. »Wenn Simon erwacht, werde ich es Euch beiden zeigen.«
»Aber warum …«
»Orlando, bitte.« Sie ließ ihn los, und ihre haselnussbraunen Augen blickten betrübt drein. »Bitte, lasst mich einfach warten.«
Siobhan verließ die Halle, in der die Dienstboten gerade die Tische fürs Abendessen deckten. Der lange Nachmittag war fast vorüber. Bald würde es dunkel sein.
Michael kam auf sie zu. »Es ist vollbracht«, sagte er leise, als er sie erreichte. »Alle befinden sich in den Höhlen.«
»Hat man dich bemerkt?«, fragte sie. Silas spielte am Kamin mit Meister Nicholas Schach, aber sein Blick ruhte auf ihr.
»Ich denke nicht«, antwortete Michael. »Der alte Jack hat diesem Ritter Sebastian erklärt, du hättest befohlen, zur besseren Entwässerung das Gestrüpp aus einem Abschnitt des Grabens zu entfernen. Einige der Bauern befolgen diesen Befehl noch immer. Und die Soldaten sind einfach in der Öffnung verschwunden.«
»Gut gemacht«, sagte sie lächelnd. Nun würde jeden Moment die Sonne untergehen, und Tristan könnte auftauchen. Wenn sie nur noch ein wenig länger wartete, würde sie ihn wiedersehen, bevor sie floh. Aber wenn sie ihn sah, würde sie vielleicht gar nicht gehen.
»Siobhan!« Clare kam die Treppe herab. »Ich habe lange geschlafen«, verkündete sie und lächelte Michael zu, während sich Siobhan herabbeugte, um sie zu begrüßen. »So kann ich lange mit Papa aufbleiben.«
»Ich denke, das solltest du tun«, stimmte Siobhan ihr zu und drückte sie fest an sich.
»Trödle nicht«, warnte Michael und zog sanft an Clares Zopf, bevor er ging.
Sie setzte sich auf die Stufe zum Podest und nahm das Kind auf ihren Schoß. »Ich bin froh, dass der Mann fort ist«, sagte Clare und nahm ihre Hand.
»Wer? Michael?«, fragte Siobhan überrascht.
»Nein, Michael ist lieb.« Sie zog die Linien in der Hand ihrer Stiefmutter nach. »Der andere. Gaston.« Sie schaute nicht auf, runzelte aber die Stirn. »Er ist sehr, sehr böse.«
»Denkst du das?« Sie gab der Kleinen einen Kuss auf den Scheitel. Sie hatte stets behaupten hören, dass Kinder solche Dinge klarer sähen als Erwachsene. »Ich glaube es auch.« Sie drehte das Gesicht des Kindes zu sich. »Weißt du, dass ich dich sehr liebe?«
»Ja.« Sie wirkte so ernst, dass Siobhan unwillkürlich lächeln musste. Clare würde eines Tages gewiss eine Gelehrte.
»Ich werde mein Versprechen immer halten«, sagte sie laut. »Gleichgültig, was geschehen mag oder wohin ich vielleicht gehe, werde ich stets zurückkommen, um auf dich aufzupassen, genau wie ich es deinem Papa versprochen habe. Und wenn du alt und kräftig genug bist, werde ich dir das Kämpfen beibringen. Glaubst du mir das?«
Sie nickte. »Ich werde dein Schwert bekommen.«
»Ja«, versprach sie und küsste sie auf die Wange. »Du wirst mein Schwert bekommen.«
Die Tür zur Halle wurde aufgestoßen. »Wo ist sie?«, wollte der Herzog wissen und trat ein.
»Oben, Euer Gnaden«, sagte Siobhan und erhob sich. »Im Sonnenraum.« Er war vielleicht ein Vampir, aber der Ausdruck in seinen Augen und sein Lächeln, als sie ihm den Weg zu seiner Frau zeigte, ließen ihn wirklich sehr menschlich erscheinen.
»Ich danke Euch, Mylady«, sagte er und lief zur Treppe. Tristan folgte ihm langsamer. Er hielt inne, um Clare auf seine Schultern zu heben. »Sehen wir uns diese Herzogin einmal an«, sagte er und zwinkerte Siobhan zu. Bevor sie antworten konnte, hatte er schon ihre Hand genommen und führte sie zur Treppe.
Die fragliche Herzogin wurde gerade von ihrem Dämonenherzog besinnungslos geküsst. »Ich sagte dir, du solltest in Charmot in Sicherheit bleiben«, schalt er zwischen den Küssen, wobei er ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte. »Ich sagte dir, du solltest nicht kommen.«
»Ich musste kommen«, antwortete Isabel, und kristallene Tränen schimmerten auf ihren Wangen. Sie berührte Simons Gesicht, als wollte sie sich versichern, dass er auch echt war. »Ich musste dich sehen.« Sie verschränkte ihre Hände hinter seinem Nacken und reckte sich, um ihn erneut auf den Mund zu küssen. »Engel«, murmelte sie, als er sie eng an sich drückte.
Siobhan, die sie beobachtete, spürte Tränen in ihren Augen brennen. Isabel schien so viel mehr davon zu verstehen, was ihr Liebster war, als Siobhan es bei Tristan verstand, und doch waren sie noch immer getrennt. Sie erlitten noch immer Qualen.
Tristan räusperte sich, und sein Vampirbruder schaute auf. »Sollen wir Euch allein lassen?«, fragte er ihn lächelnd.
»Nein«, erwiderte Orlando rasch.
»Nein«, stimmte Simon ihm zu, aber er klang weitaus weniger bestimmt. Er zog den Umriss des von Küssen wunden Mundes seiner Liebsten nach. »Später«, versprach er flüsternd.
Isabel lächelte. »Immer.«
»Wir haben viel zu besprechen«, fuhr Orlando fort und warf Siobhan einen auffordernden Blick zu.
Siobhan nahm Tristans Hände in ihre. »Ich möchte bleiben«, sagte sie und begegnete seinem Blick. Lass mich bei dir bleiben, flehte sie im Geiste lautlos. Lass mich alles wissen, und nichts anderes wird mehr zählen.
»Verzeih mir, Brigantin«, antwortete er, sein liebevollstes Kosewort. »Aber warte bitte auf mich.«
Sie nahm ihm Clare aus den Armen und lächelte. »Geh und suche Meister Silas«, sagte sie zu dem Kind und küsste es auf die Wange, bevor sie es herunterließ. Dann wandte sie sich wieder Tristan zu. Sie erhob sich wortlos auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, und schlang ihre Arme um seinen Hals. Dann streifte sie ein letztes Mal seinen Mundwinkel, bevor sie ihn losließ.
»Orlando berichtete mir, dass dieses Mädchen Euch zu töten versucht hat, Mylord«, sagte Isabel, als Siobhan fort war. »Ich muss sagen, ich kann das kaum glauben.«
»Ich fürchte, es ist wahr, Euer Gnaden«, antwortete Tristan lächelnd. Simons Lady war zweifellos eine Schönheit mit einer kessen Art, und die Intelligenz einer Gelehrten war deutlich in ihren Augen erkennbar. Aber neben Siobhan schien sie ihm fast puppenhaft, zu zart, um wirklich lebendig zu sein. »Aber ich nehme es ihr nicht übel.«
»Nein?«, konterte sie. »Warum ist sie dann nicht hier?«
»Isabel denkt, wir täten Siobhan unrecht damit, ihr nicht alles zu erzählen, was wir über Eure Suche wissen«, erklärte Orlando Simon.
»Das glaube ich in der Tat«, sagte die Herzogin. »Man kann es Lord Tristan vermutlich verzeihen. Er wurde gerade erst neu erschaffen. Aber nach dem, was in Charmot geschehen ist, solltet Ihr beide es besser wissen.« Tristan lächelte innerlich, als er sah, dass sowohl der Vampir als auch der Zauberer durch ihren Zorn getadelt wirkten wie Kinder. »Denkt nur, wie viel Qual vielleicht vermieden worden wäre, wenn Ihr mir nur die Wahrheit erzählt hättet.«
»Das hier ist etwas völlig anderes, Liebste«, erwiderte Simon und nahm ihre Hand. »Ich sagte dir schon, dass Siobhan Teil der Rebellenmacht war, die Tristans Schloss eingenommen hat. Und da ist noch etwas.« Er führte sie zu einem Stuhl. »Sie besitzt das Schwert aus der Zeichnung des Kelchs.«
»Siobhan hat es?«, fragte Isabel mit großen Augen. »Bist du sicher?«
»Sie hatte es«, korrigierte Tristan. »Ich habe es ihr abgenommen …« Er hielt inne, als er Orlandos Gesicht sah. »Was ist los?«
»Sie hat es sich zurückgeholt«, sagte der Zauberer. »Letzte Nacht, während Ihr beide auf der Jagd wart. Sie kam in die Kerker und durchsuchte Eure Sachen, bis sie es fand. Sie hat auch den Pfahl mitgenommen.«
»Und Ihr habt sie gesehen?«, fragte Simon bestürzt. »Ihr habt sie nicht aufgehalten?«
Orlando schaute zu Tristan. »Ich konnte es nicht.«
»Aber Ihr seid sicher, dass es dasselbe Schwert ist?«, unterbrach Isabel sie. »Ihr wisst, dass es dasjenige aus der Zeichnung ist?«
»Siobhan hat Tristan damit angegriffen«, erklärte Simon und legte eine Hand auf ihre Schulter, ungeachtet des Blickes, den er den Zauberer mit dem anderen Vampir wechseln sah. »Tatsächlich hat sie ihn fast vernichtet.«
»Seine Wunden sind stundenlang nicht verheilt«, stimmte Orlando ihm zu. »Hätte er nicht einen Zufluchtsort erreichen können, wäre der Sonnenaufgang sein Tod gewesen. Denkt Ihr immer noch, wir sollten Siobhan vertrauen?«
»Mehr denn je«, antwortete sie. »Wir brauchen sie.« Sie griff nach ihren Schriftrollen. »Wenn ich fertig bin, werdet Ihr mir vermutlich zustimmen.«
»Du hast etwas gefunden«, sagte Simon. Er grinste. »Also bist du doch nicht nur gekommen, um mich zu sehen.«
»Nicht nur«, räumte sie ein und erwiderte sein Lächeln einen Moment lang, bevor sie zu Orlando blickte. »Vor vier Tagen fand ich in den Katakomben in Charmot kaum verborgen einige weitere Texte.« Sie öffnete eine Schriftrolle auf dem Tisch. »Erinnert Ihr Euch an die Malereien an den Wänden?«
»Das ist unmöglich«, beharrte Orlando. »Wir haben sie genau geprüft. Da war kein Text …«
»Kein gemalter Text, nein, der war da nicht«, stimmte sie ihm zu. »Er war in den Stein gemeißelt.« Sie zeigte ihnen ein fast schwarzes Pergament, das mit weißen Schriftzügen einer Art bedeckt war, wie Tristan sie noch nie gesehen hatte. »Ich habe das Pergament über den Stein gelegt und mit einem Stück Holzkohle darüber gerieben«, erklärte sie. »Und ich habe viel entdeckt.« Sie griff nach der Hand ihres Ehemannes. »Orlando hat dich angelogen, Simon«, sagte sie. »Von Anfang an.«
»Nein«, beharrte der Zauberer, aber Tristan bemerkte, dass er blass geworden war. »Ich habe nicht …«
»Ihr habt Simon gesagt, Ihr wärt ein Diener des von Kivar ermordeten Kalifen«, unterbrach sie ihn.
»Nein«, erwiderte Orlando kopfschüttelnd. »Er hat das vielleicht geglaubt, aber ich habe niemals …«
»Ihr sagtet ihm, der Kelch würde ihn retten«, unterbrach sie ihn erneut. »Und dass er, wenn er ihn fände, wieder sterblich werden könnte.«
»Und das stimmt auch«, beharrte der Zauberer.
»Tatsächlich?«, konterte sie. Alle Anmut war von ihr gewichen, und als Tristan den Zorn in ihren Augen sah, dachte er, sie und Siobhan wären letztendlich doch nicht so verschieden. »Hört Euch das an«, sagte sie und las von der Schriftrolle ab.
»Und so wurde Lucan Kivar aus dem Reich der Götter und der Sterblichen verbannt und sein verfluchter Körper in die Nacht geschleudert, um quer über den Himmel zu brennen, bis er in einem fernen Land über den Bergen zur Ruhe kam. Alle seine Kinder wurden vernichtet, bis auf die beiden Söhne, die von einer Sterblichen geboren wurden, bevor er den Kelch berührte. Der jüngere dieser Söhne war Merlin, sterblich, aber mit der Liebe und der Schönheit der Götter gesegnet. Er war es, der seine sterbliche Verwandtschaft durch die Eiswüsten führte, damit sie sich über die Inseln ausbreiten konnten, die sie fanden, und sie die alte Art lehren konnte, um sie zu gegebener Zeit wiederum an deren Kinder weiterzugeben. Es heißt, er sei schließlich in Irland, der fernsten dieser Inseln, gestorben.«
Sie sah den Zauberer erneut an, als wollte sie ihm dazu Gelegenheit geben zu sprechen, aber er schwieg. Sie fuhr fort.
»Der ältere war Orlando. Körperlich missgestaltet und in der Entwicklung gehemmt, besaß er die Weisheit der Götter und Unsterblichkeit. Von seinem Vater weitgehend verabscheut, war er es, der Kivar verriet, um die Verwandtschaft seiner Mutter zu retten. Von seinem Bruder und allen Sterblichen für sein Opfer geliebt, wollte er sich ihnen noch immer nicht auf ihrer Reise anschließen. Er schwor, die Berge zu überqueren und die Bleibe des Verfluchten zu suchen, um eine Möglichkeit zu finden, ihn für immer zu vernichten.«
»Und das habe ich getan«, sagte Orlando schließlich. »Ich habe ihn gesucht und eine Möglichkeit gefunden, ihn zu vernichten.«
»Ja, aber zu welchem Preis?«, fragte Isabel. »Ich war entsetzt, als ich die Geschichte las, aber ich glaubte allmählich, es sei unwichtig, da ich schon immer gewusst hatte, dass Ihr eine Macht jenseits jeglicher sterblicher Zauberer besitzt. Tatsächlich fühlte ich mich in dem Wissen besser, dass Simon Euch zu seinem Schutz bei sich hatte.« Sie öffnete eine weitere Schriftrolle. »Und dann fand ich das.«
»Wartet – wollt Ihr damit sagen, diese Geschichte sei wahr?«, fragte Tristan. »Dass alles, was Ihr gerade vorgelesen habt, wirklich geschehen ist?«
»Ihr seid ein Vampir, Bruder«, sagte Simon tonlos und gleichmütig. »Könnt Ihr es nicht glauben?« Er berührte Isabels Wange. »Was steht dort geschrieben?«
»Die wahre Macht des Kelchs, von dem Orlando so sehr möchte, dass du ihn findest.« Sie las von dem Pergament ab. »Der Kelch wurde im Reich der Götter verborgen, damit er vor allen bis auf jene sicher ist, die seine Geheimnisse kennen und ihn einst in der Tafelrunde gehalten haben. Nur der Kelch kann Kivar vernichten, und nur ein Wesen sterblichen Blutes kann ihn handhaben.« Sie schaute auf. »Ich verstehe das so, dass es kein Vampir sein darf, aber vielleicht irre ich mich auch«, sagte sie bissig, bevor sie weiterlas. »Sollte ein Krieger adliger Herkunft und sterblichen Blutes die Macht des Kelches gegen Kivar führen, würde er vernichtet, und all seine Dämonenbrut müsste in seiner Flamme sterben.« Sie schaute erneut auf. »Seine Dämonenbrut«, wiederholte sie. »Simon, Tristan. Wenn Ihr diesen Kelch findet, Orlando, und ihn gegen Lucan Kivar verwendet, werden sie sterben.«
»Nein«, beharrte Orlando. »Ich schwöre, dass es nicht so ist. Zumindest … glaube ich das nicht.« Er schritt unruhig im Raum auf und ab. »Es gab so vieles zu erinnern, so vieles … Ich habe versucht, alles aufzuschreiben, aber es sind viele Bruchstücke verloren gegangen.« Er lächelte Simon verbittert zu. »Möget Ihr den Fluch der Unsterblichkeit niemals wirklich kennenlernen.«
»Wollt Ihr damit also sagen, dass diese Schriften, die die Herzogin fand, alle Lügen zum Inhalt haben?«, fragte Tristan.
»Nein, sie entsprechen der Wahrheit«, gab der Zauberer zu. »Die wichtigste Wahrheit, die wir hatten – darum lehrte Merlin seine Kinder, sie zu bewahren. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.« Er schaute erneut zu Simon und dann zurück zu Tristan. »Ich kann es nicht ertragen«, murmelte er. »Es war eine so lange Zeit, und ich habe so vieles vergessen, ohne jemals zu erkennen, dass ich es vergaß. Erst als ich die Zeichnung des Kelchs fand, erkannte ich, wie viel ich verloren hatte.« Er wandte sich wieder den Übrigen zu. »Isabel, Ihr habt keine Erwähnung Josephs oder seines Pfahls gefunden, oder?«, fragte er. »Und doch wissen wir, dass der Pfahl Kivar aus seiner sterblichen Gestalt in seine wahre, unsterbliche Gestalt getrieben hat, wenn auch nur für einen Moment. Hätte Simon das Schwert besessen, hätte er ihn damals vielleicht sogar töten können.«
»Wartet«, sagte Tristan. »Jetzt bin ich verwirrt.« Sein pragmatischer Kriegergeist hatte diese Geschichte immer wieder geprüft und eine Möglichkeit zu finden versucht zu glauben, dass dieser Zwerg vor ihm unsterblich und der Nachkomme irgendeines üblen Halbgottes war. »Der Kelch ist etwas Positives, weil er diesen Kivar vernichtet, richtig? Warum sollte Kivar ihn dann haben wollen? Man sollte meinen, er sollte sich so weit wie möglich davon entfernen wollen.«
»Er muss ihn nicht vernichten«, erklärte Orlando. »Das ist etwas, das Merlin aus Angst, dass Kivar es finden könnte, niemals in eine Wand gemeißelt hätte. Kivar hat auch viele Dinge vergessen, wahrscheinlich noch mehr als ich. Jedes Mal, wenn er seine Gestalt verändert, verliert er einen Teil von sich selbst. Alles, woran er sich erinnert, ist, dass der Kelch ihm Macht verlieh, bevor er verflucht wurde, dass nicht einmal die Götter ihn angreifen konnten, als er ihn besaß.«
»Er sagte, er könne ihn heilen.« Simon blickte ins Feuer. »Er sagte mir, Ihr würdet Euch irren, dass der Kelch keine Rettung, sondern Heilung bedeute.«
»Und das glaubt er auch«, sagte Orlando. »Und vielleicht ist es für ihn auch so. Wenn er erneut aus dem Kelch trinken würde, könnte der Fluch, der ihn in die Dunkelheit verbannt hat, vielleicht gebrochen werden.«
»Damit er alle Macht eines Vampirs ohne dessen Schwächen besäße«, sagte Tristan.
»Viel mehr als das«, erwiderte Orlando. »Er könnte sich erneuern, so wie er glaubt, dass er bereits hätte erneuert werden sollen. Er wäre ein allmächtiger Gott.« Er schaute zu Isabel zurück. »Da Ihr unmittelbar seine Bekanntschaft gemacht habt, Mylady, könnt Ihr da sagen, dass wir nicht tun sollten, was auch immer wir tun müssen, um ihn aufzuhalten?«
»Aber was genau ist das?«, konterte sie. »Was müssen wir tun? Alles, was wir zu wissen glauben, könnte falsch sein. War das nicht die Bedeutung Eurer Worte? Und alles, was Ihr sagt, könnte eine Lüge sein.«
»Sind wir sicher, dass Kivar noch lebt?«, fragte Tristan, während Simon einen Arm um seine Liebste legte.
»Leider ja«, antwortete Simon. »Sein Geist ist mir entkommen, als ich ihm das letzte Mal begegnet bin. Und es gibt Beweise dafür, dass er Euch gefolgt ist. Die Stimme, die Ihr, wie Ihr sagtet, auf Eurem Rückweg hierher gehört habt – das war fast sicher Kivar. Und Ihr sagtet, Ihr hättet von seiner Halle geträumt, von seiner Ankündigung, zu Euch zu kommen.«
»Ja.« Plötzlich kehrte der Traum, den sein Geist beinahe vergessen hatte, mit erschreckender Deutlichkeit zu ihm zurück – die goldene Halle und die große, hagere Gestalt in dem goldenen Gewand, die sich in jemand anderen verwandelte, in einen kleineren, gedrungeneren Mann mit einem ansprechenden, offenen Gesicht. Ein Gesicht, das er irgendwo schon einmal gesehen hatte. »Verdammt«, murrte er. »Callard.« Er stürmte in den Gang hinaus und die Treppe hinab in die Halle. »Siobhan!« Andrew kam mit besorgter Miene auf ihn zu, und er packte seinen Arm. »Wo ist Mylady?«, fragte er drängend.
»In ihrem Zimmer vermutlich«, antwortete der Ritter. »Sie war vom Tod des Barons sehr erschüttert.«
»Der Tod des Barons?«, wiederholte Tristan. »Was …?«
»Verzeiht, Mylord«, sagte Andrew rasch. »Ich vergaß, dass Ihr es noch nicht gehört haben könnt. Der Baron wurde heute Morgen in seinen Räumen tot aufgefunden. Einige seiner Dienstboten gestanden Meister Nicholas, dass sie in seinem Haus eine Seuche hatten, bevor sie hierherkamen, aber tatsächlich sah das nach keiner Krankheit aus, die ich je gesehen habe, denn seine Kehle war herausgerissen.«
Simon war ihm gefolgt. »Habt Ihr dem Baron die Kehle herausgerissen?«, fragte Tristan ihn.
»Nein«, antwortete er mit bitterem Lächeln.
»Mylord?«, fragte Andrew schwach und offensichtlich schockiert.
»Findet meine Tochter«, befahl Tristan. »Bringt sie zum Priester in die Kapelle – bleibt in der Nähe des Kreuzes und umgebt sie mit Rittern. Sollte jemand anderer als der Herzog oder ich in ihre Nähe zu kommen versuchen, dann schneidet ihm den Kopf ab.« Er dachte an Simons Worte darüber, wie Kivar seine Gestalt verändert hatte, um Isabel zu narren. »Und wenn der Herzog oder ich selbst kommen, dann befragt auch uns strikt«, schloss er. »Lasst euch den Namen von Clares Mutter nennen.«
»Wie lautete der Name von Clares Mutter?«, fragte Simon, während sie die Halle verließen.
»Alisande.« Er lief los, sobald er den Hof erreichte. »Ihr Name war Alisande.«
Er rannte über die Brücke zum Turm und die Wendeltreppe hinauf. »Siobhan!« Er stieß die Tür zu ihrem Zimmer auf, aber es war leer. »Siobhan!«
»Bitte, Mylord.« Emma stand hinter ihm und rang die Hände. »Sie sind fort.«
Er musste sich beherrschen, um sie nicht zu packen. »Wer ist fort?«, fragte er.
»Lady Siobhan und die anderen«, antwortete sie. »Alle diejenigen, die Lebuin dienten. Sie sind entkommen.«
»Oh, nein«, murmelte Simon und schüttelte den Kopf.
»Wie, Emma?«, fragte Tristan und legte seine Hände auf ihre Schultern, sprach aber in ruhigem Tonfall. »Wie sind sie entkommen?«
»Durch irgendeinen Gang, Mylord«, antwortete sie. »Michael wollte es mir nicht sagen, aber ich habe ihn dazu gezwungen. Ich bat ihn, nicht zu gehen.«
»Wo ist dieser Gang, Mädchen«, fragte Simon. »Weißt du das?«
»Hier«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Unter dem Druidenhügel.«