11

Siobhan erwachte erneut, dieses Mal aus einem Albtraum. »Mylady?«, fragte Emma. »Geht es Euch gut?«

»Ja.« Ihr Mund fühlte sich trocken an, und ihre Haut war noch immer klamm vor Angst. »Es geht mir gut.«

»Meister Silas hat Euch ein Buch geschickt«, sagte das Mädchen und reichte ihr einen verwitterten, in Leder gebundenen Band, der fast so groß war wie eine Tischoberfläche. »Michael hat es heraufgebracht.«

»Wunderbar«, erwiderte sie und öffnete es sofort.

Nach wenigen Seiten der dort verzeichneten Schrecken glaubte sie, nie wieder friedlich schlafen zu können. Ihr Latein war nicht das beste, und der Text war in der üblichen Umgangssprache eines Soldaten der Zeit geschrieben, als Rom noch regierte und die Sprache noch auf den Straßen gesprochen wurde, nicht in der formellen Ausdrucksweise zeitgenössischer Briefe und religiöser Texte, die sie zu lesen gewohnt war. Aber auch wenn sie nur die Hälfte von dem verstand, was dort geschrieben stand, genügte es, um ihr Haar zu Berge stehen zu lassen. Männliche und weibliche Dämonen, Feuer speiende Wurmgötter der irischen Heiden – wenn man dem Verfasser glauben konnte, war er schon allen schuppigen, mit Reißzähnen bewehrten Bestien begegnet, die die Hölle jemals hervorgebracht hatte. Aber bisher glich keine davon auch nur entfernt Tristan DuMaine.

Sie stand nun langsam aus dem Bett auf und trat zum Fenster. In ihrem Traum hatte sie an derselben Stelle gestanden, aber im alten Druidenturm, und den Sonnenuntergang betrachtet. Sie konnte sich an keine besondere Einzelheit erinnern, die sie hätte ängstigen sollen, nur an die Worte, die jemand hinter ihr gesagt hatte. »Der Wolf hat uns gefunden …« Sie hatte die Stimme nicht erkannt, und nun sagten ihr die Worte nichts. Aber das Gefühl von Furcht, das sie in ihrem Traum empfunden hatte, war geblieben.

»Michael hat uns auch noch mehr zu essen gebracht«, sagte Emma. »Die Wache wollte mich ihn nicht einmal sehen lassen.«

»Das tut mir leid, Emma.« Das arme Mädchen hatte nichts falsch gemacht, und es war grausam, dass sie bestraft wurde. Aber Siobhan konnte dagegen nichts tun. Sie nahm ihr Buch mit zum Tisch, um weiterzulesen, und bald hörte sie das Bett hinter sich knarren. Während Emma schnarchte, war Siobhan erneut in die Geschichte des römischen Soldaten vertieft.

Die Schatten waren lang geworden, und im Raum war es schon so dunkel, dass sie daran dachte, eine Kerze anzuzünden, als sie zufällig auf das stieß, was sie gesucht hatte. »Eine traurige, seltsame Geschichte«, so oder so ähnlich begann der Soldat.

Wir trafen in einer Stadt ein, in der gerade eine Hexe gesteinigt werden sollte. Sie war eine wunderschöne, junge Frau, und unser Hauptmann forderte, über die Beweise gegen sie informiert zu werden.

»Sie ist die Gefährtin eines Teufels«, belehrten die Stadtväter uns. »Ihr toter Ehemann ist zu ihr gekommen.«

Sie zeigten uns Male am Hals des Geschöpfs, die zu beweisen schienen, dass der tote Mann sich an ihrem Blut genährt hatte, und als der Hauptmann sie befragte, schwor sie auch, dass es so sei. »Sie hat ihn heraufbeschworen«, sagte der Priester, der sie verurteilt hatte. »Sie hat Magie benutzt, um ihn in einen Dämon zu verwandeln.« »Nicht ich«, weinte die Frau, aber niemand in der Stadt glaubte ihr. Da der Hauptmann keine Hoffnung sah, mehr aufzudecken, ohne einen Aufstand zu riskieren, erlaubte er ihnen fortzufahren, und die Frau wurde zu Tode gesteinigt.

In der Nacht, in der wir auf dem Anger lagerten, hörten wir von der Kirche her einen Aufruhr – eine Rauferei, so wie es klang. Ein Trupp von uns begab sich auf Erkundung und erblickte etwas, was ich kaum beschreiben kann. Der Dämonen-Ehemann der Hexe war auf der Suche nach ihr zurückgekehrt und nahm nun Rache an der Stadt. Er hatte die Gestalt eines gewöhnlichen Menschen, aber seine Augen glühten wie Kohlen in einem Feuer, und in seinem Mund waren die Zähne eines Löwen zu sehen. Der Priester forderte, dass er im Namen Gottes weichen solle, und der Dämon war einen Moment abgelenkt. Aber als der Priester das Kreuz fallen ließ, das er trug, sprang der Dämon ihn an und riss ihm die Kehle heraus.

Wir griffen das Ungetüm an, aber unsere Schwerter waren so gut wie nutzlos. Wir fügten ihm einhundert Wunden zu, aber keine schadete ihm, da sie alle im Handumdrehen heilten, und ich roch Schwefel in seinem Blut. Schließlich erhob ich, da mein Schwert gebrochen war, verzweifelt einen Holzpfahl gegen ihn und trieb ihn unmittelbar durch sein Herz. Er stürzte mit dem Heulen von eintausend Wölfen und stand nie wieder auf. Einer meiner Kameraden schlug ihm den Kopf von den Schultern, und der Leichnam löste sich in Gallenflüssigkeit auf.

Diese Geschichte hatte ich seit damals nur einem gelehrten Mönch der Berge des Ostens erzählt. Er sagte mir, dass dieses Wesen etwas sei, was seine Leute »Vampir« nennen, weder ein Lebender noch ein Toter, sondern für immer dazu verflucht, in der Welt der Nacht zu wandern. Er wusste nicht, wie ein solches Monster entstand, aber ich bezweifle seine Worte nicht.

»Vampir«, sagte Siobhan leise und berührte das Wort auf der Seite. Tristan war irgendwie zu einem solchen Geschöpf geworden, zu einem Vampir. Sie dachte an sein Lachen, als sie versuchte, ihn mit ihrem Schwert zu verletzen, und daran, wie sein Fleisch sich mit einem Zischen wie Blut auf einer Flamme geheilt hatte. »Du kannst mich nicht töten«, hatte er sie verspottet. »Aber ich kann töten, wen auch immer ich will.«

»Niemand stirbt heute Nacht mehr«, hatte sie von ihm gefordert, und er hatte eingewilligt. »Wie du willst«, hatte er versprochen. Aber er hatte Sam dennoch getötet. Sie erinnerte sich gegen ihren Willen an sein Gesicht, als er sie küsste, an die Süße seiner Berührung. Er hatte sie verzaubert, aber nicht nur mit Dämonenmagie. Sie hatte ihn gewollt, hatte sich vom ersten Moment ihrer Begegnung an nach ihm gesehnt, vom ersten Moment an, als er sie berührt hatte. »Ich werde aus der Hölle selbst zurückkehren, um dich zu bestrafen«, hatte er bei ihrer Hochzeit geschworen, und das hatte er getan, genauso wie er es versprochen hatte. »Ich werde dich töten, Liebste.«

»Nein«, sagte sie jetzt, sprach in die sich verdichtende Dunkelheit der Nacht hinein. »Ich werde dich vorher töten.« Der Gedanke allein trieb ihr die Tränen in die Augen, aber sie wollte sie nicht zulassen. Tristan war ein Monster, ein Vampir. Ein Holzpfahl konnte ihn vernichten.

Sie erwog einen Moment, nach Sean zu schicken und ihm zu zeigen, was sie gefunden hatte, aber sie entschloss sich rasch dagegen. Er würde mir ohnehin nicht glauben, dachte sie, als sie sich an die arme Frau in der Geschichte erinnerte, die als Hexe gesteinigt worden war. Hatte sie ihren Ehemann geliebt? Hatte sie ihn in seiner Dämonengestalt gefürchtet?

»Es ist unwichtig«, sagte sie laut. »Er ist böse. Er muss vernichtet werden.«

»Mylady?«, fragte Emma und gähnte, während sie sich im Bett aufsetzte.

»Wo ist mein Schwert?« Siobhan trat zu der Stelle, wo sie es zurückgelassen hatte, fand aber nur die Kleidung, die sie in der Nacht zuvor getragen hatte. »Wo ist es?« Sie öffnete ihre Truhe, und dort fand sie das Kurzschwert, das sie als Mädchen in der Klippe gefunden hatte.

»Mylady, was ist los?«, fragte Emma und erhob sich.

»Nichts«, versicherte sie. »Es hat sich nichts geändert.« Ein Schwert allein wäre ihr kaum von Nutzen, dachte sie. Sie brauchte auch einen Pfahl. »Emma, ich friere.«

»Ihr friert?«, fragte das Mädchen bestürzt. Es war mitten im Sommer. Der Raum war drückend heiß.

»Ja«, sagte Siobhan. »Geh nach unten und hole mir Feuerholz – viel Anmachholz. Der Kamin ist alt. Es lässt sich vielleicht nicht so leicht entzünden.« Clare setzte sich auch auf und beobachtete sie mit grünen Augen, die Tristans so ähnlich waren und deren Blick sie erschaudern ließ.

»Nimm Clare mit«, befahl sie. »Beeil dich – ich friere bis auf die Knochen.«

»Mylady, das werden sie nicht zulassen«, protestierte das Mädchen. »Die Wachen …«

»He da«, rief Siobhan und hämmerte gegen die Tür. »Öffnet sofort.« Die Tür schwang nur einen Spalt weit auf, und einer von Seans vertrautesten und am wenigsten brauchbaren Briganten spähte herein. »Wo ist mein Bruder?«, wollte sie wissen.

»Unten, Mylady«, antwortete er. »Er sagte, Ihr sollt hierbleiben.«

»Tatsächlich?«, fragte sie insgeheim erfreut. Wenn sie hinausgelangen wollte, wäre dieser Junge kaum ein Hindernis. »Hat er auch gesagt, ich soll erfrieren?«

»Nein, Mylady, natürlich nicht«, antwortete er offensichtlich verwirrt. »Aber …«

»Dieses Mädchen wird mir etwas Holz holen«, unterbrach sie ihn, nahm Emma am Handgelenk und zog sie zur Tür. »Sie wird das Kind mitnehmen, um es zum Abtritt auf der Mauer zu führen.«

»Der Hauptmann hat gesagt …«

»Der Hauptmann hat den Tag nicht mit einem quengeligen Kind eingesperrt verbracht«, unterbrach Siobhan ihn erneut. »Was hat sie verbrochen, dass sie überhaupt eingesperrt sein muss?« Clare war neben sie getreten und schaute bei diesen Worten auf, während sie leicht die Stirn runzelte. »Bringt sie doch selbst zur Mauer, wenn Ihr Sean so sehr fürchtet.«

»Ich?«, stammelte er erschrocken. »Nein, Mylady, das könnte ich nicht.«

»Dann lasst Emma es tun.« Das Mädchen drückte verschwörerisch ihre Hand. »Beeil dich«, befahl sie und schob sie durch die Tür.

»Ich will nicht gehen«, sagte Clare und blickte noch finsterer. »Ich will bei dir bleiben.«

»Und das sollst du auch«, versprach Siobhan. Sie würde ihr Versprechen halten. Sie würde dieses Kind beschützen, als wäre es ihr eigenes. »Aber im Moment musst du mit Emma gehen.«

»Kommt, Mylady«, sagte Emma und streckte die Hand aus. »Wir werden bald zurück sein.« Das Kind gehorchte mit einem letzten langen, fragenden Blick und nahm die Hand des Kindermädchens.

»Trödle nicht, Emma«, sagte Siobhan. »Und bleib nicht lange fort.« Sie zwinkerte ihr hinter dem Rücken der Wache zu. »Ich werde genau hier sein.«

Orlando beobachtete, wie Simon sein Pferd sattelte. »Ich sollte vermutlich keinen Atem darauf verschwenden, Einspruch zu erheben«, sagte der kleine Zauberer ironisch.

»Du kannst es tun, wenn du willst«, erwiderte Simon grinsend. »Aber du kannst mich nicht aufhalten.« Malachi schnaubte, als wollte er unbedingt loslaufen, und Simon kraulte ihn unter dem Kinn. »Es dauert nicht mehr lange. Die Hauptstraße ist nicht weit.«

»Was habt Ihr Lady Isabel in Eurem Brief mitgeteilt?«, fragte Orlando.

»Natürlich alles.« Er schwang sich in den Sattel. »Wenn etwas passiert, möchte ich, dass sie weiß, was aus uns geworden ist.« Er wendete das Pferd. »Sobald ich jemanden finde, der nach Süden will und vertrauenswürdig aussieht, übergebe ich ihm den Brief und reite zurück.«

»Wie Ihr wollt«, erwiderte der Zauberer und nickte. Tristan, ihr neuer Waffenbruder, war in der Nacht zuvor nicht zurückgekehrt. Der Himmel allein wusste, welches Unheil er in seinem Schloss vorgefunden hatte. »Ihr habt ihr doch hoffentlich Grüße von mir ausgerichtet?«

Simon lächelte erneut. »Natürlich.« In Wahrheit zögerte er, seinen kleinen Gefährten allein zu lassen, besonders da Kivar ihnen höchstwahrscheinlich auf den Fersen war. Aber Orlando hatte darauf beharrt, Tristan nicht ganz ohne Anleitung zurückzulassen, ob der neue Vampir nun Hilfe wollte oder nicht. »Ich werde nicht lange fort sein«, wiederholte er und schnalzte seinem Pferd zu. Schließlich ritt er mit einem letzten Winken davon.

Silas betrat die belebte Halle, während ihm die goldfarbene Dogge dichtauf folgte. Die wahnsinnige Geschäftigkeit des Tages hatte in keiner Weise zugelassen, die Schlossbewohner über die Art des Bösen aufzuklären, das sie verfolgte, hatte auch nur wenig dazu beigetragen, ihre Ängste zu beschwichtigen. Die sogenannten Schlosswachen waren kaum einen Monat zuvor räuberische Briganten gewesen. Ihre Disziplin war nicht einmal annähernd vollkommen, und sie waren zornig. »Was sollen wir denn tun, Hauptmann?«, fragte einer von ihnen Sean gerade, als Silas und sein Gefährte hereinkamen. »Abwarten, wer auch immer oder was auch immer es ist, das uns alle nacheinander töten will?«

»Niemand geht allein irgendwohin«, antwortete Sean. »Niemand soll sich ohne einen kompletten Trupp aus diesem Turm hinaus oder von den Mauern herabwagen.«

Die Diskussion machte es Silas und Tristan lächerlich leicht, unbemerkt durch die Halle und auf der anderen Seite wieder hinauszugehen.

Am Fuß der Treppe trafen sie Emma, die Clare an der Hand führte. »Seid gegrüßt, Mistress«, sagte Silas und lächelte ihr zu.

»Meister«, erwiderte sie nickend. Clare drängte sich, offensichtlich aus Angst vor dem Hund, an sie. »Ist schon gut, Liebes«, besänftigte das Kindermädchen sie. »Er scheint recht zahm zu sein.«

»Recht zahm«, stimmte Silas ihr zu. »Ich denke, das kann ich Euch versichern, Lady Clare. Das Tier wird Euch niemals etwas antun.«

Das Kind trat näher heran und hielt eine Hand vor sich ausgestreckt, wie Siobhan es ihr gezeigt hatte. »Er ist hübsch«, traute sie sich zu sagen.

»Prachtvoll«, sagte Silas, lächelte Emma zu und bemühte sich, nicht den Atem anzuhalten. Der Hund stupste gegen Clares Hand, und sie keuchte, zog sich aber nicht zurück.

»Er mag mich«, sagte sie lächelnd.

»Das ist gewiss richtig«, bestätigte Emma.

»Ich bin mir da auch ganz sicher«, sagte Silas. Der Gelehrte bekam zum ersten Mal, seit er ihn heute Morgen gefunden hatte, ein gewisses Gespür für die Qual, die sein junger Freund erleiden musste. Er liebte sein Kind über alles auf der Welt. Wie schrecklich musste es sein, ihr so nahe zu sein und sie nicht berühren oder beschützen zu dürfen.

»Hallo, Hundchen«, sagte Clare sanft und streckte die Hand aus, um ganz sacht das goldfarbene Fell am Hals des Tieres zu streicheln. »Hallo.« Sie trat einen Schritt näher, während sich Tristan auf die Fersen hockte. »So weich.« Sie kniete sich neben ihn, presste ihre Wange an seinen Hals und atmete tief ein. »Er riecht wie Papa.«

»Das glaube ich kaum«, erwiderte Emma lachend. »Kommt, Mylady. Wir sollten uns beeilen, erinnert Ihr Euch?«

»Wo wollt Ihr beide denn hin, Mistress?«, fragte Silas, um den Moment so weit wie möglich dauern zu lassen.

»Nicht weit«, antwortete Emma. »Meine kleine Lady war den ganzen Tag eingeschlossen.«

»Verstehe.« Silas erinnerte sich plötzlich. Lebuin hatte das Kind mit Siobhan eingeschlossen. Aber wenn Tristan wirklich tun wollte, was er gesagt hatte, wäre der letzte Ort, wo sie gerade jetzt sein sollte, der Turm. In der Geborgenheit des Hundezwingers hatte Tristan ihm erklärt, wie er zu dem Vampir geworden war, der er nun war, und Silas hatte ihm alles erzählt, was während seiner Abwesenheit geschehen war, darunter auch, dass Sean Lebuin darauf bestanden hatte, das Schloss fertigzustellen, und ein Bündnis mit diesem mysteriösen Baron von Callard eingegangen war. »Lebuin hält kluge Reden und kann manchmal gerissen sein, aber er scheint kein Talent zur Planung zu besitzen«, hatte er erklärt. »Siobhan ist die Strategin.«

»Unsinn«, hatte Tristan lachend gehöhnt und seinen Hund zwischen den Ohren gekrault.

»Ist es nicht, Mylord«, hatte Silas ihn gewarnt. »Sie erzählte mir selbst, dass sie es war, die den Mord an meinen Steinmetzen arrangiert hat – sie hat sich dessen geradezu gerühmt. Die Bauern hier verlassen sich darauf, dass sie sie beschützt, nicht auf Sean.« Tristans zornige Miene war schrecklich anzusehen gewesen. »Ich zweifle im Vertrauen gesagt nicht daran, dass sie es auch war, die sie überredet hat, Euch zu verraten.«

»Meine liebste Ehefrau.« Als er ihn bei diesen Worten lächeln sah, hätte Silas ihn sehr wohl einen Dämon nennen können. Und nun war er gekommen, um Rache zu nehmen. »Emma, wollt Ihr mir einen Gefallen tun?«, fragte er schließlich.

»Natürlich, Meister.« Sie legte eine Hand auf Clares blonden Kopf, machte aber keinerlei Anstalten, sie von dem Hund fortzuziehen.

»Ich habe in meinem Zimmer im Gutshaus einige Papiere liegen lassen«, improvisierte er. »Aber ich will die Nacht hier in der Halle verbringen …«

»Ja, Meister, das müsst Ihr auch«, sagte sie rasch. »Es ist nicht sicher …« Sie brach ab und blickte zu dem Kind. »Ich werde Euch Eure Papiere holen.«

»Ich danke Euch, Mistress.« Er zermarterte sich einen Moment das Hirn. »Sie sind … sie sind natürlich auf meinem Schreibtisch. Ein Bündel Schriftrollen – bringt einfach mit, was immer Ihr findet.«

»Das werde ich.« Sie streckte eine Hand aus. Clare nahm sie widerwillig und erhob sich. »Wo kann ich Euch finden?«

»Ich warte in der Halle.« Der Hund, der sein Herr war, schnupperte ein letztes Mal am Ohr des Kindes, sodass es kicherte. »Ich danke Euch, Emma.«

»Schon gut, Meister Silas.« Sie nahm mit einem letzten Lächeln die Hand der Kleinen. »Kommt, Mylady.«

Silas sah ihnen nach, wie sie durch den Torbogen verschwanden, der zur Halle führte. Als er sich umwandte, stand Tristan als Mensch neben ihm. »Um Gottes willen«, murmelte er mit angehaltenem Atem.

»Verzeiht mir, Silas.« Tristan legte eine zitternde Hand auf die Schulter des älteren Mannes und beruhigte sich damit ebenso wie diesen. »Ich danke Euch … ich denke, nun schaffe ich es allein.«

»Seid Ihr sicher?«, fragte Silas und blickte verdrossen die gewundene Treppe hinauf und hinab. »Es werden Wachen da sein …«

Tristan lächelte. »Keine Sorge«, versprach er. »Geht und wartet in der Halle auf Emma.«

* * *

Sobald Emma und die Kleine fort waren, verriegelte Siobhan die Tür von innen und befestigte die Fensterläden vor dem einzigen Fenster des Raumes. Sie legte ihr Kleid ab, zog ihre Hose, die Stiefel und die Bluse an und nahm das Haar im Nacken zusammen.

Jemand kam die Halle herauf und murmelte leise. Sie steckte das Schwert unter die Tagesdecke des Bettes. »Ja, gleich«, rief sie, als jemand an die Tür pochte. »Wer ist da?«

»Ich bin es, Mylady«, antwortete die raue Stimme eines der Dienstboten. »Joseph. Ich bringe Euer Holz.«

Sie entriegelte die Tür und öffnete sie. »Bring es herein«, sagte sie und nickte dem Wächter erneut zu. »Leg es einfach am Kamin ab.«

Der Diener betrachtete ihre Kleidung fragend. »Soll ich das Feuer für Euch entfachen?«

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich … ich habe mich wärmer angezogen. Ich friere nicht mehr.«

Er hielt sie bestimmt für verrückt. »Wie Ihr wollt, Mylady«, sagte er mit einem kaum unterdrückten Seufzen und eilte mit seinem Arm voll Holz wieder zur Tür.

»Lasst das Holz hier!«, befahl sie. »Ich könnte es später brauchen – die Nächte sind kalt.« Mitten im Sommer, fügte sie lautlos hinzu und fühlte sich wie eine vollkommene Närrin.

Er sah sie nur einen Moment mit einem halben Lächeln an, als dächte er, sie habe einen Scherz gemacht. »Natürlich«, sagte er schließlich. Er legte das Holz am Kamin ab, wobei sein Blick unverwandt auf ihrem Gesicht ruhte. »Schlaft gut, Mylady.«

»Danke«, erwiderte sie. »Ich werde es versuchen.« Sie lächelte ihm, als er ging, so freundlich wie möglich zu und verriegelte wieder die Tür hinter ihm.

Keines der Holzstücke war genau das, was sie als Pfahl gebrauchen konnte – die Scheite waren zu dick, und das Anmachholz war zu schmal. Sie nahm das passendste Stück zur Hand, gab vor, einen imaginären Feind anzugreifen, und versuchte sich vorzustellen, wie sie es in das Herz eines Dämonenvampirs trieb. In Tristans Herz, korrigierte sie sich und erschauderte bei dem Gedanken vor Entsetzen. »Gott schütze mich«, sagte sie leise. »Gib mir die Kraft, es zu tun, denn ich schwöre, ich kann es nicht.«

Viele Schritte kamen nun den Gang herauf – konnten Emma und Clare schon so bald zurück sein? Sie steckte den Pfahl hinten in ihren Gürtel, so wie sie vielleicht einen Dolch verborgen hätte, und wandte sich der Tür zu.

Sie hörte die Wache draußen kurz und scharf etwas rufen und vernahm dann einen dumpfen Aufschlag vor der Tür, der sie in ihrem Rahmen erschütterte. »Owen?«, rief sie nach der Wache. »Joseph? Seid Ihr das?«

Sie hörte einen langen Moment über nichts und dann das Geräusch von etwas Schwerem, das die Tür hinabglitt. Sie hörte, wie der äußere Riegel zurückgeschoben wurde. »Wer ist da?«, wollte sie wissen, und ihr Herz pochte inzwischen so hart, dass es schmerzte. Der Türknauf wurde gedreht, aber der schwere Eisenriegel war noch geschlossen. »Tristan?« Ich werde wiederkommen, hatte er versprochen. Du brauchst mich nicht zu suchen.

Warte!, wollte sie aufschreien. Ich bin noch nicht bereit! Sie sollte ihn vernichten. Er hatte zwei ihrer Leute getötet, hatte Sam getötet, nachdem er ihr versprochen hatte, es nicht zu tun. Tatsächlich hatte er den jungen Owen genau in diesem Moment getötet. Wenn sie ihn nicht aufhalten, den Pfahl durch sein Herz treiben und ihm den Kopf von den Schultern schlagen könnte, würde er auch Sean und alle anderen, die ihr lieb waren, töten.

Aber er war ihr Ehemann. Es hatte als Spaß begonnen, aus Hohn gegenüber ihrem Feind, aber die Schwüre, die sie geleistet hatten, waren nun Wahrheit geworden. Wie konnte sie den Mann töten, den sie in der Nacht zuvor kennengelernt hatte? Er hatte sie verzaubert, trotz allem, was sie getan und gewollt hatte. Sie wollte ihn, wollte ihn berühren, wollte ihm gehören, genau wie er es auch wollte. Sie war eine schwache und törichte Frau, genauso, wie sie es immer befürchtet hatte. »Geh«, befahl sie in kindischer Abwehr. »Ich werde dich nicht hereinlassen.« Der Knauf drehte sich erneut, und die Tür klapperte in ihrem Rahmen. »Ich sagte, geh!« Bitte, Tristan, flehte sie in Gedanken. Bitte, zwing mich nicht, dich zu töten.

Eine dünne, graue Rauchranke kräuselte sich von dem Spalt unter der Tür aufwärts. Sie wich zurück und beobachtete, wie der Rauch aufstieg und sich verdichtete. Ein sanfter, erfreulicher Duft erfüllte den Raum, wie frisch gemähtes, vom Tau benetztes Heu in der Dämmerung. Sie griff hinter sich zum Bett, ihre Finger suchten das unter der Tagesdecke verborgene Schwert, aber sie war ungeschickt und abgelenkt und von dem sich windenden und sich verdichtenden Rauch wie hypnotisiert. Und dann war das Schwert innerhalb weniger benommener Momente vergessen, als ihr Dämonenliebster vor ihr stand.

»Du kannst mich nicht vertreiben, Siobhan«, sagte er und trat näher, sein schönes Gesicht vor Zorn verzerrt. »Dies ist mein Schloss.« Sie machte eine Bewegung, als wollte sie davonlaufen, aber er packte sie an den Schultern. »Du bist meine Frau.«

»Wie kann ein Toter eine Frau haben?«, höhnte sie und verspottete ihn wie immer, aber dieses Mal schüttelte er sie, sodass sie aufschrie.

»Sag mir die Wahrheit«, drängte er, nicht mit dem verführerischen Dämonensäuseln, das sie in der Nacht zuvor so vollständig verzaubert hatte, sondern mit der rauen, tiefen Stimme eines rechtschaffenen Menschen, der betrogen wurde. »Sag mir, dass du die Männer getötet hast, die dieses Schloss erbauten, arglose Arbeiter, die weder dir noch sonst jemandem jemals ein Leid zugefügt haben.«

»Was?« Er hatte ihr in der Nacht zuvor zugelächelt, sie geneckt, sie geliebt – warum war er jetzt so zornig? »Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht getan … wirklich nicht. Ich dachte nicht …«

»Warum überrascht mich das nicht?«, fragte er und verspottete sie so erneut.

»Das war vor Monaten«, protestierte sie. »Ich sagte Sam, es sei für uns leichter, dich zu veranlassen, nach Frankreich zurückzugehen, wenn dein Schloss nicht fertiggestellt werden könne, und er …« Ihre Stimme erstarb, während sie zu ihm hochsah. »Du hast ihn getötet.«

Die Anklage in ihren Augen war mehr, als Tristan ertragen konnte – wie konnte sie es wagen, ihn zu beschuldigen? Wer, in Gottes Namen, war Sam? »Du hast befohlen, jene Männer zu töten«, sagte er erschüttert.

»Ich habe niemals etwas befohlen«, beharrte sie. »Ich habe nicht die Macht, Befehle zu erteilen – siehst du nicht, wo ich jetzt bin? Eine Gefangene!« Sie konnte nicht denken, nicht, wenn er sie so ansah. Emma und Clare konnten jeden Moment zurückkehren. Sie musste rasch handeln. Aber was sollte sie tun? »Ich habe zwar nicht um jene Männer getrauert, aber ich habe sie auch nicht getötet. Ich hätte es getan, aber … Tristan, warum bist du überrascht? Du wusstest, was ich war. Ich habe dir nie etwas vorgemacht …«

»Ja, Lady, ich wusste es«, sagte er mit bitterem Lachen. »Ich wusste es vom ersten Moment an, als ich dich sah, du widernatürliches kleines Biest, wie du Pfeile auf meine Männer abgeschossen hast.« Ein völlig anderer Zorn als das Verlangen nach Rache, das er auf seinem Weg nach Hause empfunden hatte, machte ihn benommen. »Ich hätte dich töten sollen …«

»Du hast es versucht, aber du hast mich verfehlt«, erwiderte sie.

»Dann hast du ein unschuldiges Kind als Geisel genommen«, fuhr er fort, und seine Stimme klang vor Abscheu erstickt. »Sage mir, Siobhan – erinnert sich Clare daran, dass du ihr die Kehle durchschneiden wolltest?«

»Ich hätte es niemals getan«, sagte sie verärgert und sagte damit, ohne nachzudenken, die Wahrheit. »Ich habe zu Gott gebetet, dass du es nicht darauf ankommen lassen würdest …«

»Als hätte ich das Leben meines Kindes riskiert …«

»Wie sollte ich das wissen?«, fragte sie. »Ich kannte dich nicht! Du warst ein Fremder, der Normanne, der die Leute meines Vaters versklavte – du hattest gerade den besten Freund meines Bruders getötet …«

»Der gerade mich zu töten versucht hatte, wenn ich mich recht erinnere«, erwiderte er sarkastisch.

»Du wolltest Sean töten, und ich konnte nicht …« Ein schmerzlicher Kloß stieg ihr in die Kehle. Er war aus all dem Kummer, den sie so lange zurückgehalten hatte, dass sie kaum noch darüber nachdachte. Sie wusste kaum, was sie nun sagte oder auch dachte. Die Worte drangen einfach hervor. »Ich konnte nicht zulassen, dass du ihn töten würdest, Tristan. Ich kann nicht … er ist alles, was ich noch habe, und er liebt mich.« Tränen blendeten sie. Als er sie an den Schultern hielt, verschwamm seine Brust vor ihren Augen, und hätte er sie nicht festgehalten, wäre sie vielleicht zu Boden gesunken. »Sie haben Papa wie einen Hund getötet, haben ihm direkt vor unserem Haus den Kopf abgeschlagen, während Mama und ich zusahen«, sagte sie und schluckte wie das schwache Mädchen, das sie sich geschworen hatte, niemals wieder zu sein. »Normannische Soldaten … wir waren Adlige. Der König hatte Papa zum Ritter geschlagen. Sean war ein Ritter …« Das Gesicht ihres Vampir-Ehemannes hatte sich verändert. Sie sah Mitgefühl in seinen warmen, grünen Augen, und Schmerz packte ihr Herz wie eine unerbittliche Faust. »Sie haben meine Mutter vergewaltigt, Tristan, sie alle, immer wieder, weil sie eine Frau war, und sie konnte sich nicht einmal wehren. Ich konnte mich nicht wehren …« Sie dachte an das Schwert, das sie in jener schrecklichen Nacht gefunden und nun hinter sich versteckt hatte. »Ich habe sie gesehen«, erklärte sie ihm und erzitterte bis ins Mark ihrer Knochen. »Ich lief davon …« Sie beugte den Kopf und weinte, während er sie an sich zog.

»Schhh«, murmelte er und drückte sie an sich. Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder, konnte kaum glauben, dass der Mann, der sie tröstete, er selbst war. Er hatte so etwas außer bei Clare, seinem eigenen, perfekten, unschuldigen Kind noch niemals in seinem Leben getan. Siobhan war nichts davon – sie war nicht perfekt, sie war nicht unschuldig, und sie war eine erwachsene Frau, die gewiss alt und stark genug war, jede Last zu tragen. Aber sie gehörte ihm, genau wie Clare, und er konnte es nicht ertragen, ihren Schmerz mit anzusehen. »Natürlich bist du davongelaufen.« Er küsste ihr Haar. »Sonst hätten sie dich auch ermordet, oder Schlimmeres.«

»Ja«, räumte sie durch einen Schluckauf hindurch ein und krallte sich an seinem Gewand fest. Sie wollte sich nur weiterhin an ihn schmiegen und sich von ihm trösten lassen. Er war so stark, stärker als jeder andere Mann, den sie jemals gekannt hatte, und sie fühlte sich bei ihm geborgen. Er hatte sie noch einen Moment zuvor töten wollen, aber der Anblick ihrer Tränen hatte ihn erweicht – was für ein Wahnsinn war das?

»Weine nicht«, sagte er schroff, und es klang wie das Grollen eines Löwen. Er konnte sie im Geiste davonlaufen sehen, ein verängstigtes Kind, das vor den Männern um sein Leben lief, die ihre Familie niedergemetzelt und ihr Heim zerstört hatten. Es war kaum verwunderlich, dass sie alle Normannen, einschließlich ihn selbst, hasste. »Es ist vorbei«, versprach er.

Nein, dachte sie. Ist es nicht. Nicht annähernd. Aber als sie zu ihm aufblickte, konnte sie es nicht sagen. Sie wollte ihm auch den Rest erzählen – dass sie in jener Nacht einen Mann getötet hatte, ihre erste Tötung überhaupt, und dass das Gesicht des toten Mannes seitdem in jeder Nacht ihre Träume heimsuchte. Sie wollte ihm sagen, dass sie wusste, was er war, dass sie mehr Angst vor ihm hatte als jemals vor irgendetwas anderem in ihrem Leben. Sie wollte es nicht sagen, um ihn zu verletzen, sondern damit er sie tröstete, damit er versprach, dass er ihr niemals wehtun werde und dass sie keine Angst mehr haben müsse. Aber als sie seinem Blick begegnete, konnte sie die Worte nicht hervorbringen. »Tristan«, flüsterte sie todtraurig. Er verzog den Mund zu einem halben Lächeln, und sie küsste ihn, denn sie konnte nicht anders.

Er presste sie enger an sich, und im Handumdrehen flammte erneut Leidenschaft zwischen ihnen auf. Sie schlang die Arme um seinen Hals und presste ihre Brüste an seine Brust, während sie sich nach ihm ausstreckte und ihm verzweifelt noch näher sein wollte. Er hob sie hoch, und sie schlang ihre Beine um seine Hüften. »Ich sollte dich töten«, murmelte er und unterbrach den Kuss kaum einen Moment, bevor er sie erneut küsste. »Meine Liebste …«

»Mein Liebster«, echote sie und sog an seinem Mund. »Ich liebe …«

»Tristan!« Silas kam offensichtlich außer Atem herein. »Beeilt Euch … Lebuin!«

»Siobhan!«, rief Seans Stimme, während er, von anderen gefolgt, mit schweren Schritten den Gang heraufkam. »Gütiger Himmel … Owen? Owen!« Dann liefen sie los.

Tristan schob Siobhan hinter sich, hielt ihr Handgelenk fest und wandte sich gerade in dem Moment der Tür zu, als Lebuin hereinplatzte.

»Siobhan!«, rief er, aber der Name erstarb auf seinen Lippen, und sein Kinn sank entsetzt herab. Sein Gesicht wurde bleich, und seine Augen weiteten sich.

»Hat Eure Schwester Euch nicht gesagt, dass ich kommen würde?«, fragte Tristan lächelnd, und die Angst des Briganten war genau das, was er sich immer gewünscht hatte. Er hielt Siobhan noch immer am Handgelenk fest, während er mit entblößten Reißzähnen angriffsbereit voranging.

Eine Feuerklinge durchdrang seine Haut so unerwartet, dass er keuchte. Als er hinabblickte, sah er für einen Moment eine Schwertspitze aus seiner Brust ragen, bevor sie wieder zurückgezogen wurde, und ein Schmerz wie derjenige, den er bei seinem Tod empfunden hatte, schien ihn zu zerreißen. Er wandte sich entsetzt um und sah Siobhan ihr Schwert halten. Tränen strömten ihr Gesicht herab, während sie erneut zustieß und auf seine Kehle zielte, als wollte sie ihn enthaupten. Er sprang zurück und schlug die Klinge beiseite, aber erst nachdem sie bereits seine Haut durchtrennt hatte, sodass Blut aus seiner Kehle drang. Er griff nach ihr und entwand ihr das Schwert, aber die Wunden, die sie geschlagen hatte, heilten nicht. Er wurde schwächer. »Nein!«, protestierte er und berührte ihre Wange, und ihre Lippen zitterten, als sie hinter sich griff und einen Holzpfahl hervorzog.

»Töte ihn!«, befahl Sean und eilte voran. Tristan wandte sich um und stieß ihn beiseite wie ein Kind. Dann sprang er mit einem an alle Übrigen gerichteten Schrei aufs Fenster zu und riss die Läden aus dem Rahmen.

»Tristan!«, schrie Siobhan und eilte in dem Moment vorwärts, als er sprang. Ihre Hände schlossen sich um leere Luft, während Silas sie von hinten packte. »Nein!« Der Vampir stürzte durch die Dunkelheit, und sein weißes Gewand wirkte geisterhaft, als es sich im Mondlicht kräuselte, bis er schließlich im Gestrüpp am Fuß der Schlucht aufschlug. »Oh, mein Gott …« Sie wandte sich um und riss sich von Silas los. Sean griff nach ihr, aber sie nahm das Schwert an sich, das noch immer rot von Tristans Blut war. »Bleib hier!« Sie drängte sich an ihm und seinen Leuten vorbei und lief zur Treppe.

»Mylady!«, rief Michael, als sie durch die Halle eilte. »Eine Nachricht …!« Aber sie hörte ihn kaum und lief hinaus.

»Tristan!« Halb glitt sie das steile, sandige Ufer hinab. Dies war der Ort ihrer ersten Tötung, der Ort, an dem sie ihr Schwert gefunden hatte. Aber sie konnte an nichts anderes denken, als Tristan zu finden. Es kümmerte sie nicht einmal, was sie tun würde, wenn sie ihn gefunden hätte, oder was er ihr höchstwahrscheinlich antun würde. »Tristan!« Einige der Dornenhecken waren niedergedrückt, und als sie unter dem Dickicht hindurchkroch, konnte sie Blut auf dem Boden spüren. Aber der Vampir war fort.

* * *

Tristan schwamm in Hundegestalt durch den Burggraben und kämpfte darum, den Kopf über Wasser zu halten. Die Knochen, die er sich bei seinem Sturz gebrochen hatte, waren sofort geheilt, aber die Wunden, die Siobhan ihm zugefügt hatte, bluteten und brannten immer noch. Er fühlte sich mit jedem Moment schwächer. Siobhan … wie hatte sie ihn jetzt verraten, sich von seinem Kuss abwenden und im nächsten Augenblick zu seiner Mörderin werden können? Der Gedanke ließ ihn sich noch schlechter fühlen, so schwach und elend, dass er kaum das Ufer erklimmen konnte, als er es schließlich erreichte. Er taumelte in den Schutz des Waldes und brach im Gebüsch zusammen. Warum heilten die Wunden nicht? Anscheinend hatte sich sogar die Hölle selbst gegen ihn gewandt.

Er verwandelte sich allein durch Willenskraft wieder in einen Menschen und zwang sich aufzustehen. Er pfiff nach Daimon und hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass das Pferd nicht entdeckt worden oder davongelaufen wäre, nachdem er es so lange allein gelassen hatte. Kurz darauf erschien ein großer, weißer Schatten zwischen den Bäumen, und er weinte fast vor Erleichterung. »Komm«, sagte er, und Daimon trat näher und wartete geduldig, während er in den Sattel kletterte, wobei er vor Schmerzen Sterne sah. »Guter Junge«, murmelte er und tätschelte dem Pferd den Hals. Er schlang die Zügel um seine Faust, ließ sich vornübersinken und vertraute darauf, dass Daimon seinen Weg in ihren Unterschlupf zurückfinden würde.

Als Orlando Hufschläge hörte, nahm er an, Simon sei zurückgekehrt. Er verließ den Unterschlupf, um ihm eine Standpauke zu halten, die die Vögel aus ihren Nestern treiben würde. Aber das Pferd war weiß, und der Reiter schien kaum aufrecht sitzen zu können. »Tristan!« Er eilte so schnell voran, wie ihn seine Beine tragen wollten, und erreichte das Pferd in dem Moment, als es stehen blieb. »Was, um alles in der Welt …?«

Tristan hatte den Eindruck, dass es ihm allmählich besser ging. Er schien nicht mehr zu bluten. Aber der brennende Schmerz war zu Kälte geworden, als erfröre er von innen heraus. »Seid gegrüßt, Zauberer«, murmelte er und fiel bewusstlos zu Boden.