7
Tristan stand am Waldrand, als sich die Dämmerung herabsenkte, und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er hatte erwartet, sein Schloss als zerstörte Ruine und die Dorfbewohner in alle Winde verstreut vorzufinden, so wie es war, als er ursprünglich hierherkam. Aber hätte er es nicht besser gewusst, hätte er geschworen, die Ereignisse von vor zwei Wochen wären niemals geschehen. Das Schloss war vollkommen unbeschädigt, und das einzige Zeichen eines ehemaligen Schadens war das frisch mit Stroh gedeckte Dach des Torhauses. Wachen patrouillierten auf den hohen Steinmauern – viele davon Leute, die ihm gedient hatten. Die Zugbrücke war hochgezogen, aber ein Junge watete am Rande des Burggrabens und fing mit einem kleinen Netz Fische oder Kaulquappen. Wo war Clare?, fragte er sich. War sie noch im Schloss?
Hinter ihm erklangen Hundegebell und donnernde Hufe – eine Jagdgesellschaft. Er verschmolz wieder mit den dichteren Schatten, während sie vorüberritten und der Anführer in sein Horn blies, um den Wachen auf den Mauern ein Zeichen zu geben. Die Hunde liefen schnüffelnd voran und nahmen vielleicht seinen Geruch auf. Er lächelte und beobachtete sie zähnefletschend. Nun hatte er einen Plan.
* * *
Die Sonne war untergegangen, als Silas das Gebäude für die Nacht gesichert hatte, und ihr letztes Licht verblasste über den Schlossmauern. Als er seine Pläne und die Geldschatulle aufnahm, hörte er, wie das Fallgitter geöffnet wurde. Er wandte sich um und sah eine Jagdgesellschaft über die Zugbrücke kommen, die aus einem halben Dutzend Männer bestand, die ihrem Erfolg lauthals Ausdruck verliehen. Nur zwei der Männer waren mit Sean Lebuin zum Schloss gekommen, wie er bemerkte. Die anderen waren vor einem Monat noch Soldaten Tristan DuMaines gewesen und hatten, zumindest in seinen Augen, einen zufriedenen Eindruck gemacht. Und nun gingen sie mit den Mördern ihres Herrn auf die Jagd. Er wandte sich seufzend ab und verdrängte den Gedanken. Er war ein Gelehrter, kein Adliger. Die Launen der Politik sollten ihn nicht kümmern.
Aber er merkte, dass sein Blick aus einem unbestimmten Grund von den Hunden angezogen wurde. Die meisten von ihnen trotteten mit von der Jagd des langen Tages heraushängenden Zungen hinter der Jagdgesellschaft her auf die Zwinger zu. Aber einer, eine große, goldfarbene Dogge, schien kaum erschöpft zu sein und folgte den anderen auch nicht. Während die Jäger abstiegen und die übrigen Hunde Aufmerksamkeit heischend um sie herumsprangen, ignorierte dieser sie, glitt furchtlos zwischen den Hufen hindurch und entschwand in die Schatten nahe der Mauer.
Ein Hund, dachte er und schüttelte erneut den Kopf. Jetzt mache ich mir schon Gedanken über einen Hund. Er klemmte sich die Schriftrollen unter einen Arm und folgte seinen Leuten in die Halle.
Als Silas den Hof verließ, erhob sich Tristan in der beschatteten Ecke der hohen Steinmauer zu seiner menschlichen Gestalt. Im Schloss käme er auf diese Weise leichter voran. Auf dem Hof herrschte vollkommen normale, emsige Geschäftigkeit, während sich der Haushalt auf die Nacht vorbereitete. Anscheinend hatte seine Abwesenheit nichts geändert, sodass er hier noch immer der Herr hätte sein können.
»Hallo!«, hörte er die Stimme einer Frau rufen und wich mit halb zur Faust geballter Hand an die Mauer zurück. Siobhan ging auf die Jagdgesellschaft zu. »Hattet Ihr Erfolg?«
»Ja, Mylady«, antwortete einer der Jäger – Donnell, sein Zwingermeister, wie Tristan mit schmerzlichem Zornesschauder erkannte. Hatten sie ihn alle verraten?
»Es ist erstaunlich, wie viel leichter man Wild finden kann, wenn man nicht selbst gejagt wird«, bestätigte ein anderer, einer von Lebuins Briganten, und lachte. Siobhan fiel in sein Lachen mit ein und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. »Wo ist Sean?«, fragte der Brigant sie nun.
»In seinem geliebten Turm.« Sie war wieder wie ein zerlumpter Knappe gekleidet und hatte ihr glänzendes, schwarzes Haar auf dem Rücken zu einem Zopf zusammengenommen. Aber ihre Haut schimmerte im trüben Licht der Fackeln wie helles Gold, und ihre großen, blauen Augen wirkten schwarz. Tristan konnte sich selbst jetzt noch daran erinnern, wie sich ihre Haut unter seinen Händen angefühlt und wie ihre Zunge in seinem Mund geschmeckt hatte.
»Komm, Liebes«, sagte der Brigant zu ihr und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Komm mit uns in die Halle.« Er führte sie auf das Gutshaus zu, und Tristan machte unbewusst einen Schritt nach vorn, bevor er innehielt. Nein, dachte er. Noch nicht. Er verschmolz erneut mit den Schatten und eilte zum Turm.
Er lief zwischen zwei Schutthaufen hindurch, die hinter der Schlosskapelle aufgeschichtet worden waren – heidnische Steinhaufen für die Verräter, die er hatte hinrichten lassen. Die Briganten hatten ihresgleichen geehrt, aber die Kapelle war noch immer eine halb verbrannte Ruine. Die Mauer des Schlosshofs war fertiggestellt, wie auch die zweite Zugbrücke, die zum Turmhügel führte – der fatale Makel, der ihm das Genick gebrochen hatte, war behoben. Sean wollte sich verteidigen. Aber was war mit Silas? Er hatte ihn kurz gesehen, als er mit den Hunden hereingekommen war, also lebte er noch, und der Fortschritt am Gebäude zeigte, dass er auch noch arbeitete. Aber unter welchem Zwang? Der Baumeister kannte die Wahrheit darüber, was hier geschehen war, und Tristan konnte nicht glauben, dass Lebuin seine Treue beeinflusst haben könnte. Silas war kein Krieger, aber er war ein Ehrenmann. Wenn Lebuin diese Ländereien wirklich als Herr führen wollte, könnte er Silas nicht lange am Leben lassen.
Glücklicherweise, dachte er, würde Lebuin bald selbst tot sein.
»Ihr da!« Ein Mann kam über die Brücke zum Turmhügel. »Wo wollt Ihr hin?«, wollte er wissen.
Tristan lächelte, denn er erkannte ihn. Es war der Hauptmann, der seinen Rittern die Köpfe abgeschlagen hatte. »Genau hierhin«, antwortete er und trat ins Licht.
In den Augen des Hauptmanns blitzte Wiedererkennen auf, und sein Gesicht wurde fahl. »Ihr …« Er wandte sich um, als wollte er fliehen, aber Tristan sprang vor und drückte ihn flach auf den Boden. »Hilfe!«, wollte der Brigant schreien, aber es war zu spät. Tristans Zähne rissen ihm sofort die Kehle auf und brachten ihn für immer zum Schweigen.
Tristan ließ die leere Hülle zu Boden fallen und richtete sich wieder auf. In den Turmfenstern über ihm flackerte Kerzenschein. Er leckte sich das letzte Blut von den Lippen, wartete und beobachtete die Wachen auf der anderen Seite der Zugbrücke. Sie waren entspannt und ließen einen Weinschlauch kreisen – ein bequemer Dienst. Die Posten auf der Schlossmauer mussten hingegen wachsam sein. Jeder Narr konnte erkennen, dass der Turm sicher war.
Tristan blickte in den felsigen Graben hinab, der zwischen ihm und dem Turmhügel lag. Ein Mensch hätte ihn ohne die Zugbrücke niemals überqueren können, nicht ohne durch Bogenschützen, die vom darüberliegenden Turm aus ihre Pfeile abschossen, zerfetzt zu werden. Aber ein Hund konnte es schaffen.
Er kauerte sich zusammen und veränderte seine Gestalt. Der steile Hang bröckelte unter seinen Pfoten, während er hinabkletterte, aber der Boden unten war fest, ebenso der Turmhügel. Es war eine natürliche Klippe, ein steiler Hang, der auf ihn und Silas unwirklich gewirkt hatte, als sie ihn gefunden hatten, so perfekt war er für ihre Zwecke geeignet. Er lief rasch um den Fuß der Klippe herum, tauchte ins Dornengestrüpp und kam an der anderen Seite wieder hervor. Jedermann, der ihn von oben beobachtete, würde denken, er jagte ein Kaninchen.
Aber als er die Rückseite des Turms erreichte, erhob er sich wieder in menschlicher Gestalt. Er blickte noch einmal aufwärts, um sicherzugehen, dass niemand ihn sah, und begann den Aufstieg.
* * *
Siobhan nahm den Weinschlauch, der an der Feuerstelle herumgereicht wurde, und trank einen großen Schluck, bevor sie ihn wieder weitergab. »Vorsicht, Mylady«, warnte Michael.
»Ja, meine Liebe, sei vorsichtig.« Sam, der Anführer der Jagdgesellschaft, lachte. Er war von Anfang an bei Sean gewesen und hatte vor Jahren auch schon ihrem Vater gedient. »Du willst doch nicht so betrunken werden, dass du dir den hübschen Hintern prellst.«
»Es wäre nicht das erste Mal«, erwiderte sie und stimmte in sein Lachen mit ein. Aber nur wenige in dem Kreis schienen gerne mit ihnen zusammen zu sein, wie sie bemerkte.
»Ja, aber nun liegen die Dinge anders«, protestierte ein anderer Mann und blickte zu den neueren Leuten, die einst DuMaine gedient hatten. »Du bist die Witwe DuMaines.« Das Mädchen auf seinem Schoß drückte einen Kuss auf seine Wange, und er wandte sich von der Diskussion ab und presste sie an sich.
»Und was ist das?«, höhnte Siobhan und errötete bei dieser Zurschaustellung wider Willen. In den Wäldern hätte es aus Angst, das Mädchen in Gefahr zu bringen, kein Mann gewagt, seine Mätresse mit an die Feuerstelle zu bringen. Aber jetzt waren sie vermutlich sicher.
»Lass meine Lady in Ruhe, du Milchgesicht«, befahl Sam und trank erneut. »Was geht es dich an, was sie tut? Nichts, richtig.«
»Genau«, sagte Siobhan und nahm den Schlauch wieder entgegen. Sie hatte Sam schon immer gemocht.
»Jetzt vielleicht nicht«, sagte Michael ruhig. »Aber wenn der Abgesandte des Königs kommt und hören will, was mit seinem Cousin geschehen ist, könnte es eine Menge bedeuten.« Sein Blick begegnete warnend ihrem Blick. »Für uns alle.«
»Allmächtiger!«, fluchte sie und sprang auf. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?« Wussten sie alle mehr über die Pläne ihres Bruders als sie selbst?, fragte sie sich. Sie schaute zu dem Bauernmädchen, das in ihrem Kleid so hübsch aussah, und ihr Magen rebellierte entsetzt. Sollte sie dazu werden, zu irgendeinem hübschen Spielzeug eines Adligen, und keine Brigantin mehr sein? Sie dachte erneut an Tristan, an sein bitteres, aber wunderschönes Lächeln, als er sie »kleine Ehefrau« genannt hatte. Aber Tristan war tot. Er hatte sie als Brigantin von niedriger Geburt verachtet, aber er hatte sie gewollt. Wäre das bei dem Baron genauso? »Ich kann es nicht«, sagte sie laut. Sie begegnete kurz Michaels Blick, als sie sich umwandte und aus der Halle floh.
Tristan stieg die in einer Bruchkante des Turms verborgene Eisenleiter zu der schmalen Fluchttür hinauf. Mit etwas Glück hatten die Briganten sie noch nicht entdeckt.
Als er hineinschlüpfte, fand er sich auf der schmalen Galerie oberhalb der Halle im ersten Stock wieder – die unbewacht war, wie er mit einem innerlichen Seufzer der Erleichterung erkannte. Lebuin wollte hier offensichtlich seine große Halle einrichten. Der Raum, der zu Tristans Zeit aus kaum mehr als kahlen Wänden bestanden hatte, war nun vollständig, wenn auch willkürlich mit Wandteppichen und aufgebockten Tischen eingerichtet. Aber er wirkte dennoch fast leer. Lebuin stand in der Nähe des Podests, während ein anderer Mann vor ihm auf einem Stuhl saß. »Hinaus«, befahl er, offensichtlich verärgert. »Hinaus, Gaston.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte der Fremde. »Wir müssen noch über vieles reden.«
»Wir müssen über nichts mehr reden«, erwiderte Lebuin grollend. »Hinaus.«
Der andere Mann zuckte mit den Achseln. »Wie Ihr wollt.« Er nahm einen Pokal vom Tisch und leerte ihn in einem Zug, bevor er die Halle verließ. Tristan lief an den Mauern entlang und wieder hinaus. Nun war seine Chance gekommen. Er öffnete das verborgene Paneel hinter sich, lief rasch die dahinterliegende, enge Wendeltreppe hinab und kam in einer hinter einem Wandbehang verborgenen Nische heraus. Silas und er hatten diesen Weg als Fluchtmöglichkeit für den Fall geplant, dass jemand im Turm gefangen wäre, aber er diente ebenso als Zugang zum Turm.
Lebuin saß mit dem Rücken zur Nische noch immer am Tisch. Er hielt den Kopf gesenkt, und seine Schultern bebten. »Gott, bitte vergib mir«, sagte er laut, gerade als Tristan hervortrat, wodurch dieser erstarrte. Aber der Brigant wandte sich nicht um. Er wollte anscheinend mit dem Allmächtigen sprechen, nicht mit dem Mann, den er kaltblütig ermordet hatte. »Ich bin ein Sünder«, fuhr er fort, während Tristan nähertrat, wobei seine weichen Stiefel auf dem kahlen Steinboden keinen Laut machten. »Nicht sie. Niemals sie. Mein Gott, du weißt, sie ist ein Kind.« Tristan hielt mit einer Hand auf seinem Schwertheft erneut inne. »Ich habe sie zu dem gemacht, was sie ist.« Die Stimme des Rebellenführers klang rau vor Tränen, denn er glaubte, er wäre allein. Dies konnte keine List sein. Aber warum sollte es Tristan kümmern, welche Gebete er sprach oder ob er überhaupt betete?
»Alles Böse, was sie getan hat, geschah auf meinen Befehl hin.« War er jetzt nicht ein Dämon?, dachte Tristan und umklammerte das Schwertheft noch fester. Warum sollte er Mitleid mit diesem Mann empfinden, den er töten wollte? »Lass sie nicht leiden, bitte, mein Gott«, flehte Sean und brach vollständig zusammen. »Bitte, Gott, lass mich ihr Sicherheit verschaffen.« Er senkte den Kopf auf die verschränkten Arme und weinte.
Tristan ließ das Schwert angewidert, aber schicksalsergeben los. Er konnte den betenden Mann nicht töten, nicht einmal aus Rache. Lebuin verdiente es nicht, mit einem Gebet auf den Lippen zu sterben. Er ragte kaum einen Schritt hinter ihm einen Moment lang über ihm auf. Falls er sich umwenden oder auch nur über die Schulter blicken sollte, würde er den Dämon sehen. Er würde aufschreien und zweifellos einen Fluch ausstoßen. Dann hätte Tristan ihn. Er würde ihn erschlagen.
Aber Sean blickte sich nicht um. Seine Tränen versiegten allmählich, als wäre er eingeschlafen. Tristan trat noch näher und streckte die Hand aus, um den mit Edelsteinen besetzten Dolch zu berühren, den Sean in einer Scheide an seinem Gürtel trug. Er zog ihn langsam heraus und wartete darauf, dass sich der Brigant regen würde, aber das tat er nicht. Er blickte auf das tödliche, aber wunderschöne Messer hinab, das vermutlich in Italien gefertigt worden war. Nur die reichsten und hochmütigsten Adligen würden eine solche Waffe tragen. Er fragte sich, wo Lebuin sie gestohlen hatte.
»Ich werde wieder zu dir kommen«, sagte er leise und steckte das Messer in seinen Gürtel. »Vielleicht noch vor der Dämmerung.« Der Brigant stöhnte, als träumte er schlecht, und Tristan lächelte. Das Verhängnis war nahe. Warum sollte er gut schlafen?
Er hörte vor der Tür Stimmen, die Stimmen der Männer, die in die Halle zurückkehrten. Er lächelte erneut bei dem Gedanken an das, was kommen würde, wandte sich um und eilte zur Treppe.
Siobhan betrat den Turm einige Zeit nach Mitternacht. Sie war stundenlang die Schlossmauer entlanggewandert, bis sich ihr Kopf fast wieder klar anfühlte. Aber ihr Herz war noch immer in Aufruhr. Sie musste allein sein. Zumindest würde sie in ihrem neuen Zimmer im Turm niemand stören.
In der unteren Halle war es still. Die Männer, die dort übernachteten, schliefen bereits. Sean selbst schlief an einem der Tische, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Sie wäre beinahe zu ihm gegangen und hätte ihn geweckt, aber nachdem sie einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte, blieb sie stehen. Was könnte sie sagen, um ihm begreiflich zu machen, wie sie sich fühlte? Sie verstand sich ja selbst nicht. Seit sie zwölf Jahre alt war, hatte sie geglaubt, sie wären bei ihrer Suche nach Freiheit für sich und ihre Leute Partner. Aber so war es nicht. Sean war der Ritter mit einer Aufgabe. Sie war nur eine Schachfigur.
Das Zimmer, das er für sie eingerichtet hatte, war bis auf das Mondlicht vor dem Fenster dunkel. Jemand hatte einen fleckigen Spiegel an die Wand gegenüber der Tür gelehnt, und sie betrachtete nun ihr trübes Spiegelbild. Dies war der Preis, der Seans Meinung nach das Herz des Barons gewinnen konnte? Sie hätte beinahe laut gelacht. Ihre Jacke war so abgetragen wie ein Lumpen, war am Hals ausgefranst und hatte einen eingerissenen Ärmel, und ihre Lederhose war so zerschlissen, dass sie weich wie Leinen war, so lange trug sie sie schon. Sie war selbst für einen Jungen eine Schande. Zwar war ihr Gesicht sauber, aber auf einer Wange war eine vertraute, blasse Quetschung vom Rückschnellen ihrer Bogensehne erkennbar.
Und sie hatte auch noch weitere Quetschungen. An ihrem Hals waren fünf deutliche, runde Abdrücke zu sehen, die durch den Griff ihres toten normannischen Ehemannes entstanden waren. Vier waren zu einem fahlen Gelbgrün verblasst, aber derjenige über ihrem Puls war noch immer fast schwarz. Er hätte mich töten können, dachte sie, während sie sie berührte, und erinnerte sich an den Zorn in seinen blaugrünen Augen. »Tristan DuMaine«, flüsterte sie, wobei kaum ein Laut hervordrang, als ihre Lippen seinen Namen formten. Der Ritter des Teufels, ihr Feind. Der Normanne, den sie ermordet hatten. Er hatte sie wunderschön genannt.
Sie löste ihren Zopf und ließ das Haar lose in Wogen um ihre Schultern wallen, sodass es im sanften Licht blauschwarz schimmerte. Wie Seide, hatte er gesagt, als er es berührte. Sie fuhr mit ihren Händen hindurch, genauso wie er es getan hatte, und ließ es durch ihre Finger gleiten. Er hatte verzweifelt entkommen wollen. Er hatte gewusst, dass sie ihn töten würden. Sie hatte ihn nie etwas anderes glauben lassen. Sie hatte ihn nur berührt, um ihn zu demütigen, um zu beweisen, dass sie eine Brigantin war wie die Übrigen.
Aber er war nicht geflohen, als er seine Fesseln gesprengt hatte. Er hatte sie festgehalten. Er hätte sie im Handumdrehen töten und entfliehen können, aber das hatte er nicht getan. Er hatte sie auf den Mund geküsst. Ihre Hand irrte nun zu ihren Lippen, während sie sich an seinen Geschmack und daran erinnerte, wie sich seine Zunge angefühlt hatte. Sie war unheimlich zornig gewesen und hatte solche Angst vor dem gehabt, was er vielleicht vorhatte. Aber sein Kuss war sanft gewesen, fast zärtlich, und er hatte sie an sich gezogen, als sie sich wehrte. Sie hatte niemals bezweifelt, dass er sie hasste, selbst als er sie in die Arme nahm. Er hatte nie etwas anderes behauptet, hatte nicht versucht, ihr zu schmeicheln oder sie dazu zu verlocken, ihm bei der Flucht zu helfen, sondern hatte sie an sich gepresst und geküsst. Er hatte sie wunderschön genannt und ihren Namen ausgesprochen wie ein Gebet. Sie ließ ihren wachen Geist zum ersten Mal seit jenem Moment in törichten Fantasien schwelgen, ließ etwas von dem Wahnsinn zu, der ihre Träume heimsuchte. Sie stellte sich vor, wie es sich vielleicht angefühlt hätte, wirklich seine Geliebte zu sein. Etwas durchströmte sie warm und süß und ließ sie sich wieder trunken fühlen. Sie dachte daran, welche Kraft, welche Stärke er gezeigt hatte, als er sie festhielt, sowie an seinen überheblichen Zorn. Wie wäre es, einen solchen Mann zu besitzen und zu wissen, dass er ihr gehörte?
Sie begegnete ihrem Blick im Spiegel und höhnte, war von ihrer Torheit angewidert. Sie war eine Kriegerin, keine Frau, was auch immer Sean denken mochte. Sie würde Tristan und seine Küsse vergessen. Sie würde nicht wieder heiraten. Sie war eine Soldatin, und Sean würde das akzeptieren müssen.
Eine jähe Bewegung im Spiegel ließ sie zusammenzucken, während ihre Hand instinktiv an ihr Schwert sank, obwohl sie wusste, dass es eine der Dienstbotinnen des Schlosses sein musste, die gekommen war, um sie zu Bett zu bringen, als wäre sie noch ein Kind. »Geht«, befahl sie und wandte sich der Tür zu. »Lasst mich in Frieden.«
»In Frieden?« Die Stimme erklang aus den Schatten am Fenster und ließ ihr Blut gefrieren. »Warum solltest du Frieden haben?« Eine Gestalt trat aus den Schatten hervor, ein Mann wie ein Berg, und die Stimme sprach spöttisch und vertraut weiter. »Mörder gehören in die Hölle.«
»Tristan?« Ihre Zunge fühlte sich in ihrem Mund trocken an. Sie konnte den Namen kaum formen. Schließlich trat er ins Licht, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. »Nein … du bist nicht hier.« Sie war noch immer trunken und sah Gespenster.
»Wo sollte ich sonst sein?« Sein Gesicht, das so zerschlagen und blutig gewesen war, als sie es zuletzt gesehen hatte, war wieder geheilt. Die Haut war blass, aber makellos. Die schmalen goldenen Strähnen in seinem dunkelbraunen Haar schimmerten im Mondlicht, und seine grünen Augen funkelten vor Groll. »Ist das hier nicht mein Schloss?« Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, das, grausam und süß zugleich, ihre Erinnerung aufstörte. »Bist du nicht meine Ehefrau?«
»Du bist tot.« Er hatte keine Waffe, wie sie erkennen konnte, aber dennoch zitterte sie. Er ragte über ihr auf, seine Schultern waren doppelt so breit wie ihre, und er konnte mit seiner Handfläche ihre Faust umfassen. Sie konnte sich selbst jetzt noch voller Entsetzen und Erschrecken an das seltsame Gefühl erinnern, das sie empfunden hatte, als sich seine Hand über ihrer schloss. »Sie haben dich fortgebracht, Bruce und Callum. Du warst dem Tode nah.«
»Bist du dir sicher?«, verspottete Tristan sie und trat näher heran. Dies war der Moment, von dem er im Fieber geträumt hatte, der Moment, in dem er Siobhan schließlich töten würde. Er hatte geplant, sie sein Gesicht sehen zu lassen und sie nur einen Moment zu ängstigen und zu quälen, bevor er ihr den Hals umdrehte oder sie ausbluten ließ. Auch wenn er ihren Bruder am Leben gelassen hatte, hatte es für ihn keinen Zweifel gegeben, dass er sie töten würde, sobald er sie sähe. Aber nun, wo er endlich hier war, genügte ein Moment einfach nicht. »Sind deine Freunde jemals zurückgekehrt?« Ihre großen, blauen Augen waren vor Angst geweitet, aber sie wandte den Blick nicht ab. Jede andere Frau, die mit dem Ehemann konfrontiert worden wäre, bei dessen Ermordung sie geholfen hatte, hätte den Anstand besessen zu schreien oder ohnmächtig zu werden, aber nicht dieses wunderschöne Ungetüm. Sie wurde vielleicht blass und zitterte, aber ihre Hand lag an ihrem Schwert. »Jene Männer, die du geschickt hast, um dein Verbrechen zu verschleiern – wo sind sie jetzt?« Sie zog mit scharfem, metallischem Laut und Trotz in den Augen ihr Schwert, und er lächelte. »Soll ich es dir sagen, Liebste?« Er trat einen weiteren Schritt näher. »Oder möchtest du es erraten?«
»Du hättest sie nicht töten können«, beharrte sie.
»Du würdest vielleicht staunen.« Sie wich zur Tür zurück. »Ich kann töten, wen auch immer ich will.« Sie würde jeden Moment davonlaufen, das wusste er. Seine kleine Kriegerin konnte spüren, dass sie unterlegen war.
»Du warst tot!«, schrie sie, und ihre plötzlich schrille Stimme verriet ihre Angst. »Ich habe dich gesehen.«
»Du hast gesehen, dass ich dem Tode nahe war.« Er sollte sie jetzt töten und es beenden. Aber irgendwie konnte er es nicht. »Du hättest dich versichern sollen, meine Liebe.« Er hob den Dolch an, den er aus dem Gürtel ihres Bruders gestohlen hatte. »Sean hätte sich versichern sollen.«
»Nein, ich habe ihn gerade gesehen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Aber das Messer gehörte Sean. Sie hatte ihn unten in der Halle gesehen, schlafend über dem Tisch zusammengesunken. Sie wäre fast zu ihm gegangen … eiskalte Angst durchströmte sie. Er hatte gewiss nur geschlafen. Sie sah Tristan in die Augen. »Du kannst ihn nicht getötet haben …«
»Kann ich nicht?« Er wollte, dass sie ihm sagte, was sie getan hatte, wollte sie erneut schwören hören, wie sehr sie ihn verachtete. Dann könnte er es beenden. Dann könnte er seine Rache nehmen. »Ich habe ihn noch nicht getötet, Siobhan«, sagte er und trat noch näher. »Aber ich schwöre dir, ich werde es tun.«
»Nein!«, schrie sie, und ihr Entsetzen wurde von Zorn hinweggespült. Sie griff ihn mit dem Schwert an, ein Streich, der ihm den Arm hätte von der Schulter trennen sollen. Aber er zuckte kaum zusammen. Er packte ihr Handgelenk, entwand ihr das Schwert, und sie hörte ein leises Zischen, als träfe Wasser auf Glut. Als sie hinabblickte, sah sie, dass der Ärmel seines Hemdes aufgerissen und dessen Ränder blutbefleckt waren. Aber die Haut unter dem Riss war heil. »Herr Jesus«, flüsterte sie der Ohnmacht nahe.
»Sei vorsichtig, Liebste«, neckte er sie, als die Anspannung ihres Arms in seinem Griff erschlaffte. »Vielleicht solltest du ihn lieber nicht anrufen.« Er hielt den Dolch an ihre Kehle und ließ die Spitze ihre Haut hinabgleiten, wie sie es in der Nacht getan hatte, in der sie verheiratet worden waren. »Blasphemie ist eine Todsünde. Aber warum sollte dich das kümmern?« Ihr Herz schlug rascher. Er konnte es hören. Endlich hatte sie wirklich Angst. »Was bedeutet dir ein Schwur?« Er ritzte ihre Haut mit dem Dolch, quälte sich mit ihrem Blut, und sie keuchte, ein lieblich weiblicher Laut. Aber er sah in ihren Augen ebenso viel Zorn wie Angst. Wenn er es zuließe, würde sie ihn sogar jetzt töten. »Du hast vor Gottes Altar geschworen, mich zu lieben und mir zu gehorchen, erinnerst du dich?«, spottete er. »Und du hast gelacht, als du es aussprachst, wohl wissend, dass es eine Lüge war.« Er trat einen Schritt näher, und sie wehrte sich erneut gegen seinen Griff, zerrte an seiner Faust, die er um ihr Handgelenk geschlossen hatte. »Oder hast du das vergessen, liebe Ehefrau?«
»Nein«, antwortete sie und zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie wusste nun, was er wollte. Er wollte, dass sie Angst hatte, wollte sie um Gnade betteln hören. Aber das würde sie nicht tun. »Ich habe es nicht vergessen.« Sie ließ ihren freien Arm sinken und atmete tief durch. Dann blickte sie in seine Augen. »Ich wollte, dass du fortgehst.«
»Du wolltest mich tot sehen«, sagte er und sah mit solchem Zorn finster auf sie hinab, dass sie fürchtete, sie könnte allein durch diesen Blick sterben. Wie kam es, dass er hier war? Das Grab wird mich nicht festhalten, hatte er bei ihrer Hochzeits-Scharade geschworen. Ich werde aus der Hölle zurückkehren. »Aber du bist ein Feigling, genau wie dein Bruder.«
»Warum bist du hergekommen?«, fragte sie, und ihre Stimme zitterte kaum vor Angst. »Warum konntest du nicht in Frankreich bleiben, wo du hingehörst, und unsere Leute in Ruhe lassen?«
»Eure Leute?«, lachte er höhnisch.
»Ja, Mylord«, erwiderte sie, und sein Hohn erleichterte es ihr, mutig zu sein. »Die Leute meines Vaters, ebenso in diesem Land geboren wie Sean und ich, in Freiheit geboren …«
»In Freiheit zu verhungern, meinst du«, erwiderte er und lachte erneut. Die kleine Närrin wollte ihre Sache selbst jetzt, wo sie dem Tod in die Augen sah, noch nicht aufgeben. »Wenn ich dich leben lasse, wenn ich dich in Ruhe lasse, wie du sagst, was dann? Was werden eure Leute diesen Winter sagen, nun da ihre Ernten vernichtet sind?«
»Du weißt nichts über dieses Land.« Er klingt wie Sean, dachte sie und musste vor überreiztem Wahnsinn fast lachen. Ein Sklave kann mit einem gefüllten Magen zufriedengestellt werden, hatte ihr Bruder gesagt, und sie hatte ihn dafür gehasst. »Du weißt nichts …«
»Und was weißt du, kleiner Unhold«, erwiderte er. »Wie man wie ein Mann kämpft und vögelt.« Sein Lächeln durchstieß sie wie ein Messer. »Was wird das euren Leuten nützen?«
»Genug«, fluchte sie und wurde zornesrot. »Ich werde dich vernichten.« Sie sprang auf ihn zu, griff nach der Hand, die Seans Dolch festhielt, und spürte, wie er die Klinge über ihre Wange zog. Aber er hatte ihren Angriff nicht erwartet. Sie hatte Schwung. Sie versenkte den Dolch unmittelbar über seinem Herzen wieder in seine Schulter. Seine Augen weiteten sich einen Moment, und dann lächelte er. »Gut gemacht.« Er riss den Dolch aus seinem Fleisch, während er sie noch immer am Handgelenk festhielt. Die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte, schloss sich zischend, während sie entsetzt hinsah. »Dieses Mal hast du wenigstens selbst versucht, mich zu töten.« Er drückte das Dolchheft in ihre freie Hand. »Willst du es noch einmal versuchen?«
Dieses Mal fügte sie ihm eine Wunde quer über die Kehle und seine Brustmuskeln hinab zu und zerriss dabei sein Hemd. Die Wunde öffnete sich wieder, aber es trat kein Blut aus. Einige wenige Tropfen wallten an den Rändern der Wunde auf, und dann war das Fleisch geheilt.
»Was bekümmert dich, Liebste?«, höhnte er. »Du wirkst, als hättest du einen Geist gesehen.«
»Dämon«, flüsterte sie und sah ihm in die Augen. »Du bist wirklich ein Dämon.« Sie ließ den Dolch fallen.
»Ja.« Sie wollte einen Schritt zurückweichen, aber er packte sie an den Schultern, während sich seine Miene verfinsterte. Nun war der Moment der Rache gekommen, dachte er. Sie hatte entsetzliche Angst. Ihr Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Er ließ die Handflächen ihre Arme hinaufgleiten, und sie erschauderte und war nun zu verängstigt, um sich seiner Berührung zu entziehen. Seine Hände umschlossen ihre zarte Kehle, und sie keuchte und biss sich auf die Lippen. Keine Horde Briganten konnte sie jetzt noch retten. Niemand würde sie auch nur schreien hören. »Hatte ich dir nicht versprochen, dass ich zurückkehren würde?« Sie schloss die Augen, und ihre Wimpern lagen schwarz auf ihren totenbleichen Wangen. Er konnte sie nun nehmen, genau wie er es sich erträumt hatte. Eine letzte schnelle Bewegung seines Handgelenks, und ihr Leben wäre für immer ausgelöscht. »Ich bin dein Ehemann.« Eine Träne glitt ihre zarte Wange hinab und schimmerte im Mondlicht. »Ist das nicht so?«, fragte er grob, gierte nach ihrer Stimme, danach, sie noch einmal sprechen zu hören.
»Ja.« Seine Berührung war beinahe sanft, eher eine Liebkosung als eine Bedrohung. Sie hatte Nacht für Nacht von diesem Moment geträumt, von der grausamen Lieblichkeit seiner Berührung, falls er irgendwie zurückkommen sollte. Sie hatte sich gesagt, dass es ein Albtraum sei und er beizeiten verblassen werde, aber sie hatte es niemals wirklich geglaubt. Kein Mann hatte sie jemals auf die Art berührt, wie Tristan es getan hatte. Kein Mann hatte es jemals gewagt. Aber nun wollte er sie nicht berühren, sondern töten. Seine Hände und seine Stimme waren kalt. »Du bist mein Ehemann«, sagte sie.
»Dann küss mich.« Sie öffnete jäh die Augen, und er lächelte sein bitteres Teufelslächeln. »Küss mich zum Abschied.«
Er verspottete sie und quälte sie vor ihrem Tod, so wie sie ihn verspottet hatte. Sie ließ ihre Hände über seine Schultern gleiten und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu erreichen. Er schien überrascht zu sein. Seine grünen Augen weiteten sich, und sie schloss die Augen und legte ihre Lippen auf seinen Mund. Erregung machte sich in ihrem Bauch breit, als seine Arme sie umschlossen, ein plötzliches, unsinniges Verlangen, das mächtiger war als die Angst. »Siobhan«, sagte er an ihrem Mund, die Stimme, die sie in ihren Träumen gehört hatte. Sie umklammerte wie benommen den rauen Stoff seines Gewandes, als er sie fester an sich presste und der Kuss heftiger wurde. Er lebt, dachte sie. Dies war kein Traum. Ihr Ehemann lebte. Sein Mund auf ihrem forderte unerbittliche Ergebenheit, und seine Zunge drängte nach vorn. Sie könnte sich gegen ihn wehren. Sie müsste sich gegen ihn wehren, aber sie wusste, dass er sie nicht loslassen würde. Sie entriss ihm ihren Mund, um ihm in die Augen zu sehen, und sah ein Aufblitzen von Dämonenfeuer im Grün brennen. Auch die Hölle selbst konnte ihn nicht fernhalten. Allein der Gedanke daran ließ sie schwach werden.
Er beugte sich herab und hob sie hoch, und die Trance war durchbrochen. »Nein!«, schrie sie auf, wand sich in seinem Griff und schlug wie eine Wahnsinnige um sich, um zu entkommen. »Hör auf damit!« Sie wollte ihn mit der Faust schlagen, und er warf sie sich über die Schulter wie einen Sack Getreide. »Lass mich los!«
»Willst du erneut nach Sean rufen?«, fragte er mit boshaftem Lachen. »Bitte, ruf ihn, damit er dich rettet.« Er warf sie auf die Bettstatt und drückte sie mit seinem ganzen Gewicht darauf nieder. »Schau ruhig zu, wie ich sein Herz herausreiße.« Sie schlug ihn hart und wand sich noch immer unter ihm, und er packte ihre Handgelenke und hielt sie fest. »Mein Brautgeschenk an meine Liebste.«
»Von wegen deine Liebste«, fluchte sie und bäumte sich auf. Er war zu stark, sie konnte ihm nicht entkommen. »Lass Sean in Ruhe!« Er bedeckte sie vollständig. Sie konnte sich kaum mehr regen. »Bitte, Tristan …« Das Bild, wie Sean in der Halle unten schlief, ließ ihr Tränen in die Augen steigen. Sie hatten gestritten. Er dachte wahrscheinlich, dass sie ihn hasste. Und nun würde sie ihn vielleicht nie wiedersehen. »Bitte, lass ihn in Ruhe.«
Tristan hatte sich herabgebeugt, um sie auf die Wange zu küssen, aber der plötzliche Wandel in ihrer Stimme ließ ihn erstarren. Sie flehte, sanft und süß, aber nicht für sich selbst. Lass ihn in Ruhe, bat sie. Selbst jetzt kümmerte sie niemand außer ihrem Bruder, dem Hurensohn, der ihn hatte ermorden lassen wollen. Eifersüchtiger Zorn durchströmte ihn wie nichts, was er jemals zuvor empfunden hatte.
»Ja, süße Liebste«, sagte er sanft, sein geöffneter Mund berührte ihre Haut. Sie drehte die Hüften, versuchte ihre Beine zu befreien, und sein bereits vor Verlangen pochender Penis drängte hart gegen ihren Oberschenkel. »Ich werde Sean in Ruhe lassen.« Er liebkoste ihre Kehle, und seine Zunge fand ihren Puls. »Alle Freunde, die er hat, werden sterben.« Er riss mit seinen Dämonenzähnen eine lange Wunde in ihr Fleisch, sodass sie vor Schmerz aufschrie.
»Nein«, flüsterte sie atemlos und hasste die Schwäche, die er, wie sie wusste, in ihrer Stimme hören würde, wenn sie die Worte laut ausspräche. »Tristan, halt …«
»Sag es ihm, Siobhan«, befahl er mit belegter, kehliger Stimme. »Sage ihm, dass ich ihm alles nehmen werde, was er liebt.« Sie konnte das Grollen in seiner Brust spüren, während er sprach, aber keinen Herzschlag. »Sage ihm, dass ich ihn holen werde, wenn alle seine Lieben verloren sind.« Seine Zunge fuhr über die Wunde, die er in ihre Kehle gerissen hatte, und ein seltsames Zittern durchströmte sie und ließ sie nach Atem ringen. »Sag Sean, dass du mir gehörst.«
Sie spürte, wie seine Zähne tiefer drangen, und sie schrie erneut vor Schmerz auf. Aber da war noch etwas, eher erschreckend als schmerzhaft. Sein Mund sog an ihrem Fleisch wie ein Säugling, sog ihr Blut seine Kehle hinab. Sie hörte ein Seufzen, das sie niemals hatte ausstoßen wollen, und ein süßes, hypnotisches Verlangen ergriff sie und ließ ihren Körper in der Umarmung des Dämons dahinschmelzen. Seine Hände strichen langsam ihre Arme hinab, die Handflächen fühlten sich hart und schwielig auf ihrer Haut an, aber sie konnte sich anscheinend nicht mehr gegen ihn wehren, konnte seine Liebkosung nur genießen.
»Tristan«, wiederholte sie, und sein Name drang wie ein weiteres flehendes Seufzen hervor. Er umfasste durch die Tunika hindurch ihre Brust. Es war die Berührung eines zärtlichen Geliebten, und sie biss die Zähne zusammen und wollte dem Verlangen, das sie empfand, verzweifelt widerstehen. Sie wollte seine Hand fortstoßen, aber es gelang ihr nicht. »Tristan …« Das bloße Wissen darum, dass sie es nicht konnte, ließ sie nachgeben und verleitete sie dazu, seine Hand stattdessen an sich zu drücken und ihre Finger mit seinen zu verschränken. Eines seiner Beine war nun zwischen ihren, als er über ihr kauerte, und sie wölbte sich dem harten Muskel seines Oberschenkels entgegen, bewegte sich instinktiv, und alle Vernunft war verschwunden. Er nährte sich noch immer an ihrer Kehle, ihr aus der Hölle zurückgekehrter Geliebter. Sie hörte ihn stöhnen, es war ein ebenso verzweifelter Laut wie ihr Seufzen, und er schlang einen Arm um ihre Hüfte und drückte sie an sich, während ihr Körper schwächer wurde. Die Muskeln versagten ihr den Dienst und wurden schlaff und schwer, und plötzlich fror sie. »Nein«, flüsterte sie und wand eine Hand in sein Haar, war aber zu schwach, um daran zu ziehen. Sie würde sterben. »Bitte … mein Liebster …«
Tristan spürte, wie sich ihr Herzschlag stark verlangsamte und sein Pochen zu einem sanften Flattern verblasste, das er durch ihr dünnes Gewand kaum noch spüren konnte. Er schmeckte Rache in ihrem Blut, süßer als seine Träume, aber da war noch mehr. Trunken vor Verlangen nach ihr, schmeckte er Sehnsucht in ihrem Blut, Sehnsucht nach ihm. Sie hatte um ihn geweint, wie er erkannte, als er aus ihrem Herzen trank. Sie hatte um ihn getrauert und von seinem Kuss geträumt. Er zog sich von ihrer Kehle zurück und blickte auf ihr Gesicht hinab, auf die Schönheit, die zu verachten er sich geschworen hatte, aber er konnte es nicht. Er war selbst jetzt von ihr verzaubert. Er beugte sich hinab und küsste ihre Lippen, eine ganz leichte Berührung, um ihren Atem genauso zu schmecken, wie er ihr Blut geschmeckt hatte. »Wer bist du?«, flüsterte er und zog mit seinem Handrücken die Wölbung ihrer Wange nach. »Was willst du, Siobhan?«
Dich, dachte sie und hätte es ihm auch gesagt, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Nur dich. Aber das war falsch. Sie hasste ihn und wollte ihn tot sehen. Er war ihr Feind, der der Aufgabe verschworen war, sie zu vernichten und ihre Leute zu versklaven. Er hatte geschworen, den Bruder zu töten, der sie liebte und der die einzige noch verbliebene Menschenseele war, die sie lieben konnte – und gerade eben hatte er auch sie töten wollen. Ihn zu begehren, war Verrat, gab all das preis, was ihr lieb war. Der Teufel hatte sie absichtlich verzaubert und ihr mit seinem grausamen Dämonenkuss den Verstand geraubt. Er würde ihr auch die Seele stehlen, bevor er ihr das Leben nahm. »Nein«, flüsterte sie erneut und zwang sich, die Augen zu öffnen. Sein Gesicht war wunderschön, als er sich über sie beugte, die List eines grausamen Teufels. Der Teufel sollte hässlich sein, dachte sie, sollte in Gestalt einer Bestie kommen und nicht als wunderschöner Ritter, den sie lieben konnte. »Lass mich los«, befahl sie mühsam. Er lächelte das Hohnlächeln des überheblichen Adligen. »Fort …« Er strich mit den Lippen über ihre Stirn. »Dämon … fort.«
»Schhh …« Der Tatsache, dass sie zu schwach war, um sich gegen ihn zu wehren, konnte sein Stolz nicht widerstehen. Er küsste ihre Kehle, die schreckliche Quetschung, die seine Zähne über der Ader hinterlassen hatten, die Male seines Griffes, wo er sie als Mensch festgehalten hatte. Sie gehörte ihm, und er würde sie nicht aufgeben, nicht einmal, um sie zu vernichten. Sie seufzte, als er ihr Kinn mit Küssen bedeckte, als ihr Körper sich ihm entgegenwölbte und die Entschlossenheit eines Eiferers verriet, und er lächelte. Aber in diesem Zustand würde er sie nicht nehmen, so sehr sie es auch verdiente. Er wollte sie stark spüren, sie sollte fähig sein, sich gegen ihn zu wehren, wenn er sie vollständig eroberte. »Ich werde zu dir zurückkommen, Liebste«, flüsterte er, sein Mund war nahe an ihrem Ohr. »Was sagtest du noch bei unserer Hochzeit in der Halle zu mir? Ich bin noch nicht fertig mit dir.« Sie wandte das Gesicht ab, als er ihren Mund küssen wollte, und hielt ihm stattdessen eine zarte Wange hin. Er küsste sie mit der Ehrerbietung eines Büßers, der einen Heiligen küsst, und hielt sie erneut fest, als sie sich wehrte. Dann ließ er sie los.
Als er rasch den schmalen Gang durchquerte, der zur Treppe führte, hörte er eine Stimme aus dem zweiten Raum hervordringen, das Weinen eines Kindes. Clare …
Er erwog einen Moment weiterzugehen, ohne stehen zu bleiben. Es wäre das Klügste gewesen, was er tun konnte, wenn er das hier heute Nacht nicht beenden und sie mit sich nehmen wollte. Aber sie war sein geliebtes Kind, und sie weinte. Er konnte sie nicht einfach im Stich lassen, auch wenn er ein Dämon war.
Er schlüpfte in ihr Zimmer, wobei sich der Türknauf mühelos drehen ließ. Emma war nirgends zu sehen. »Clare«, sagte er sanft und näherte sich dem hohen Bett.
»Papa?« Sie wandte sich ihm zu, als er sie erreichte, ihre Augen waren vor Hoffnung und Schreck geweitet. »Papa!« Sie warf sich in seine Arme.
»Schhh«, machte er und drückte sie an sich. »Ruhig, Liebes.« Tränen liefen auch seine Wangen hinab. »Bitte weine nicht.« Er küsste ihr seidiges goldfarbenes Haar und zwang sich, sie nicht so fest an sich zu drücken, dass er sie verletzen konnte. »Ich verspreche dir, alles ist gut.« Aber das war eine törichte Lüge – er war ein von Gott verfluchter Dämon. Wie konnte er für ein Kind sorgen?
»Ich wusste, dass du zurückkommen würdest«, sagte sie.
Er lächelte und schob sie von sich, um ihr ins Gesicht zu sehen. »Woher wusstest du es?«
»Du hast es versprochen.« Sie runzelte die Stirn. »Papa, du blutest!«
Er berührte seine Wange an der Stelle, auf die sie zeigte. Es waren blutige Tränen, die er vergoss. »Es ist nichts, Petite«, versprach er. Er zog sie wieder an sich, und ihr Federgewicht in seinen Armen tröstete ihn selbst. »Geht es dir gut?«, fragte er sie. »Kümmert sich deine Emma gut um dich?«
»Ja«, antwortete sie, nickte und schmiegte sich an ihn. »Sie und Siobhan.«
»Siobhan?«, wiederholte er überrascht. Als er sein Kind das letzte Mal gesehen hatte, hatte Siobhan ein Messer an ihre Kehle gehalten. »Lady Siobhan kümmert sich um dich?«
»Ja.« Sie hielt seine Männerhand zwischen ihren beiden kleinen Händen. »Sie hat mir versprochen, dass sie mir das Kämpfen beibringen will. Sie lässt die Hunde aus der Halle bringen, damit sie mich nicht ängstigen können.« Sie sah zu ihm hoch. »Sie sagte, sie hätte es dir versprochen.« Sie runzelte erneut die Stirn. »Ist sie wirklich deine Frau?«
»Ja.« Er hätte fast den einen Menschen getötet, der fähig schien, sein Kind zu beschützen. Er konnte für einen Moment kaum sprechen, wenn er nur daran dachte. Er erinnerte sich kaum an Siobhans Versprechen im Hof, so nahe war er dem Tod gewesen. Aber Siobhan hatte sich erinnert. Sie hatte ihr Wort gehalten. »Sie ist meine Frau – deine Stiefmutter.« Er fühlte sich bei diesen Worten verwirrt, und alle seine Rachepläne wurden bis ins Mark erschüttert. »Sie wird dir Sicherheit geben.« Er hörte einen Bewegung auf der Treppe. Sein Dämonengehör konnte Stimmen selbst aus dieser Entfernung wahrnehmen. Emma kam zurück. »Siobhan wird dich beschützen, bis ich nach Hause komme.«
»Nein«, protestierte Clare und klammerte sich an ihn. »Ich will mit dir gehen.«
»Noch nicht.« Er nahm ihr geliebtes Gesicht in seine Hände und lächelte. »Ich kann dich noch nicht mitnehmen, mein Liebes.« Tränen schimmerten erneut auf ihren Wangen und brachen ihm das Herz. »Aber ich bin bei dir. Das verspreche ich.« Er küsste sie auf die Stirn. »Ich werde wiederkommen.« Er drückte sie einen Moment an sich und wollte sie nicht mehr loslassen. Emma sprach mit einem Mann – sie wären bald zu nahe, um ihnen noch aus dem Weg zu gehen. Nur der Gedanke daran, dass Clare ihn bei einer Tötung beobachten könnte, bewegte ihn dazu, sie loszulassen. »Schlaf jetzt, Liebes.« Er deckte sie zu und verschwand in die Nacht.
Siobhan versuchte sich aufzusetzen. Ihr Körper war noch immer schwer und kalt. Sie drehte sich auf die Seite, sodass ein Bein über die Bettkante hing, und ihre Augen bemühten sich, die Dunkelheit zu durchdringen. Sie konnte auf der anderen Seite des Raumes ihr Spiegelbild sehen. Tristan war fort, ein ungebundener Dämon. »Steh auf«, murmelte sie und biss die Zähne zusammen. Die Wunde an ihrer Kehle brannte wie Feuer, und ihre Glieder schmerzten, als wäre es furchtbar kalt. »Steh auf, Siobhan.« Ihr Schwert lag dort auf dem Boden, wo sie es fallen gelassen hatte, und sie konzentrierte sich auf die Klinge, die im Mondlicht silbern schimmerte. Sie stürzte darauf zu, griff sich an die Kehle und fing sich gerade noch auf den Knien ab. Ihre Hand schloss sich fest um das Heft, und sie zog es auf sich zu. Sie fühlte sich schwindelig. Das Turmzimmer drehte sich um sie. Aber Tristan konnte überall sein. Sie musste ihn aufhalten, um Sean und die Übrigen zu retten. Sie stützte sich auf ihr Schwert und richtete sich taumelnd auf.