12
Simon kehrte unmittelbar vor der Dämmerung zurück und war darauf gefasst, dass Orlando auf ihn gewartet hatte und ihn dafür schelten würde. Als der Zauberer das nicht tat, wusste er, dass etwas nicht stimmte.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte er, als er den Unterschlupf betrat und Tristan auf dem Boden liegen sah.
»Jetzt taucht Ihr also auf«, erwiderte Orlando sarkastisch, blickte aber kaum auf, während er sein Gepäck durchsuchte. »Ich musste ihn an den Füßen hier hereinziehen. Wäre er nicht in so schlechter Verfassung gewesen, wäre ihm das gewiss höchst unangenehm gewesen.«
»Warum konnte er nicht allein laufen?« Simon kauerte sich neben die Bettstatt. Orlando hatte Tristan das Gewand abgestreift und seine Wunden versorgt, aber sie waren noch immer verfärbt und offen. Hätte Simon es nicht besser gewusst, hätte er geschworen, er wäre tot. »Was konnte das einem Vampir antun?«
»Meines Wissens nichts«, antwortete Orlando. Er drängte Simon beiseite und begann, die Wunde in Tristans Bauch zu nähen. »Ein Pfahl hätte ihn vernichtet. Eine Wunde von einer Klinge hätte heilen sollen.«
»Aber diese Wunden tun es nicht.« Nach über zehn Jahren der Gewissheit, nicht wirklich verletzt werden zu können, empfand Simon dies als recht beunruhigend.
»Tatsächlich sind sie im Heilen begriffen«, räumte Orlando ein. »Die Wunde an seiner Kehle war weitaus schlimmer, als ich sie zunächst untersuchte – offensichtlich hat jemand versucht, ihm den Kopf abzuschlagen.«
»Jemand, der wusste, was er war?«, fragte Simon. »Jemand, der wusste, wie man einen Vampir vernichtet?«
»Ich weiß es nicht, und Tristan hat nichts gesagt«, antwortete der Zauberer. »Er war gerade noch bei Bewusstsein, als er hierher zurückkam, aber er sprach nur noch sehr wenig.« Er vollendete die Naht und lehnte sich zurück. »Wir werden ihm weitere Fragen stellen, wenn er aufwacht.«
»Wenn er aufwacht«, bemerkte Simon mürrisch.
»Verhaltet Euch nicht wie ein Ire«, schalt sein kleiner Gefährte mit schwachem Lächeln. »Er wird aufwachen. Bei Einbruch der Nacht wird er wiederhergestellt sein.« Er strich sich über seinen Bart und runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber ich frage mich, wie er verletzt worden ist.«
»Ja«, stimmte Simon ihm mit eigenem sardonischem Lächeln zu. »Ich auch.« Er warf Orlando den Sack mit Essen zu, den er ihm mitgebracht hatte, und schloss und verriegelte dann die Tür.
»Wo wart Ihr also?«, fragte der Zauberer. »Hattet Ihr Schwierigkeiten, einen Boten zu finden?«
»Überhaupt nicht«, antwortete Simon und setzte sich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden. »Ich fand einen reisenden Musikanten, sobald ich zur Hauptstraße gelangte. Er hatte es recht eilig, diese Gegend zu verlassen, und der Gedanke, einem Herzog und seiner Herzogin in Charmot zu dienen, passte ihm recht gut.«
»Warum hatte er es denn so eilig?«, fragte Orlando und vermutete den Kern der Sache sofort.
»Er hatte einen Tag und eine Nacht ungefähr zwei Tagesritte von hier beim Baron von Callard verbracht«, antwortete Simon. »Und anscheinend gefiel ihm der Empfang dort nicht.«
»Der Baron ist kein Musikliebhaber?«, fragte Orlando mit hochgezogener Augenbraue.
»Ich habe ihm dieselbe Frage gestellt.« Die Sonne ging auf. Er konnte spüren, wie das Bedürfnis nach Ruhe einsetzte, das stets mit dem Tageslicht bei ihm aufkam. »Er sagte, der Baron habe ihn recht gut bezahlt und ihn gebeten zu bleiben. Aber andere Angelegenheiten in seinem Hause waren zu … welches Wort gebrauchte er noch? Ungeklärt.«
Orlando öffnete den Krug mit Met, den Simon mitgebracht hatte, und schnupperte lächelnd daran. »Tatsächlich?«
»Ich versuchte ihn dazu zu bringen, mir mehr zu erzählen, aber das wollte er nicht. Also habe ich meine eigenen Untersuchungen angestellt.« Tristan murmelte im Schlaf etwas – ein gutes Zeichen, wie Simon vermutete.
»Ihr habt den Baron aufgesucht?«, fragte Orlando überrascht.
»Das brauchte ich nicht«, antwortete Simon. »Wenn die Anzahl geflohener Bauern, die mir auf der Straße begegneten, ein Hinweis sind, werden seine Ländereien verwaist sein, bevor der Monat um ist. Sie sagen, eine seltsame Seuche hätte den Baron und seinen Haushalt heimgesucht – eine Krankheit, die das Blut in den Adern eines Menschen vertrocknen lässt.«
»Und was lässt sie das glauben?«, fragte Orlando.
»Die Tatsache, dass alle, die daran sterben, ohne jegliches Blut in den Adern aufgefunden werden«, antwortete Simon. »Ich habe mit einer alten Frau gesprochen, die Köchin im Haus des Barons gewesen ist. Sie war so verängstigt, dass sie kaum ein Wort herausbrachte.«
Orlando schluckte einen großen Bissen Brot hinunter. »Aber Ihr habt sie dazu gebracht.«
Simon lächelte. »Ein wenig. Sie sagte, es sei keine Krankheit gewesen, die Callards Leute getötet hätte, sondern eine große Schlange.« Orlando hörte auf zu kauen und nickte. »Sie sagte, sie hätte die Male gesehen – zwei runde Einschnitte in der Kehle.«
»Ein Vampir«, sagte Orlando. »Könnte sich Tristan so weit vorgewagt haben?«
»Das könnte er, aber ich bezweifle, dass er es getan hat«, sagte Simon. »Sein Ziel befindet sich hier, erinnerst du dich? Außerdem …« Alle Anzeichen guter Stimmung wichen aus seinem Gesicht. »Einige der Tötungen geschahen bei Tageslicht.«
Das Gesicht des Zauberers wurde kreidebleich. »Seid Ihr Euch sicher?«
»Nur allzu sicher.« Er hatte sich an die Wand zurückgelehnt, aber nun setzte er sich wieder auf und bemühte sich, wach zu bleiben, bis seine Geschichte erzählt war. »Mehrere der Leute, die ich befragt habe, sprachen von Männern, die entführt wurden, während sie auf den Feldern arbeiteten oder im Wald jagten, und die morgens lebendig und am Abend tot waren.«
Orlando legte sein Brot beiseite, denn er hatte keinen Hunger mehr. »Lucan Kivar.«
»Wir wissen, dass er Tristan gefolgt ist.« Kivar hatte die Nacht, in der er Simon zu einem Vampir gemacht hatte, überlebt, indem er die Körper Toter übernahm, sodass es ihm mehr oder weniger freistand, bei Tage oder bei Nacht zu wandern. Aber er musste sich offensichtlich noch immer vom Blut Lebender nähren, um die Illusion aufrechtzuerhalten. Simon hatte ihn mit einem verwunschenen Pfahl, den er in den Katakomben unter Schloss Charmot, dem Heim von Simons Liebster Isabel, gefunden hatte, aus seiner letzten sterblichen Gestalt vertrieben. Aber sein Geist war entkommen. »Vielleicht ist er geflohen, als wir Tristan fanden.«
»Er hat keinen Grund, uns zu fürchten«, sagte Orlando frei heraus. Er erhob sich und überprüfte das Türschloss, als fürchtete er, etwas Übles könne jeden Moment einbrechen. »Wenn Kivar diesen Baron von Callard bedrängt, hat er einen Grund dafür.« Er blickte mit besorgter Miene auf Tristan hinab. »Ich fürchte, wir werden es nur allzu bald erfahren.«
Siobhan und ein Trupp Wachsoldaten der Briganten hatten bis zum Tagesanbruch jeden Zentimeter des Burggrabens um den Turmhügel abgesucht, und weitere Trupps hatten das Schloss durchsucht. Aber Tristan war nirgendwo zu finden.
Siobhan kehrte erschöpft und schmutzig in den Turm zurück, und ihre Kleidung war von Gestrüpp zerrissen und schmutzverkrustet. Nur Sean befand sich in der Halle, saß auf dem Podest und starrte wie in Trance ins Nichts. »Hast du den Leichnam gefunden?«, fragte er und wandte sich ihr zu, als sie hereinkam.
»Nein.« Sie nahm den Becher entgegen, den Cilla ihr anbot, und trank.
»Wie ist das möglich?« Ihr Bruder klang, als ob jeder Funke Leben aus ihm gewichen und nur eine leere Hülle zurückgeblieben wäre. »Du hast ihn stürzen sehen. Niemand könnte einen Sturz aus solcher Höhe überleben.« Seine Miene wurde zornig. »Jemand hat den Leichnam versteckt …«
»Sean, halt«, unterbrach sie ihn. »Niemand hätte ihn vor mir erreichen können, selbst wenn jemand zugesehen hätte. Es gab keinen Leichnam.« Ich habe es dir gesagt!, wollte sie ihn anschreien. Und sie hätte es vielleicht auch getan, wenn sie nicht so müde gewesen wäre.
Stattdessen trat sie zu ihm, legte einen Arm um seine Schultern und küsste ihn auf die Stirn. Er lehnte seinen Kopf für einen Moment an ihren und drückte sie an sich, während er wiederholte: »Wie ist das möglich?«
»Warte hier«, sagte sie und löste sich von ihm. »Ich werde es dir zeigen.« Silas war ebenso wenig zu sehen wie Gaston, wie sie plötzlich bemerkte. »Ich habe oben ein Buch.«
»Ein Buch?«, echote er mit einem Lachen, das leicht wahnsinnig klang.
»Warte einfach.«
Ihr Zimmer im oberen Stockwerk war unverändert, seit sie es verlassen hatte. Der Fensterladen, den Tristan aufgerissen hatte, hing mit dem oberen Scharnier lose an einem Nagel. Tristans Blut befleckte den Teppich an der Stelle, wo sie ihn mit ihrem Schwert durchbohrt hatte. »Verzeih mir«, flüsterte sie und wandte den Blick gewaltsam ab. Das Buch lag noch immer auf dem Tisch, und die Seite mit der Geschichte des Vampirs war nach wie vor aufgeschlagen.
Seans Latein war nur wenig besser als ihr eigenes, aber er las die Geschichte rasch und riss die Augen vor Entsetzen immer weiter auf. »Siehst du?«, sagte sie, als er anscheinend zu Ende gelesen hatte. »Tristan ist ein Vampir.«
Er schaute zu ihr hoch. »Hast du ihn heraufbeschworen?«. fragte er sie. »Hast du ihn aus dem Grab gerufen?«
»Ob ich ihn gerufen habe … bist du verrückt?« Alles stand auf den Seiten beschrieben: die Beschaffenheit des Dämons, der sein Feind geworden war, die einzige Möglichkeit, ihn zu vernichten – und alles, was ihr Dummkopf von Bruder sah, war, dass eine Frau ihn heraufbeschworen haben sollte. »Nein, Sean, ich habe Tristan nicht aus dem Grab heraufbeschworen.« Sie erschauderte jäh bei der Erinnerung. »Es sei denn, es geschah bei unserer Hochzeit. Er schwor, er würde zurückkehren, um mich zu bestrafen, erinnerst du dich? Sogar aus der Hölle selbst.«
»Ja, ich erinnere mich«, sagte Sean und erhob sich. »Ich hätte ihn geknebelt, aber nein, du musstest ihn quälen.«
Die Ungerechtigkeit dieser Beschuldigung war beinahe mehr, als sie ertragen konnte. »Ja, Bruder, ich wollte ihn quälen. Doch du wolltest zuerst, dass ich ihn heirate.«
Aller geballte Zorn wich augenblicklich von ihm. »Ja«, räumte er mit bitterem Lächeln ein. »Das wollte ich.«
»Es geht nicht darum, wie er zu diesem Vampir geworden ist«, fuhr sie geduldig fort. »Es geht darum, wie wir uns gegen ihn verteidigen können.«
Er schaute zu ihr hoch, und eine merkwürdige Form von Bewunderung erschien in seinen Augen. »Du wolltest ihn töten«, sagte er ungläubig. »Gestern Abend im Turm … du hast versucht, ihm den Kopf abzuschlagen.«
»Ja.« Der Gedanke ließ sie sich selbst jetzt noch elend fühlen. Aber welche Wahl hatte sie gehabt? Welche Wahl würde sie haben, wenn er zurückkehrte?
»Verzeih mir«, sagte Sean und griff nach ihrer Hand. »Ich dachte … du kannst dir nicht vorstellen, was ich dachte.«
»Ich muss es mir nicht vorstellen«, erwiderte sie knapp. »Ich weiß es.« Und es ist wahr, dachte sie, sagte es aber nicht. Ich liebe ihn. Wärst du nicht hereingekommen, hätte ich es ihm gesagt. Ihr Bruder küsste ihre Hand, und sie lächelte, während ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie hatte jahrelang für Seans Anerkennung gelebt, aber nun bedeutete sie ihr überhaupt nichts mehr.
»Sean.« Michael kam herein und wirkte genauso erschöpft, wie sie sich fühlte. »Es stimmt – die Nachricht der Wachen war korrekt. Unsere Kundschafter haben sie bestätigt.«
»Nachricht?«, fragte sie verwirrt.
»Von unseren Wachen auf der Straße traf eine Nachricht ein, gerade als dein Mann fliegen lernte«, erklärte Sean mit einer Spur seines alten Humors. »Der Gesandte des Königs und sein Gefolge sind nur noch weniger als einen Tag entfernt. Der Baron von Callard ist bei ihnen.«
»Callard hat uns hintergangen?«, fragte sie. »Wo ist Gaston?«
»Gaston befindet sich in seinen Räumen«, antwortete er. »Und nein, wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass der Baron uns hintergangen hat. Vielleicht hat er den Gesandten des Königs unterwegs getroffen.«
»Tristan hat keinen neuen Brief vom König bekommen«, erklärte sie, während ihre Gedanken trotz ihres Zustands rasten. »Warum sollte er einfach jemanden schicken …?«
»Das ist nicht so schwer zu erraten«, sagte Sean. »DuMaine war – ist – der Cousin des Königs. Vielleicht wollte er, dass jemand, dem er vertraute, seine neue Frau selbst sähe.«
»Vielleicht.« Sean wollte glauben, dass sein Plan noch immer funktionieren könnte, dass noch immer alles gut würde. Wenn er befürchtete, dass sein großer Verbündeter, der Baron, ihn im Stich gelassen hätte, könnte er vollkommen verzweifeln, und wo wäre sie dann? »Was glauben die Kundschafter, wann wird die Gesellschaft hier eintreffen?«, fragte sie Michael.
»Spätestens bei Einbruch der Nacht«, antwortete Michael. »Vielleicht auch schon am Mittag.«
»Wunderbar«, grollte sie. So viel dazu, dass irgendwem hier eine Verschnaufpause gewährt würde. »Also gut.« Sie nahm all ihre Kraft und ihren Verstand zusammen und weigerte sich, auch nur einen Moment bei den Konsequenzen zu verweilen, die es nach sich zöge, wenn ihre Pläne scheiterten. »Michael, wo ist Emma?«
»Mit Lady Clare im Gutshaus«, sagte er offensichtlich verwirrt.
Clare, dachte sie, und ihre Entschlossenheit drohte zu bröckeln. Armes Kind … was sollte aus ihr werden? Sie hatte gesagt, sie habe ihren Vater gesehen. Wusste sie nicht, was er war? Nicht jetzt, schalt sie sich. Du darfst jetzt nicht innehalten und darüber nachdenken. »Bittet sie, in mein Zimmer zu kommen und mir zu helfen«, sagte sie laut. »Und auch Cilla. Ich werde ein Bad nehmen, und jemand wird etwas mit meinem Haar tun müssen. Dieses Gewand, das ich zu meiner Hochzeit getragen habe, ist grässlich. Ich werde etwas anderes finden müssen.« Was für eine Verdrehtheit hat dich veranlasst, dieses Gewand zu tragen?, verspottete Tristans Stimme sie aus ihrer Erinnerung.
»Was hast du gerade gesagt?«, fragte Sean.
»Ich soll den Baron bezaubern, oder?« Er wirkte so überrascht und erfreut, dass sie ihn beinahe ausgelacht hätte. »Ich glaube kaum, dass ich das in dieser Kleidung tun kann.«
»Aber was ist mit DuMaine?«, fragte Michael, begegnete ihrem Blick und war offensichtlich ebenso im Zweifel wie sie.
»Tristan ist nie bei Tageslicht aufgetaucht«, antwortete sie. »Vielleicht kann er es nicht.« Sie atmete ein weiteres Mal tief durch und betete lautlos um Kraft. Bitte, Gott, bring mich einfach durch diesen und den nächsten Augenblick. »Wir können im Moment jedenfalls nichts tun.«
»Wir werden uns um ihn kümmern«, versprach Sean und umarmte sie.
»Ja«, antwortete sie und zwang sich zu einem Lächeln. Ihr Bruder meinte es gut. Er verdiente ihre Loyalität genauso, wie er sie schon ihr ganzes Leben lang verdient hatte. Warum wollte sie ihm dann verzweifelt ins Gesicht schlagen? »Wir werden uns um ihn kümmern.« Sie zog sich zurück, sah zu ihm hoch und zwang sich, ihn so zu sehen, wie sie ihn immer gesehen hatte, als den Helden, der jeden Feind bezwingen konnte und sie immer beschützen würde. Es war schwer, aber nicht unmöglich, und ihr Lächeln wurde aufrichtiger. »Das haben wir auch früher schon getan.«
Siobhan betrachtete erneut ihr Spiegelbild. »Ihr seht wunderschön aus, Mylady«, sagte Emma, die hinter ihr stand.
»Wirklich?« In Wahrheit konnte sie kaum glauben, dass die Frau vor ihr wirklich sie selbst war. Ihr dichtes, schwarzes Haar war vollkommen glatt gekämmt, zur angemessenen Frisur einer verheirateten Frau zurückgenommen und mit einem goldenen Diadem über einem hauchdünnen Schleier aus feinstem Leinen gekrönt worden. Über einem weißen, seidenen Unterkleid, dessen zarte Spitze aus dem Leibchen hervorsah, trug sie ein Gewand aus blauem Brokat von der Farbe ihrer Augen, und die Spitze an den Ärmeln war so lang, dass sie gewiss darüber stolpern würde, wenn sie die Treppe hinunterging. An den Füßen trug sie zarte, kleine Schuhe, die sich sicherlich auflösen würden, wenn sie in eine Pfütze träte. Ihre Haut war so weiß geschrubbt wie Marmor, aber ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet, und ihre Augen strahlten. »Es stimmt«, entschied sie. Aber sie war nicht sie selbst.
»Ihr seht wie eine Prinzessin aus«, sagte Clare, die vom Bett aus zusah. Der Teppich mit den Blutflecken ihres Vaters war hinausgebracht und fortgeworfen worden, bevor sie das Zimmer betreten durfte, und sie schien nichts von dem zu wissen, was in der Nacht zuvor geschehen war. »Mein Papa wird sich freuen.«
Siobhan wandte sich um und sah sie an, aber bevor sie antworten konnte, öffnete sich die Tür und Silas trat ein. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er sie sah. »Du meine Güte«, sagte er, presste eine Hand auf die Brust und lächelte einen Moment, obwohl die Sorge niemals aus seinen Augen wich.
»Euer Herz ist bei mir sicher«, versprach sie und erwiderte sein Lächeln. »Danke, dass Ihr gekommen seid, Meister Silas.«
»Ich war mir nicht bewusst, dass ich eine Wahl hatte.« Er schaute zu Emma und blinzelte, und das Kindermädchen lachte nervös, bevor sie den Blick abwandte. »Euer Bruder sagte, es sei dringend.«
»Recht dringend, fürchte ich.« Sie trat zu Clare und streichelte deren zarte Wange, womit sie das traurige, schwache Lächeln heraufbeschwor, das das Äußerste war, worauf sie bei ihr hoffen konnte. »Würdest du bitte mit Emma gehen? Ich muss allein mit dem Meister sprechen.«
»Ja.« Sie kniete sich aufs Bett und breitete die Arme aus, und Siobhan umschlang sie und vergrub ihr Gesicht für einen Moment in dem goldenen Haar. »Ihr braucht Euch nicht so viele Sorgen zu machen, Mylady«, sagte Clare leise, sodass nur sie es hören konnte. »Papa wird bald hier sein.«
Siobhans Herz raste in ihrer Brust, aber sie lächelte, als sie die Kleine losließ, und sagte: »Daran zweifle ich nicht.«
»Ich muss sagen, es ist schwer vorstellbar«, bemerkte Silas, als Emma und das Kind fort waren. Siobhan zog eine Augenbraue hoch. »Dass sie Euch so mag, Mylady«, erklärte er. »Und Ihr sie.«
»Jedermann muss Lady Clare mögen«, antwortete sie schlicht. »Sie ist ein wunderschönes, gutmütiges kleines Mädchen.« Sie hörte bewusst auf, die Hände zu ringen, und trat zum Fenster. »Warum sie mich mag, weiß ich allerdings nicht.«
»Weil Ihr sie mögt.« Er blätterte das Buch durch, das noch immer geöffnet auf dem Tisch lag. »Ihr Vater war auch nicht der fröhlichste Mensch, falls Ihr Euch erinnert, aber sie liebte ihn sehr.«
»Liebt ihn, Silas«, korrigierte sie ihn und wandte sich wieder zu ihm um. »Sie liebt ihn sehr.«
Er lächelte, aber seine Augen wirkten skeptisch. »Ja«, stimmte er ihr zu. »Tristan lebt noch.« Er sah sie erneut von oben bis unten an, als könnte er seinen Augen nicht recht trauen. »Was nicht Euer Verdienst ist.«
»Ich wollte ihn töten«, räumte sie ein. »Ich dachte … bei Gott, Silas, ich weiß nicht mehr, was ich denke, oder auch nur, was ich fühle.«
Bevor er antworten oder sie die Nerven verlieren konnte, erzählte sie ihm in allen Einzelheiten von Tristans Rückkehr. Sie musste jemandem vertrauen. Sie war nicht klug genug, um das Chaos, zu dem ihr Leben geworden war, allein zu bewältigen. Sean würde sie niemals verstehen – das hatte er bereits bewiesen. Emma war lieb, aber sie war ein argloses Dienstmädchen mit noch weniger Erfahrung in solchen Angelegenheiten, als Siobhan selbst sie besaß. Michael hätte alles in seiner Macht Stehende getan, um ihr zu helfen, aber seine wahre Loyalität würde stets Sean gelten, und das konnte sie ihm kaum vorwerfen. Hätte sie nicht den Verstand verloren, gälte das für sie genauso. Silas, weise, freundlich und edel, war ihre einzige Hoffnung. »Es war Euer Buch, durch das ich herausfand, was Tristan ist«, schloss sie. »Es berichtet von einem Dämon, der ein Vampir genannt wird …«
»Es berichtet auch über Drachen in Schottland«, erinnerte er sie sanft.
»Und wenn Tristan mir mit Feueratem begegnete, würde ich auch glauben, dass er einer wäre«, konterte sie und erwiderte sein Lächeln. Es einfach nur ausgesprochen zu haben, war, als wäre ihr eine Last von der Brust genommen worden. »Aber das ist er nicht. Er ist ein Vampir.«
Er stand so lange einfach nur da und sah sie an, dass sie sich allmählich töricht fühlte. Dann nickte er. »Ja«, sagte er mit mattem Seufzen. »Ich glaube, das ist er.« Er bot ihr seine Hand an, und sie nahm sie, und der schlichte Trost dieser Geste trieb ihr die Tränen in die Augen. »Letzte Nacht wolltet Ihr ihn töten«, sagte er und strich ihr das Haar aus dem Gesicht, während sein Blick den ihren suchte. »Was wollt Ihr jetzt tun?«
»Ich weiß es nicht«, gab sie zu. Sie konnte das Schwert spüren, das unter ihrem Gewand an ihr Bein gebunden war und das sie so leicht erreichen konnte, aber der Gedanke daran, es erneut zu benutzen, ließ sie sich elend fühlen. »Alles hängt von diesem Mann ab, den der König gesandt hat, und von diesem Baron Seans, und vor allem … vor allem von Tristan selbst.« Sie drückte seine Hand, bevor sie sie losließ. »Er hat letzte Nacht genau hier in diesem Raum versucht, Sean zu töten, und hielt dabei meine Hand, genau wie Ihr es jetzt tut, als müsste ich es zulassen.« Sie wandte sich von ihm ab und schritt auf und ab, wobei ihr die Röcke um die Beine wogten. Wie konnte sich irgendjemand in solch einem Aufzug bewegen?, dachte sie. »Aber das kann ich nicht, Silas.«
»Natürlich könnt Ihr es nicht.« Sie wandte sich ihm wieder zu, und er umfasste sanft ihren Arm. »Als mich Euer Bruder zu Euch schickte, dachte ich, Ihr wolltet mich zum Tode verurteilen«, sagte er. »Da der Abgesandte des Königs kommt und ich die Wahrheit über Tristans Tod kenne, schien es nur logisch.«
»Sean dachte dasselbe«, räumte sie ein. »Ich habe ihn überzeugt, mich mit Euch sprechen zu lassen, um entscheiden zu können, was das Beste wäre.« Allein der Gedanke daran war schrecklich, das war ihr klar. »Er ist kein schlechter Mensch, Silas. Ihr müsst verstehen …«
»Ich verstehe ja, Mylady«, unterbrach er sie sanft.
»Aber ich schwöre, ich werde nicht zulassen, dass er Euch ein Leid antut«, schloss sie. »Ich fürchte, ich bin keine gute Brigantin mehr, Silas. Ich wünsche niemandem mehr Böses.«
»Möge das für immer so bleiben«, erwiderte er lächelnd. »Inzwischen werde ich Euch dasselbe Versprechen geben.« Er hob ihre Hand an seine Lippen. »Ich werde Euch auch kein Leid zufügen. Was auch immer Ihr entscheidet, was auch immer Ihr diesen Männern sagt, die kommen, ich werde nicht mit Euch streiten.« Er nahm ihre Hände in seine und betrachtete sie erneut von oben bis unten. »Nun lasst mich Euch die Umgangsformen beibringen, die zu Eurem Gewand passen.«
Als Tristan in der Dunkelheit des Unterschlupfs erwachte, fühlte er sich wieder mehr wie er selbst. Er setzte sich mühsam auf und bekämpfte die übliche Benommenheit, die er bei Tageslicht empfand. Er spürte keine wirkliche Qual, nur die Art allgemeinen Schmerz, an den er sich von den Morgen nach Schlachten als sterblicher Mensch nur allzu gut erinnerte. Er blickte auf seine Brust hinab und fand die Wunde, die Siobhan ihm zugefügt hatte, fast verheilt vor. Saubere schwarze Stiche, wie ein Wundarzt sie machen würde, verliefen kreuz und quer über der Stelle, wo die Wunde gewesen war, aber die Haut darunter war kaum vernarbt. Er berührte seine Kehle und merkte, dass auch sie verheilt war.
Simon schlief auf der anderen Seite des Raumes auf der weichen Bettstatt eines Reisenden. Tristan rieb sich seinen wunden Nacken und verzog das Gesicht. Sein Vampirbruder war weitaus besser auf das Leben eines Dämons vorbereitet als er selbst. Nicht nur reiste er mit einem Zauberer, sondern er hatte offensichtlich auch ausgezeichnete Vorkehrungen getroffen.
Wie als Antwort auf seinen Gedanken öffnete sich die Tür, sodass Tristan vor dem Licht zurückzuckte. Orlando kam herein und schloss sie rasch wieder hinter sich. »Gut«, sagte er und stellte einen Korb mit Wäsche ab. »Ihr seid wach.«
»Es scheint so.« Tristan beobachtete nachdenklich, wie sich der kleine Zauberer hinsetzte, um Strümpfe zu sortieren. »Habt Ihr mich zusammengeflickt?«
»Besser ich als Simon«, antwortete dieser. »Seid Ihr also geheilt?«
»Ich denke schon.« Er nahm den Dolch aus seinem Stiefel, durchschnitt die Fäden und zuckte zusammen, als er sie einzeln herauszog. »Ich dachte nicht, dass ich so verletzt werden könnte.«
»Ich auch nicht.« Orlando legte stirnrunzelnd die Wäsche beiseite, trat zu ihm und nahm ihm den Dolch ab. »Ich weiß mehr über Vampire, als ich Euch erzählen wollte«, sagte er und zog die Fäden sanfter und effizienter. »Aber ich habe nie von einer Waffe erzählen hören, die für so lange Zeit so viel Schaden anrichten kann. Wie ist es geschehen?«
»Siobhan«, antwortete Tristan. Er dachte mit einem schlimmeren Schmerz an das Gesicht seiner Liebsten, die ihn weinend und verzweifelt angriff, als ihm das Ziehen der Fäden verursachte. Seine Liebste … das war sie, wie er erkannte, sein wilder, verwegener Dämon von Frau, mehr als jede andere sanfte oder fügsame Frau es jemals hätte sein können. Aber sie hatte versucht, ihn zu töten. Sie hatte dabei geweint, aber sie hatte es dennoch getan.
»Eine Frau hat das getan?«, fragte Orlando und stutzte. »Wie ist das möglich?«
»Warum fragt Ihr mich?«, erwiderte Tristan. »Ihr seid derjenige, der so viel über Vampire zu wissen behauptet. Ich bin nur zufällig einer.«
Simon murmelte im Schlaf und rollte sich herum, als störten sie ihn, und der Zauberer lächelte ihm voll offensichtlicher Zuneigung zu. »Welche Art Waffe hat sie benutzt?«, fragte er leiser.
»Ein Schwert«, antwortete Tristan. Tatsächlich hätte er es vorgezogen, überhaupt nicht darüber zu sprechen, weder mit Orlando noch mit sonst jemandem, aber er hatte vermutlich keine Wahl. »Ein kleines, breites Schwert, kleiner als jedes andere, das ich bisher gesehen habe.« Er war überrascht darüber, wie deutlich er sich an die Waffe erinnerte. »Das Metall war von matt silberner Farbe, nicht glänzend wie Stahl, aber die Klinge war scharf.«
»Offensichtlich.« Der Zwerg, der konzentriert die Stirn runzelte, trat zu seinem Gepäck, durchsuchte es und förderte eine Schriftrolle zutage. Er öffnete sie, betrachtete, was dort geschrieben stand, und murmelte etwas vor sich hin, das zu leise war, als dass Tristan es hätte verstehen können.
»Sagt Eure Schriftrolle etwas von einem solchen Schwert?«, fragte der Vampir.
»Vielleicht.« Er zeigte ihm die Schriftrolle. Auf ihr war keine Schrift, sondern eine Zeichnung zu sehen. Der größte Teil der Seite wurde von einer groben Landkarte Britanniens bedeckt. Aber oben befand sich die Abbildung eines Kelchs, zweifellos der Kelch, den er und Simon suchten. Darunter war ein Kreuz zu sehen, das anscheinend aus einem hölzernen Pfahl und einem Schwert gebildet wurde, das dem von Siobhan sehr ähnlich sah.
»Ein Pfahl«, sagte Tristan, als er sich erinnerte. »Sie hatte auch einen Pfahl, den sie an ihrem Gürtel verbarg. Sie traf mich, stieß auf meine Kehle ein, und dann zog sie den Pfahl hervor.«
»Allmächtiger«, murmelte Orlando. »Wer auch immer diese Frau ist, Tristan, sie weiß, was Ihr seid. Und sie weiß, wie sie Euch töten kann.« Er deutete auf die Zeichnung. »Ist das das Schwert?«
»Das könnte schon sein«, antwortete er stirnrunzelnd. »Diese Frau, wie Ihr sie nennt, ist meine Ehefrau, die Tochter eines Einheimischen, eines Briganten. Was sollte sie über Vampire wissen?«
»Ehefrau?«, echote Orlando erschreckt. »Euer Kind hat eine Mutter?«
»Jedes Kind hat eine Mutter, Zauberer«, antwortete Tristan mit verzerrtem Lächeln. »Aber nein, Siobhan ist nicht Clares Mutter.« Als er dies sagte, verspürte er einen weiteren seltsam traurigen Schmerz. »Sie ist die Ehefrau, die mir von den Briganten aufgezwungen wurde.« Er hörte Daimon draußen aufgeregt wiehern. »Es ist eine recht lange Geschichte«, sagte er und erhob sich. »Habt Ihr das Pferd versteckt?«
»Sehe ich so aus, als hätte ich das Pferd verstecken können?«, sagte Orlando und richtete sich, so klein er war, zu seiner vollen Größe auf. »Tatsächlich wollte mich das Tier kaum in Eure Nähe lassen.« Er ging zur Tür voraus und streckte eine Hand hinter sich aus, als wollte er den Vampir warnen, dem Licht fernzubleiben. »Simon kam nach Euch zurück. Vielleicht hat er es getan.« Wie zur Antwort schloss sich ein zweites Pferd dem Protest an.
»Wacht auf, Bruder«, sagte Tristan und stieß Simon mit dem Stiefel unsanft an.
»Vorsicht«, warnte Orlando. »Er erwacht nicht immer so friedlich wie Ihr.« Wie um das zu bestätigen, setzte sich Simon knurrend und mit glühenden Augen auf. »Beruhigt Euch«, sagte der Zauberer. »Draußen ist jemand.«
»Er stiehlt unsere Pferde«, sagte Tristan, die Augen vor Zorn verengt.
»Bastard«, sagte Simon, der sich anscheinend rasch erholte. Er erhob sich von seinem Lager. »Wer ist es?«
Orlando öffnete die Tür einen winzigen Spalt weit und spähte hinaus. »Einer von Tristans Briganten«, sagte er leise. »Er muss sich mit seinem Geschäft auskennen. Er hat bereits beide Pferde zusammengebunden, und keines scheint sonderlich beunruhigt zu sein.« Er trat zurück und schloss die Tür so leise wie möglich wieder. »Anscheinend kommt er hierher.«
Tristan lächelte dem anderen Vampir bitter zu. »Gut für ihn.«
»Wartet«, befahl Orlando. »Lasst ihn uns befragen, bevor Ihr ihn tötet.« Er bedeutete ihnen zurückzutreten, bevor er die einzige Kerze ausblies, und Simon zog sich sofort in die Schatten zurück. Kurz darauf tat Tristan es ihm gleich.
Orlando trat hinter die Tür, als sie gerade geöffnet wurde. Der Mann, der hereinkam, war in der Tat einer von Sean Lebuins Briganten. Tristan hatte ihn mit Emma, Clares Kindermädchen, im Schloss gesehen, ein großer, sehr beliebter Mann mit einer angenehmen, sanften Art, die im Widerspruch zu seinem Beruf stand. Er bewegte sich vorsichtig, mit gezogenem Schwert, als hätte er bemerkt, dass der verborgene Unterschlupf kürzlich geöffnet worden war. »Wer ist da?«, fragte er in die Dunkelheit hinein.
»Ein Reisender«, antwortete Orlando und trat ins Licht.
Die Haltung des jungen Mannes änderte sich sofort. »Seid gegrüßt, kleiner Meister«, sagte er und ließ sein Schwert sinken. »Was führt Euch hierher?«
»Ich reise mit meinem Herrn, dem Herzog von Lyan«, sagte Orlando. »Wir sind auf der Suche nach Tristan, Lord DuMaine.«
Bei diesen Worten spannte sich der Brigant wieder an, aber es war zu spät. Simon sprang aus den Schatten wie der Wolf, der er gewesen war, als Tristan ihn das erste Mal gesehen hatte, und packte den Mann bei den Schultern, während Orlando die Tür hinter ihm zuschlug. Der Brigant ließ sein Schwert sofort fallen, verhielt sich aber herausfordernd. »DuMaine ist tot«, antwortete er und begegnete Simons Blick.
»Nicht ganz.« Während Orlando die Kerze anzündete, trat Tristan ins Licht.
»Herr Jesus …« Der Brigant bekreuzigte sich, und sein Gesicht wurde kalkweiß. »Ich dachte, dass sie bestimmt verrückt wäre, dass sie Sean irgendwie überzeugt hätte, aber … wir haben den Burggraben stundenlang nach Euch abgesucht …« Simon lockerte seinen Griff, und er sank auf die Knie. »Gott rette uns.«
»Das tut er vielleicht noch«, sagte Simon, der offensichtlich ein Lächeln unterdrückte. Tristan persönlich fand, dass sein Vampirbruder einen eher verdrehten Sinn für Humor hatte. »Wie heißt Ihr, mein Herr?«
»Michael«, antwortete ihm der Brigant, aber sein Blick wich nicht von Tristans Gesicht. »Was wollt Ihr?«
Tristan dachte über die Frage nach. Er könnte diesen Mann töten, seiner Racheliste eine weitere Tötung hinzufügen, aber das schien der Mühe kaum wert. »Informationen«, antwortete er. »Ihr gehört zu Seans Leuten, nicht wahr?« Michael schwieg, aber der plötzliche Widerstand in seinen Augen genügte als Antwort. »Ich will genau wissen, was Euer Hauptmann plant, bis ins kleinste Detail.«
»Niemals«, sagte Michael. »Ich kann nicht.«
»Niemals ist eine sehr lange Zeit, Michael«, erwiderte Simon und lächelte ernst. »Und Ihr könnt tun, was immer Ihr tun müsst.« Seine Stimme hatte sich verändert, wie Tristan erkannte, war zu dem hypnotischen Grollen geworden, das er in der Nacht, in der er Siobhan verführt hatte, auch aus seiner eigenen Kehle hatte dringen hören. »Warum seid Ihr hierhergekommen?«
»Der Schatz«, antwortete der Brigant, die Augen in Trance geweitet. »Der Schatz in den Gängen.« Er deutete auf einen Stapel zerbrochener Kisten und schmutziger Lumpen in einer Ecke des Unterschlupfs. »Der Abgesandte des Königs kommt, und Lord Tristan ist ein Monster. Er fürchtet, mit Siobhan fliehen zu müssen.« Er runzelte die Stirn. »Aber sie wird nicht gehen. Das weiß er.«
»Welcher Schatz?«, drängte Simon und wurde augenblicklich wachsamer. Auch Orlando hatte sich angespannt. »Welche Gänge?«
»Der Schatz, den wir gestohlen haben«, antwortete Michael. »Wir haben ihn in den Gängen versteckt, die wir fanden, als wir den Unterschlupf gruben. Siobhan weiß das nicht.« Er runzelte erneut die Stirn, als störte ihn das. »Sean wollte nicht, dass sie sie sieht. Er sagte, ihre Mutter habe sie mit Aberglauben verdorben, habe sie dazu gebracht, die alten Geschichten zu glauben.«
»Zeigt ihn mir«, befahl Simon. »Zeigt mir den Weg zu den Gängen.«
Der Blick des Briganten schweifte erneut zu Tristan, und seine Miene wurde traurig. »Siobhan hat um Euch geweint, DuMaine«, sagte er. »Vom ersten Tag an, seit sie glaubte, Ihr wärt tot. Ich habe sie selbst gehört, als ich vor der Tür zu Eurem Zimmer stand. Sie lag in Eurem Bett und schluchzte so, wie ich es noch nie von ihr gehört hatte – es brach mir das Herz.«
»Die Gänge«, drängte Orlando.
»Lasst ihn sprechen«, befahl Tristan, den irgendwelche Gänge nicht im Geringsten interessierten.
»Sie weint auch jetzt um Euch, genau an diesem Tag«, fuhr Michael fort.
»Warum hat sie mich dann zu töten versucht?«, wollte Tristan wissen.
»Warum habt Ihr sie zu töten versucht?«, konterte der Brigant. »Sie denkt, Ihr wollt uns alle vernichten, weil Ihr eine Art Dämon seid. Sie hat etwas in einem Buch gelesen.«
»Natürlich«, murmelte Orlando.
»Ihr sagtet, der Abgesandte des Königs käme«, bemerkte Tristan, und seine Gedanken rasten und durchbrachen die Erstarrung, die ihn niederdrückte. Die Sonne musste wohl bereits untergehen. »Wann?«
»Auch jetzt«, antwortete Michael. »Ich muss mich beeilen, muss den Schatz bergen und mich auf die Flucht vorbereiten.« Er schaute zu dem Stapel Gerümpel zurück. »Sean glaubt, die Gänge könnten ganz bis zum Schloss führen, aber es ist ein Labyrinth.«
»Räumt dieses Gerümpel fort«, befahl Orlando, aber Simon handelte bereits. Er schob die zerbrochenen Kisten aus dem Weg und legte so eine Falltür im Boden frei. »Habt Ihr die nicht gesehen?«, wollte der Zauberer von Tristan wissen.
»Ich habe nicht hingeschaut.« Er trat einen Schritt auf Michael zu. »Will Sean fliehen, bevor der Abgesandte des Königs eintrifft?«
»Nein«, antwortete der Brigant. »Er setzt noch immer ebenso viel Vertrauen in Callard wie zuvor. Aber wenn Callard versagt, will er bereit sein. Es geht ihm nur darum, Siobhan zu retten.«
»Zumindest glaubt Ihr das«, sagte Tristan verbittert.
»Nein, Mylord«, erwiderte Michael. »Ich schwöre, dass es die Wahrheit ist. Siobhan wollte, dass die Normannen vertrieben werden. Sean hat das alles für sie getan.«
Simon öffnete die Falltür und spähte hinein. »Da sind Gänge«, sagte er, ließ sich durch die Öffnung hinunter und stand dann schultertief im Boden. »Reicht mir ein Licht.«
»Und warum sollte Sean das tun?«, fragte Tristan Michael. Er wollte nicht seine Vampirkräfte der Überredung benutzen, aber der junge Mann antwortete dennoch.
»Sie ist seine Schwester, seine Verwandte«, erklärte er. »Er liebt sie mehr als alles andere auf der Welt. Er wollte Rache für seinen Vater und seine Mutter, und er bekam sie, als der alte Baron starb und er ihm das Herz herausschnitt. Alles Weitere geschah für die Männer, die sich ihm angeschlossen hatten, Geächtete, die die Normannen hassten, und für Siobhan.«
Simon tauchte wieder aus der Öffnung auf. »Es ist genauso wie die Katakomben auf Charmot«, sagte er zu Orlando. »Es gibt sogar Wandgemälde. Es waren Druiden hier.«
»Druiden, ja«, stimmte Michael ihm zu. »Sean sagte, die Ahnenreihe seiner Mutter gehe auf die Druiden zurück.«
»Die Ahnenreihe der Mutter«, wiederholte Orlando und begegnete Simons betroffenem Blick.
»Noch ein Zugang«, sagte Simon.
»Vielleicht«, stimmte Orlando ihm zu.
»Ihr sagt, diese Gänge führten ganz bis zum Schloss«, bemerkte Tristan ungeduldig, wobei ihn ihre Meinung kaum kümmerte. Er hatte noch immer nur wenig Interesse an der Suche seines Vampirbruders, aber er brauchte dessen Hilfe für seine eigene Suche. Vielleicht würden diese Gänge ihn weiterbringen.
»Das hat Sean vermutet«, antwortete Michael. »Aber wir hatten nie die Zeit, es herauszufinden.«
»Sagt mir alles, was Ihr über den Abgesandten des Königs und diesen Callard wisst.« Er sah Simon an. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mit der Hilfe seiner Gnaden des Herzogs nach Hause gehe.«