16

Siobhan saß am Kamin der Turmhalle und lächelte ihrer Stieftochter über das Schachbrett hinweg zu. »Das ist die Königin«, erklärte sie und hielt die Figur hoch. »Sie ist dein mächtigster Soldat, die einzige Figur, die du über so viele Quadrate, wie du willst, in jede Richtung bewegen kannst.«

»Mächtiger als der König?«, fragte Clare.

»Viel mächtiger.« Sie stellte die Königin auf und nahm ihren elfenbeinernen Gefährten hoch. »Der König kann sich in jede Richtung bewegen, jedoch nur ein Feld auf einmal.«

»Aber der König ist derjenige, der gefangen genommen werden muss«, sagte Clare.

»Genau.« Sie stellte den König wieder auf seinen Platz und nahm erneut die Königin zur Hand. »Alle anderen Figuren beschützen den König vor dem Feind. Aber keine so gut wie die Königin.«

»Also liebt sie ihn«, entschied Clare.

»Vermutlich«, räumte Siobhan ein und lächelte über den drolligen Gedankensprung. »Aber vielleicht liebt sie es auch nur zu gewinnen.«

»Verzeihung, Mylady«, sagte der Ritter Sir Sebastian und verbeugte sich, als er sie erreichte.

»Euer Herr hat darum gebeten, seine Soldaten in dieser Halle zu versammeln. Darf ich Euch und Lady Clare ins Gutshaus zurückbegleiten?«

»Ihr habt mit Tristan gesprochen?«, fragte sie sofort wachsam. »Er ist aus seiner Höhle herausgekommen?«

»Er ist wach«, bestätigte der Ritter nickend und errötete leicht.

»Wunderbar.« Sie erhob sich ihrer Röcke ungeachtet mit der Anmut einer Kriegerin vom Kamin. »Komm, Clare.«

»Wartet, Mylady«, protestierte Sebastian.

»Nein, mein Herr. Das werde ich nicht.« Sie nahm Clares Hand und rauschte an ihm vorbei auf die Tür zu.

Tristan betrat genau in dem Moment den Raum, als seine Briganten-Braut an seinem armen Ritter vorbeistolzierte, als wäre er eine Statue, und seine Tochter an der Hand hielt. Diese beiden, die er liebte, schienen so vertraut miteinander. Clare hatte sogar Siobhans Gangart angenommen, lange, burschikose Schritte mit zurückgenommenen Schultern. Statt Seide oder Samt trug sie ein einfaches Wollkleid mit verräterischen Schmutzflecken an den Knien. Sein Engel war auch ein Wildfang geworden. »Schon gut, Sebastian«, rief er, und heftige, eifersüchtige Liebe für die beiden krallte sich wie eine Faust um sein Herz.

»Papa!« Clare riss sich von Siobhan los und lief zu ihrem Vater. Er fing sie wie immer auf, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste seine Wange. Aber bevor er antworten oder ihren Kuss erwidern konnte, schwappte eine Woge des Hungers über ihn hinweg. Der liebliche Duft ihrer Haut und der Klang ihres Herzschlags reizten den Dämon, der ihn besaß.

»Nimm sie!«, befahl er, elend vor Abscheu, während er sie Siobhan in die Arme schob.

Siobhan sah den jähen, goldenen Glanz in seinen grünen Augen, drückte das Kind fest an sich und wich zurück. »Alles ist gut, Kleines«, tröstete sie und wandte Clares Gesicht von dem Vampir fort zu ihrer Schulter. »Dein Papa ist noch krank.« Auch wenn sie ihn nicht geliebt hätte, hätte sie Mitleid für ihren Dämonenliebsten empfunden, als sie den entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Aber sie hatte auch Angst vor ihm. Wann immer sie ihn zuvor gesehen hatte, hatte er stets den Eindruck erweckt, die Macht in ihm unter Kontrolle zu haben. Nun war es offensichtlich nicht mehr so.

»Bring sie nach oben«, befahl er mit natürlicherer Stimme, während seine Augen wieder einfach grün wurden. »Warte dort in deinem Zimmer auf mich.«

»Nein«, antwortete Siobhan und schüttelte den Kopf. »Ich muss mit dir reden.«

»Ich muss gehen«, sagte er schroff. »Ich werde später mit dir reden, wenn ich zurückkomme …«

»Nimm mich mit …«

»Nein!« Clare hatte sich ihm wieder zugewandt, und ihre ebenfalls grünen Augen waren groß vor Verwirrung. Er lächelte und berührte ihre Wange. »Tu, was ich dir sage, Siobhan. Geh in dein Zimmer und warte auf mich.«

»Ich habe den ganzen Tag auf dich gewartet«, erklärte sie, und die Angst wich rasch dem Zorn. War auch sie ein Kind, das er ins Bett schicken konnte?

»Dann wird eine weitere Stunde kaum einen Unterschied machen.« Er berührte auch ihre Wange, und obwohl sie wusste, dass er eher sterben als die Worte aussprechen würde, sah sie das Flehen in seinen Augen. Seine Hände sind kalt, dachte sie. Sie nahm seine Hand, und die Haut war so kalt wie bei einer lebendig gewordenen Statue. Oder wie bei einem Leichnam, dachte sie unwillkürlich, und ihre Haut kribbelte vor Entsetzen.

»Nur eine Stunde«, wiederholte sie, ihre blauen Augen waren unerbittlich und forschend auf sein Gesicht gerichtet. Sie drückte einen Kuss auf seinen Handballen, was ihn vor ausgehungertem Verlangen erzittern ließ. Wenn sie ihn nicht losließe, würde er sie hier vor Clare und dem Haushalt nehmen und sie wahrscheinlich nebenbei töten. »Also gut. Wir werden warten.«

»Es tut mir leid, Papa«, sagte Clare ernst. »Ich wollte nicht, dass es dir schlecht geht.«

»Es ist nicht deine Schuld, Kleines«, sagte Siobhan, bevor er antworten konnte, »sondern meine. Aber es wird ihm bald wieder gut gehen.« Sie ließ seine Hand los und strich ihm, bevor sie wieder die Treppe hinaufstieg, kurz über die Wange, was ihm wie das Aufbringen eines Brandzeichens vorkam.

Sobald sie die Biegung der Treppe umrundet hatten, legte Clare den Kopf an Siobhans Schulter und weinte in ihren Armen still und zitternd. »Kleines, was ist denn?«, fragte Siobhan und drückte sie noch fester an sich. »Alles ist gut, Liebes. Ich verspreche es.« Sie küsste die Kleine auf die Wange und streichelte ihr Haar.

»Warum seid Ihr und Papa immer noch so ärgerlich?«, fragte sie.

»Das sind wir nicht, Liebes.« Sie trug sie in ihr Schlafzimmer und schloss mit dem Fuß die Tür hinter ihnen.

»Seid Ihr doch«, beharrte sie und kuschelte sich an Siobhan, als diese sich aufs Bett setzte und Clare auf ihrem Schoß hielt. »Ihr seid beide ärgerlich, das merke ich.«

»Nein, Clare, nicht ärgerlich.« Sie küsste sie erneut und wollte sie verzweifelt trösten. Sie war noch nie in ihrem Leben einem Kind nahe gewesen, aber Clare war anders, so ernst und tapfer.

»Siobhan, was ist mit ihm?« Clare schaute mit den Augen ihres Vaters auf. »Er hat sich so kalt angefühlt.«

»Ich weiß.« Sie zog sie wieder an sich, um diesen Augen auszuweichen. »Er ist krank, Süße. Hat er dir das nicht erzählt?«

»Er weint Tränen aus Blut.« Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, als fürchtete sie, die Worte laut auszusprechen. »Ich habe es gesehen. Und als er mich berührte …« Sie berührte ihre Wange. »Er hat sich eiskalt angefühlt.«

»Ich denke, er hat eine merkwürdige Art von Fieber.« Er hat geweint?, dachte sie, und Kummer und Schuldgefühle wüteten in ihrem Herzen. »Aber es geht ihm mit jedem Tag besser.«

»Sagt ihm, dass Ihr nicht mehr böse auf ihn seid.« Das Kind lehnte sich zurück, um sie wieder anzusehen. »Sagt ihm, dass Euch leidtut, was Sean Lebuin getan hat. Dann wird es ihm wieder besser gehen.«

»Clare …« Sie legte eine Hand an ihre Wange.

»Das wird es«, beharrte sie. »Ihr müsst es tun, Siobhan. Wenn es ihm nicht bald wieder besser geht, wird er fortgehen.« Ihr engelsgleicher Mund zitterte, während neue Tränen ihre Wangen hinabliefen.

»Nein, Clare«, sagte Siobhan. »Hör mir zu. Gleichgültig, was sonst geschehen mag, dein Vater würde dich niemals verlassen.« So abscheulich der Gedanke auch sein mochte, könnte sie vielleicht irgendwie den Mut finden, Tristan zu vernichten, um ihre Leute zu retten. Aber sie würde nicht zulassen, dass sein Kind das Vertrauen in ihn verlor, nicht wenn er es so liebte. »Erinnerst du dich an den Abend, als ich mit Sean hierherkam? Erinnerst du dich, wie ich das Messer an deine Kehle hielt und drohte, dich zu verletzen?«

»Ja.« Eine neue Art Entsetzen dämmerte bei dem Gedanken in den Augen der Kleinen.

»Damals kannte er mich nicht, und er glaubte, ich würde es tun.« All das Vertrauen, das sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, könnte sich im Handumdrehen auflösen, während sie sprach, aber sie konnte nicht aufhören. »Er hat alles aufgegeben – sein Schloss, seine Leute, seine Aufgabe, sogar sein eigenes Leben –, um mich aufzuhalten. Er wollte nicht zulassen, dass du verletzt würdest, nicht um alles in der Welt. Erinnerst du dich?«

»Ja.« Sie schien ruhiger zu werden. »Aber Ihr hättet mich nicht verletzt, oder, Siobhan?«

»Nein, Liebes, das würde ich niemals tun.« Sie lächelte und wischte eine Träne von Clares Wange. »Dein Papa und ich sind vielleicht böse aufeinander, aber wir lieben dich beide sehr. Was auch immer sonst geschehen mag, wir werden dich immer beschützen.«

Clare kuschelte sich als Antwort erneut eng an sie, während ihr kleiner Arm um Siobhans Taille lag. Siobhan dachte nicht zum ersten Mal an die Mutter des Kindes. Wie mochte sie gewesen sein? Was konnte ihr geschehen sein? Trauerten Clare und Tristan um sie? »Ich liebe Euch auch«, murmelte Clare, umfasste das Ende von Siobhans Zopf und hielt es an ihre Wange.

Sie hielt das Kind fest, bis sie es vom Schlaf in ihren Armen schwer werden spürte. Dann legte sie die Kleine sanft ins Bett und versuchte zu entscheiden, was sie als Nächstes tun sollte.

Tristan hatte ihr gesagt, sie solle auf ihn warten. Aber wo konnte er hingegangen sein? Sie trat zur Tür, blickte hinaus und sah zwei Wachen im Gang herumlungern, nicht in Alarmbereitschaft, aber dennoch wachsam. Sie lächelte ihnen schwach zu und schloss die Tür wieder. »Gottverdammt«, murrte sie und biss sich auf die Lippen. Sollte sie den Rest ihres Lebens in diesem Turm eingesperrt auf das Verhängnis warten?

Sie schaute aus dem Fenster in Richtung Wald. Tristan hatte gesagt, er wolle ausreiten. Hatte der Herzog ihn begleitet? Sie strich mit der Hand über die Steine, die den Fensterrahmen einfassten, und zog die verfugten Spalten nach. Seit der Nacht, in der sie die Klippe erklommen hatte, um ihrem ersten normannischen Soldaten zu entkommen, hatte sie Höhen gehasst. Aber die Mauer war neu, und die Spalten waren tief. Sie zog sich mit unterdrücktem Seufzen um.

Tristan beobachtete, wie sich der Hirsch mühsam erhob und in den Wald davonstob. »Wir sollten Kühe halten«, murrte er.

Simon sah ihn für einen Moment entgeistert an und lächelte dann. »Das wäre vielleicht leichter.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ihr denkt wenig über das Blut nach, das wir nehmen, oder, Bruder?«

»Was gibt es darüber nachzudenken?« Das Tierblut war nicht vollkommen zufriedenstellend, aber es hatte seinem Hunger die Schärfe genommen.

»Wie nähren uns an Leben«, erklärte Simon, während sie durch den Wald gingen.

»Welcher Mensch tut das nicht?«, konterte er. »Wenn ich noch so wäre, wie ich einmal war, hätte ich den Hirsch getötet und ihn meinem Haushalt verfüttert. So wie ich jetzt bin, habe ich mich genährt und ihn wieder freigelassen. Ich nenne das Gnade.« Sie hatten die Pferde erreicht, die in einem Gestrüpp angepflockt waren, und er löste Daimons Zügel. »Der Hirsch würde mir wahrscheinlich zustimmen.«

»Aber nicht aller Eurer Beute wird diese Gnade zuteil.« Simons Pferd, Malachi, warf den Kopf auf und schnaubte, da er in der Gegenwart eines Dämons, der nicht sein Herr war, wie immer unruhig wurde. »Bedauert Ihr die Menschen nicht, die Ihr getötet habt?«

»Einige davon schon.« Er streichelte Daimons Hals, während er nachdachte. »Ich bedauere auch einige der Menschen, die ich als Soldat getötet habe. Wart Ihr nicht auch einst Soldat?«

»Ja«, räumte Simon ein. »Aber das war etwas ganz anderes.«

»Ja, das war es.« Er schwang sich in den Sattel. »Da hattet Ihr eine Wahl. Ihr musstet jene Menschen nicht töten, um überleben zu können. Ihr hättet Ihr Beschützer sein können.« Der plötzlich reumütige Blick seines irischen Bruders brachte ihn zum Lächeln. »Satanszeichen, Simon. Ihr könnt nicht für jedes Übel auf der Welt die Verantwortung übernehmen.«

»Nein, nicht für jedes.« Er stieg ebenfalls auf. »Nur für meine eigenen.«

»Seid ein wenig nachsichtiger mit Euch«, riet Tristan. »Ihr habt genug Buße getan.«

»Nicht annähernd«, erwiderte er. »Ihr, zum Beispiel. Ich bin schuld an Eurem Tod.«

»Ich vergebe Euch«, sagte Tristan. »Also, einer weniger.«

»Kein großer Fortschritt«, murrte Simon, aber er lächelte. »Reitet Ihr zum Schloss zurück?«

»Ihr nicht?« Daimon trottete im Kreis und wollte loslaufen.

»Nur um Orlando abzuholen«, antwortete Simon. »Er lässt Silas graben, aber er will die Katakomben währenddessen von der anderen Seite aus erkunden. Wir kommen in den Wald zurück.« Malachi scheute seitwärts, aber er führte ihn mühelos wieder zurück. »Ich könnte Euch vermutlich nicht davon überzeugen, mir zu helfen.«

»Ich wünschte fast, ich könnte es«, sagte Tristan mit schiefem Lächeln. »Aber ich habe immer noch meine eigene Suche.«

»Rache«, sagte Simon kopfschüttelnd.

»Nein.« Sein Freund blickte überrascht auf. »Wenn Lebuin geflohen ist, werde ich ihn nicht jagen. Aber ich muss mich versichern, dass mein Schloss sicher ist – dass meine Tochter und Siobhan sicher sind.«

»Ich dachte, Siobhan wäre der Feind«, sagte Simon sanft und zog eine Augenbraue hoch.

»Das ist meine andere Aufgabe«, gab Tristan zu. »Ich muss herausfinden, ob sie es ist.« Er dachte erneut an das, was Andrew gesagt hatte, dass Siobhan Zeit im privaten Gespräch mit Callard verbracht hatte. »Ich habe noch viel zu tun, Bruder«, sagte er. »Aber wenn ich fertig bin, werde ich mein Wort halten.« Er nahm die Zügel. »Wir werden Euren Kelch finden.«

Gaston stand im Gutshaus am Fenster der Gemächer seines Herrn und beobachtete, wie Tristan DuMaine und sein Freund, der irische Herzog, durch die Tore hinausritten. »Ich kann nicht glauben, dass er lebt«, sagte er erneut und schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn gesehen, Mylord. Kein Mensch hätte solche Prügel überleben können.«

»Und doch hat er sie anscheinend überlebt.« Callard ruhte behaglich vor dem Kamin, und das leinene Taschentuch einer Lady baumelte von seiner Hand. Gaston hatte ihn selten in so guter Stimmung erlebt.

»Es scheint so«, stimmte er ihm zu. »Und Lady Siobhan lief zu ihm, als wäre er ihre lange verlorene Liebe.«

»Vielleicht ist er das.« Der Baron blickte ins Feuer, und das seltsame neue Lächeln, das er angenommen hatte, umspielte leicht seine Mundwinkel. »Sie weiß, was er ist«, sann er laut nach. »Die Male an ihrer Kehle … er hat sich an ihr genährt.«

»Mylord?«, fragte Gaston verwirrt.

»Und doch läuft sie zu ihm.« Er hob das Taschentuch an sein Gesicht und atmete tief ein. »Sie hat mein Blut, Gaston.«

»Mylord«, begann Gaston erneut, und seine Kopfhaut begann zu kribbeln. »Eure Worte ergeben keinen Sinn.«

»Nein?« Er schaute auf und begegnete sanft seinem Blick. »Tatsächlich, Gaston, fällt es mir immer schwerer, mich daran zu erinnern, wer ich bin.« Er wand das Taschentuch um seine Finger und verzog nachdenklich die Stirn. »Ich bin körperlich und geistig stärker, aber ich beginne mich zu verlieren. Euer Baron … ich vergesse, wo er endet und wo ich anfange.«

Er ist verrückt, dachte Gaston und fühlte sich elend. »Ihr seid der Baron, Mylord.«

»Natürlich bin ich das.« Er runzelte die Stirn. »Merlins Blut … hier. Es muss einen Grund dafür geben. Es ist natürlich zu verwässert – das Mädchen ist in Wahrheit nichts. Die andere ist der Schlüssel. Ihr Blut ist rein.« Er blickte erneut auf, als erwartete er, dass Gaston jemand anderes wäre. »Und Simon.« Er lächelte, das Lächeln eines Engels. »Mein Simon.«

»Mylord, was geht Euch durch den Kopf?«, drang Gaston in ihn. »Warum sagt Ihr solche Dinge? Erklärt mir Euren Plan, und ich werde alles tun, was Ihr wollt.«

Der Baron erhob sich aus seinem Sessel. »Enttäusche ich dich, Gaston?«

»Niemals, Mylord.« Er sank vor ihm auf die Knie. »Bin ich nicht loyal?«

»Doch.« Er lächelte. »Es hat den Anschein, dass du es bist.«

»Es hat nicht nur den Anschein, Mylord. Ich schwöre es.« Er griff nach der Hand seines Herrn und küsste sie. »Ich bitte Euch, mir eine Aufgabe zu übertragen.«

Callard strich mit einer väterlichen Geste über sein Haar. »Es gibt etwas, das du für mich tun kannst«, sagte er. »Etwas, das mich wieder stärken wird.«

»Ja«, sagte Gaston, von der Liebe verzückt, die er in den Augen seines Herrn reflektiert sah. »Alles.«

Der Baron kniete sich ebenfalls hin, um ihm in die Augen zu sehen, nahm sein Gesicht in beide Hände, lächelte sein wunderschönes Lächeln und küsste ihn sanft auf beide Wangen. Dann sank sein Kopf zurück, er entblößte die Lippen und offenbarte lange, gebogene, weiße Zähne. »Herr«, flüsterte Gaston entsetzt und vor Angst erstarrt. Dann schlossen sich die Zähne hart um seine Kehle. Er wehrte sich kaum, während sein Lebensblut aus ihm wich und sein Körper kalt wurde. Aber gerade, als er zu sterben schien, gerade, als sich sein Herzschlag extrem verlangsamte, spürte er, wie der Baron ihn aus seiner Umarmung entließ. Eine große, schwarze Wolke stieg um sie beide auf wie Blut, das in Wasser tropft, und hüllte sie ein. Gaston öffnete den Mund zum Schrei, und die Wolke drang jäh in ihn und füllte ihn aus. Sein Bewusstsein rang wie mit einem Dämon, wurde geschlagen und gerissen, bis er nicht mehr wusste, wer er war. Ich sterbe, dachte er. Ich bin verdammt … dann kalte, schwarze Stille.

Lucan Kivar öffnete die Augen und erhob sich in seiner neuen Gestalt. Die Welt war wieder hell und deutlich und sein Zweck klar und stark. Der Geist, der sein Gefolgsmann Gaston gewesen war, war nur noch ein Schatten. Er blickte auf den toten Körper des Barons hinab, das Gefäß, das ihn an diesen Ort gebracht hatte. Er war stark und sein Wille und seine Bosheit waren für einen Sterblichen außergewöhnlich gewesen. Gaston hingegen war schwach gewesen. Sein Leben sollte nicht lange währen. »Bald«, murmelte er und wandte sich dem Spiegel zu, um sein neues Gesicht kennenzulernen, wobei sein Geist die Erinnerungen dieses Körpers betrachtete, wie ein Gelehrter ein Buch durchblättert. Er sah das Bild Siobhans, dieses Kind vom Blut seines Sohnes Merlin, das keinen Dämon fürchtete, und er lächelte. »Bald werde ich ein anderer sein.«

Siobhan glitt langsam wie eine Spinne die raue Steinmauer hinab und betete währenddessen das Gebet einer Brigantin. »Denk an mich in der Hölle, mein Gott«, flüsterte sie und streckte sich nach der nächsten Fußstütze. »Du weißt, dass ich mein Bestes getan habe.«

Der Turm war die jüngste Errungenschaft normannischer Verteidigung, kein einfaches Quadrat, sondern eine Art untersetztes Kreuz mit einem tiefen, geschlitzten Spalt in jeder Ecke, von wo aus Bogenschützen auf jedermann hinabschießen konnten, der gelenkig oder töricht genug war zu versuchen, den Turmhügel zu erklettern. Sie arbeitete sich zur nächstgelegenen dieser Ecken vor in der Hoffnung, sich vor den Wachen darunter verbergen zu können. Sie konnte ihre Stimmen hören, da sie in dem Gewölbe um die Ecke standen, aber unmittelbar unter ihr befanden sich die Zwinger. Wenn sie es bis dorthin schaffte, erlangte sie vielleicht Zutritt zum Turm und zu den dahinterliegenden Kerkern – zu Tristans Schlupfwinkel.

Auf halber Höhe traf ihr Stiefel auf eine tiefere, breitere Spalte, die zu groß war, um ihren Fuß zu halten, und sie wäre beinahe ausgerutscht und gestürzt. »Verdammter Mist«, murmelte sie atemlos und mit pochendem Herzen. Sie widerstand dem Drang hinabzublicken, ertastete sich mit dem Fuß weiterhin ihren Weg und klammerte sich mit den Händen noch fester. Die Öffnung, die zu breit für eine Schießscharte war, befand sich genau in der Ecke des Turms. Sie umrundete sie, stieg langsam abwärts und streckte nun eine Hand aus, um den Rand zu befühlen – es war ein Eingang. Sie trat auf den Sims hinaus und fand die hölzerne Tür, deren Eisenknauf seitwärts in einer Nische verborgen war. Zu ihrer Überraschung ließ er sich leicht drehen, und die Tür öffnete sich vor ihr.

Sie kauerte sich hin, glitt hindurch und fand sich auf einer Galerie oberhalb der Turmhalle wieder. Tristans Ritter und Soldaten versammelten sich dort gerade – sie sah Sir Sebastian am Kamin sitzen und ihr Schachspiel betrachten. Eine schmale Tür am Ende der Galerie öffnete sich auf eine enge Wendeltreppe, und sie glitt hinab und bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen. Aber die Tür am Fuß der Treppe öffnete sich, wahrscheinlich hinter einem der Wandteppiche, direkt in die Halle. Sie konnte unmittelbar dahinter Stimmen hören, die zu nahe waren, um unbemerkt an ihnen vorbeizugelangen, wenn sie hindurchginge. »Lord Tristan ist mit dem Herzog ausgeritten«, sagte ein Mann gerade. »Aber er sagte Sir Andrew, dass er zurückkommen und uns seinen Plan enthüllen werde.«

Siobhan kaute auf ihrer Unterlippe. Sie könnte in relativer Sicherheit warten und lauschen – sie würde Tristans Plan sehr gerne hören. Aber jetzt, solange Tristan und sein Freund draußen waren, bestand vielleicht ihre einzige Chance, die Kerker zu erkunden. Sie unterdrückte einen Fluch und betrat die Treppe erneut.

Zumindest war ihr restlicher Abstieg in den Turm hinab einfach – eine Eisenleiter führte von der Tür fast bis zum Boden. Sie ließ sich die letzten wenigen Fuß ins darunter befindliche Gras fallen, während sie einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Die große Wolfshündin, die sie an ihrem ersten Morgen im Schloss vor den Hunden der Briganten gerettet hatte, trat heran, schnüffelte neugierig an ihr und stieß ihre Hand an, um gestreichelt zu werden. »Du bist ein hübsches Tier, Mylady«, murmelte sie und kraulte die Hündin zwischen den Ohren. »Wo ist dein Herr hingegangen?«

Der Junge, der die Zwinger in Ordnung hielt, war einer ihrer persönlichen Lieblinge, und das schon, seit Sean das Schloss erobert hatte. Er erhob sich überrascht, als sie hereinkam, aber er grinste, als sie einen Finger auf die Lippen legte. Sie winkte ihn näher heran und legte eine Hand auf seine Schulter. »Wie komme ich zu den Kerkern?«

»Vorsicht, Mylady«, antwortete er in fast ebenso leisem Flüsterton. »Der Baumeister beschäftigt hier einen Trupp Erdarbeiter.«

»Erdarbeiter?« Callard hatte von Gängen unter dem Schloss gesprochen, Gänge, von denen Sean wusste, die er ihr gegenüber aber nie erwähnt hatte. Konnten Silas oder Tristan auch davon wissen? »Wonach graben sie?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte der Junge achselzuckend. »Es war die Idee des Kleinen, des Hofnarren des Herzogs.«

Sie hatte den Zwerg am Tag zuvor kaum bemerkt, so fest entschlossen war sie, Tristan zu sprechen, aber sie erinnerte sich dennoch an ihn, ein bärtiger, kleiner Mann in kunterbunter Kleidung. »Der Hofnarr sagt, sie sollen die Kerker umgraben, und Silas gehorcht ihm?«

»Sie sind alle verrückt.« Der Junge nickte. »Sie befinden sich am anderen Ende, fern von der Tür, die ich Euch zeigen werde. Aber Ihr müsst vorsichtig sein.«

Sie lächelte. »Das werde ich.«

Die Tür war kaum mehr als eine Luke, die dazu gedacht war, Abfall sowohl aus dem Kerker als auch aus den Zwingern in den Graben um den Turmhügel zu befördern, und so niedrig, dass sie auf Händen und Knien hindurchkriechen musste. Als sie erst hineingelangt war, kauerte sie sich zusammen, kroch durch die Dunkelheit und lauschte angespannt. Am anderen Ende des Kerkers grub tatsächlich eine Gruppe Männer ein Loch in den Boden. Silas stand über ihnen, das Kinn in der Hand, als wäre er tief in Gedanken versunken. Aber von dem Zwerg war nichts zu sehen. Unmittelbar der Stelle gegenüber, wo sie in den Schatten kauerte, sah sie eine geöffnete Zelle mit großen Betten und einigen Stühlen darin – Tristans unterirdisches Gemach. Sie beobachtete die Erdarbeiter lange, um sicherzugehen, dass sie in ihre Aufgabe vertieft waren, und lief dann durch den von Fackeln beleuchteten Gang.

Einige Schriftrollen waren auf einer Truhe ausgebreitet – eine Landkarte und einige andere, die mit Kauderwelsch in einer Schrift bedeckt waren, die sie nicht entziffern konnte. Beide Betten waren ordentlich gemacht, und Tristans Bauernkleidung lag gefaltet am Fußende des einen Bettes. Sie blickte erneut zu der Gruppe, die nur wenige Fuß entfernt arbeitete, hob die Papiere hoch und öffnete die Truhe.

Darin befand sich weitere Kleidung, die nach Tristan roch. Sie lächelte unwillkürlich und nahm sie heraus. Darunter lag das Abrechnungsbuch des Schlosses. Sie hatte es Sean viele Male begutachten sehen. Sie öffnete es und sah neue Berechnungen, die in Tristans Handschrift geschrieben waren – die Anzahl seiner Leute, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, sowie eine Liste der Vorräte, die der König geschickt hatte. Der Vampir wollte tatsächlich wieder der Herr seines Gutshauses sein.

»Ihr müsst Lady Siobhan sein.« Sie wandte sich um und sah den Zwerg hinter sich stehen. »Ich muss zugeben, ich habe Euer Gesicht gestern nicht sehr deutlich gesehen.«

»Ich habe Euch auch nicht gesehen.« Sie konnte vermutlich fliehen, aber was hätte das für einen Sinn? »Aber ja, ich bin Siobhan.« Sie schloss das Buch, machte aber keinerlei Anstalten, es fortzulegen. »Seid Ihr der Hofnarr des Herzogs?«

Er lächelte. »Ich fürchte, ich erheitere ihn nicht sehr gut. Nein, Lady.« Er trat mit entspannter Haltung näher. »Ich bin ein Zauberer. Mein Name ist Orlando.«

»Seid gegrüßt, Orlando.« Er betrachtete sie, und sein Blick verweilte auffällig lange auf ihrer Kehle.

»Seid wahrhaftig gegrüßt.« Er streckte ihr seine Hand entgegen, und sie nahm sie. »Ich denke, wir müssen über vieles reden.«

»Tatsächlich?« Sie legte das Buch wieder in die Truhe, durchsuchte sie weiter und zog ihr Schwert hervor, das Tristan mitgenommen hatte. »Wie kommt Ihr darauf?«

»Weil Ihr wisst, dass Euer Ehemann ein Vampir ist«, antwortete er. »Und Ihr habt ihn mit diesem Schwert zu töten versucht.«

»Was geht Euch das an?« Sie steckte das Schwert in ihren Gürtel. »Ihr sprecht von Vampiren, als wüsstet Ihr etwas darüber. Ich weiß nur sehr wenig.«

»Ihr wisst mehr als jede andere Frau, der ich in diesem Britannien begegnet bin«, antwortete er. »Wie kommt das, Mylady?«

»Ich habe einen Engländer geheiratet«, erwiderte sie. Unter dem Schwert lag der hölzerne Pfahl, der alt und trocken wie Knochen aus einem Grab war. »Und er hat eine Diebin geheiratet.« Sie nahm auch den Pfahl heraus und steckte ihn neben das Schwert.

»Wollt Ihr ihn noch immer töten?« Er fragte, als wäre er nur neugierig und als bedeutete ihre Antwort ihm sehr wenig.

»Nein«, antwortete sie. »Es sei denn, ich muss es tun.«

Er lächelte zu ihrer Überraschung. »Gut«, sagte er und nickte. »Wenn es so weit kommt, wünsche ich Euch alles Gute, Siobhan.«

Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Danke …« Sie beobachtete ihn immer noch und versuchte, sein Lächeln zu interpretieren, während sie sich zurückzog und zur Tür eilte.

Orlando beobachtete, wie das Mädchen still und anmutig wie eine Katze in den dunklen Schatten verschwand. »Viel Glück, kleine Kriegerin«, murmelte er. »Mögen die Götter Euch beschützen.« Er griff in die Tasche, die seinem Herzen am nächsten lag, und nahm die rubinfarbene Flasche hervor, die er dort aufbewahrte.

»Mein Freund, hier ist nichts«, rief Silas ihm zu und klang müde und ungeduldig, hatte aber nicht bemerkt, dass das Mädchen überhaupt da gewesen war. »Wenn es in diesem Hügel Höhlen gibt, dann ist ihr Ursprung nicht hier.«

Orlando drückte einen Kuss auf die Flasche, und das Glas fühlte sich an seinen Lippen wie Eis an. »Sie ist stark, Liebste«, flüsterte er in dem Bewusstsein, dass die als Dunst darin schlafende Vampirin ihn nicht hören konnte, aber er musste es ihr dennoch erzählen. »Falls Kivar diesen Tristan einnehmen sollte, glaube ich, dass sie ihn vernichten kann.« Simon mochte seinen Vampirbruder. Er würde nicht verstehen, aber Simon war eben auf vielerlei Arten noch immer kaum mehr als ein Kind. »Du wirst frei sein, meine Liebste.« Er steckte die Flasche wieder in seine Tasche und schloss sich dem Gelehrten an.

Tristan stand mit dem Rücken zum Kamin vor seinen versammelten Leuten, eine vertraute Haltung, die ihm hätte gefallen sollen. Das war es immerhin, was er gewollt hatte, die Rache, die er im Austausch für seine Seele bekommen hatte, als er ein Dämon wurde. Aber als er zu ihnen blickte, zu seinen sterblichen Freunden und Kameraden, fühlte er sich leer und betrübt.

»Warum habt Ihr es uns nicht gleich gesagt, Mylord?«, fragte Sir Andrew. »Warum haben wir diese Schurken nicht vernichtet, als wir gestern ankamen?«

»Weil viele in diesem Schloss keine Schurken sind«, antwortete er. Er hatte ihnen fast die ganze Wahrheit erzählt, wie Lebuin und seine Briganten das Schloss eingenommen und ihre Freunde getötet hatten, wie er selbst mit Siobhan verheiratet und dann fortgebracht worden war, um in Schande allein zu sterben. »Und der wahre Schurke ist geflohen.«

»Lebuin«, sagte Andrew und nickte, sprach das Wort wie einen Fluch aus.

»Aber was ist mit der Lady, Mylord?«, fragte Sir Sebastian.

»Die Lady ist im Grunde ihres Herzens edel«, antwortete einer der kürzlich geretteten Hauptleute, bevor Tristan antworten konnte. »Sie war es, die für das Leben des jungen Richard flehte, und sie hat ihn selbst gepflegt und alles in ihrer Macht Stehende getan, um ihn zu retten. Sie hat sich für das gemeine Volk eingesetzt und mit ihrem Bruder und seinen Leuten auch viele Male für unsere Soldaten gekämpft. Ihr habt recht damit, sie zu verschonen, Lord DuMaine.« Er fühlte anscheinend zu viele Augen auf sich ruhen und errötete. »Zumindest glaube ich das.«

»Ich auch«, sagte Tristan. Silas stand mit über der Brust verschränkten Armen an der Rückseite der Halle und nickte, als Tristan in seine Richtung blickte. Er hatte dem Gelehrten seinen Plan erklärt, bevor er in die Halle gekommen war. Die Rede dieses Soldaten ließ vermuten, dass es funktionieren konnte. »Lady Siobhan unterstand seit dem Tod ihres Vaters der Gnade ihres Bruders. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Aber nun ist sie meine Frau, und ich werde sie beschützen, wenn ich kann.« Er glaubte einen Moment lang, ein leises Geräusch von oben zu hören, wie von einem Vogel in den Dachsparren, und er schaute auf. Aber er sah nichts. »Lebuin scheint seine Schwester sehr zu mögen«, fuhr er fort. »Er ist vielleicht ein Feigling, aber ich kann nicht glauben, dass er sie vollkommen im Stich lassen wird.« Andrew lächelte, denn er verstand bereits, und Tristan erwiderte das Lächeln. »Er wird zurückkehren, um sie zu retten, besonders, wenn er denkt, ich wäre noch schwach«, schloss er. »Und wenn er das tut, haben wir ihn.«

Das restliche Treffen ging mit Befehlen, Einteilung der Wachen und neuen Treueschwüren von den übergelaufenen Hauptleuten schnell vorüber. Aber dann, als sich die Männer zerstreuten, sah Tristan auf der Galerie über ihnen Bewegung. »Verdammt«, murmelte er und packte Silas am Arm. »Sagt Simon und Orlando, dass ich sie vor der Dämmerung sehen will.« Er lief auf die verborgene Treppe zu, ohne eine Antwort des Gelehrten abzuwarten.

Er öffnete oben die Tür, blickte hinab und erwartete, einen Briganten zu sehen, der die Eisenleiter zum Boden hinabstieg, aber da war niemand. Er schnupperte in die Luft, und seine Vampirsinne nahmen einen Herzschlag wahr.

Siobhan klammerte sich wie erstarrt an die Steine über ihm, und ihr Herz hämmerte vor Zorn über das, was sie gehört hatte, und vor Angst davor, entdeckt zu werden. Köder … er wollte sie als Köder benutzen.

Über ihm, erkannte Tristan jäh. Der Spion befand sich über ihm. Er hielt sich mit der linken Hand am Türrahmen fest, griff mit der rechten Hand nach oben und erwischte einen bestiefelten Fuß. Er riss hart daran, wollte den Briganten unten im Felsengraben zu Tode stürzen. Dann hörte er sie schreien. »Siobhan!« Er ließ den Türrahmen los und setzte ihr nach, wobei er beinahe selbst die Balance verlor, als er ihr Handgelenk zu fassen bekam. »Herr Jesus!« Der Name brannte in seinem Mund, aber er spürte es kaum.

Siobhan keuchte, als er sie aus der Leere in seine Arme riss. »Bist du verrückt geworden?«, fragte er und drückte sie an sich, und sie ließ es einen Moment schwach vor Erleichterung zu. »Herr Jesus«, wiederholte er und küsste ihr Haar.

»Lass mich los.« Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber ihre Stimme klang tonlos und kalt. »Lass mich jetzt los.«

Tristan zog sich ein Stück zurück und umfasste ihre Schultern. Sie sah ausdruckslos zu ihm hoch, und ihre wunderschönen blauen Augen waren wie Eis. »Nein«, antwortete er, und sein Herz wand sich vor Schmerz, als er sich ihrem Tonfall anpasste. »Keine Chance.« Er packte sie erneut am Handgelenk, ging in Richtung Treppe und zog sie hinter sich her.