KAPITEL 18

 

Sir, meinen Sie nicht, wir haben schon genug Corporals und Sergeants? Ich bin echt zufrieden bei meinen Kumpels und würde ich mit ein paar Streifen am Arm etwa besser Maden umlegen? Heutzutage ist der Job doch bei jedem ziemlich geradeaus: Maden killen, mehr Maden killen und dann noch ein paar mehr. Dafür braucht’s nicht noch ’nen Uffz. Aber trotzdem danke, Sir. Ich weiß, es ist der Gedanke, der zählt.

 

(PRIVATE AUGUSTUS COLE ZU VICTOR HOFFMAN -BEIM ERNEUTEN ABLEHNEN EINER BEFÖRDERUNG)

 

JACINTO, HEUTE: VIERZEHN JAHRE NACH TAG A

Die Maden kamen aus den Ruinen und für einen Augenblick fragte sich Hoffman, was sie wohl mit ihren Gefangenen anstellten.

Er hatte nicht vor, einer zu werden. Er hatte seine Pistole, und wenn es hart auf hart kam, würde er den Maden das Vergnügen seiner Gesellschaft verweigern – gleich nachdem er so viele von ihnen mit sich genommen hatte, wie er nur konnte.

»Sie kommen aus diesem Keller«, sagte Kaliso. »Wir können ihn dicht machen oder auf sie warten, wenn sie auftauchen.«

»Einen Versuch, dann weichen wir zurück«, sagte Hoffman. Es war unmöglich, in den APC zu kommen, um mehr Material zu holen; von einer Flucht ganz zu schweigen. »Ich gebe Ihnen Deckung.«

Hoffman gab Kaliso Feuerschutz, während der Insulaner nach vom ging und eine Granate den Treppenschacht hinunterwarf. Die Granate flog an drei Maden vorbei, die sich bereits an der Oberfläche befanden, hopste klappernd die Stufen hinunter und explodierte. Kaliso legte zwei oder drei Drohnen um, noch bevor sie Hoffman so nahe kamen, dass er sie riechen konnte, aber es blieb immer noch ein halbes Dutzend von ihnen, das durch den Schutt vorstürmte.

Sie kämpften nicht wie Menschen. Sie bewegten sich chaotisch, schienen keinerlei Organisierung zu haben, keine Aufstellung zu kennen, kein Schema, das Hoffman erkennen konnte – außer dem klassischen Hinterhalt: an mehreren Stellen gleichzeitig angreifen und die Gears zu verwirren versuchen.

Der Gestank. Ich hasse diesen verdammten Gestank.

Und sie schienen auch nie in Position zu gehen, um zu schießen. Immer legten sie es auf einen Nahkampf an. Das war eine psychologische Taktik, daran hatte er keinen Zweifel, denn sie mussten wissen, wie abscheulich sie für Menschen aussahen.

Aber wir können uns an alles gewöhnen. Und es töten.

Kaliso wich niemals vor Maden zurück. Er ging mit aufgedrehter Kettensäge in sie hinein und säbelte der Erstbesten, die ihm vor die Nase kam, durchs Gesicht – nicht tödlich, nur so weit, dass sie geblendet war und er die Säge zurückziehen konnte, um sie ihr gleich darauf in die Brust zu rammen. Hoffman, behindert durch einen lähmenden, brennenden Schmerz in seiner Wade, musste warten, bis die Maden zu ihm kamen. Er feuerte Salven in Brusthöhe ab. Wenn alle Stricke reißen sollten und sein letzter Augenblick gekommen wäre, könnte er sie vielleicht dazu bringen, sich auf ihn zu stürzen, während er nahe genug bei dem Armadillo war, um durch kräftiges Anstoßen die Bombe zum Explodieren zu bringen.

Aber dafür waren sie zu schlau. Viel zu schlau.

Sie verarschten ihn.

Er feuerte aus der Hüfte. Kaliso zog sich rasch zurück und donnerte in ihn hinein, um ihn in die Deckung einer Betonsäule zu schieben. »Die wollen Überfall spielen, also sind sie vielleicht nicht auf ein Ziel vorbereitet, das in der Todeszone bleiben will.«

»Scheiße noch mal, Sie sind vollkommen verrückt, Kaliso.« Hoffman hielt seinen Lancer um die Säule herum und feuerte blind eine lange Salve ab. »Nur ein Idiot kann so was wollen. Ein toter Idiot.«

»Wir kämpfen nicht gegen Menschen, Sir.«

»Ich sage, wir greifen sie an.« Hoffman glaubte daran, dass jedes Lebewesen irgendetwas fürchtete, und man folgerichtig nur herauszufinden musste, was. Wenn das misslang, ging es nur noch darum, den anderen umzulegen, bevor er einen umlegte – der wesentliche Kern des Krieges seit Anbeginn der Zeit. »Ich kann diesen Arschlöchern sowieso nicht davonlaufen.«

Hoffman feuerte einfach weiter. Kaliso schaltete auf Einzelschüsse, so wie Bernie es immer tat, und sie wechselten sich mit dem Nachladen ab. Es brauchte ein paar Kugeln – Hoffman kam im Durchschnitt auf zehn –, um eine Made umzulegen, und das bedeutete wiederum sechs pro Magazin. Wenn er sich nicht zurückhielt, konnte er ein Magazin in nicht einmal fünf Sekunden leeren. Ich brauche mehr Zeit, um mit diesem Gewehr in Form zu kommen. So bin ich eine Belastung. Er ging mit Lancern um, seit er achtzehn Jahre alt war, aber die älteren Modelle fraßen die Muni nicht so auf. Er würde sich ein paar aus der Ausstattung zulegen müssen, wenn er sich das zur Gewohnheit machen wollte. Es hatte keinen Sinn, eine Waffe zu haben, die besser war als man selbst.

Gewohnheit? Wahrscheinlich werde ich wie Lieutenant Kim enden. Aufs Ende einer verdammten Maden-Klinge gespießt. Und Kaliso habe ich mit mir runtergezogen.

Es fiel ihm mittlerweile leicht, in Kategorien zu denken, wie viel ein Mann im Vergleich zu seinem eigenen Leben wert war. Kaliso war Mitte dreißig, fit und aggressiv; auf dem Schlachtfeld war er fünf oder mehr Hoffmans wert.

Macht Sinn, dich selbst zu opfern, damit er in Zukunft weiterkämpfen kann.

Scheiße, warum habe ich noch immer diesen Todeswunsch?

Hoffman spürte den Drang aufkommen, seine Wut die Führung übernehmen zu lassen und seine Kettensäge wie ein Brechwerkzeug in die nächste Made zu schmettern. Also tat er es und die Woge des Zorns allein fühlte sich herrlich an und das spritzende Blut schockierte ihn nicht ein bisschen. Er trat hinter der Säule hervor, duckte sich tief und feuerte aufwärts. Kaliso war zu sehr mit seinem eigenen Maden-Problem beschäftigt, um ihn aufzuhalten. Die nächste Made stürzte sich auf ihn und hätte ihn beinahe zu Boden geschmettert. Er knallte rücklings gegen die nächste Wand und hatte alle Hände voll zu tun, um sie von sich wegzustoßen.

»Colonel«, knisterte eine Stimme in seinem Ohrstöpsel. »Ich weiß, Sie können mich hören, also blasen Sie uns nicht die Köpfe weg, wenn wir hinter den Maden auftauchen.«

Kaliso knurrte, während er sich abmühte, seine Kettensäge aus der Brust einer Made zu ziehen. »Bleib aus meiner Schusslinie, Marcus.«

»Wir sind nur auf Empfang«, sagte Hoffman. »Er kann Sie nicht hören.«

»Mein Lancer spricht für mich, Sir …«

Hoffman schaltete sein Headset auf Gegensprechkanal. Er wollte Fenix’ Feuer dirigieren, aber es lief alles zu schnell ab. Fenix kam mit Dom vom Rundbauende des Gebäudes angerannt und stürzte sich ins Gefecht.

Fenix blieb immer abnormal ruhig – bis er in die Nähe einer Made kam. Er schien sich all seinen Schmerz und Frust eigens für sie aufzusparen. Und so weit Hoffman das beurteilen konnte, hatte er eine Menge aufgespart. Er preschte mit erhobenem Lancer los und fräste mit seiner Kettensäge in das Schlüsselbein der ersten Drohne, die sich zu ihm umdrehte.

Sie ging nicht zu Boden. Die Kettensäge hatte sich zu tief verbissen, um sie einhändig wieder herauszuziehen, und Fenix musste mit seinem Stiefel nachhelfen, um das Vieh von sich wegzustoßen. Eine weitere Made ging auf ihn los und Dom verpasste ihr eine Salve. Sie taumelte gegen Fenix, der sie so lässig auffing wie einen Tanzpartner, ihr dabei aber den Arm um den Hals legte, um sie wie einen Schild vor seinen Körper zu halten, während er, sein Gewehr um sie herum haltend, auf ihren Kameraden losging. Die Anstrengung war ihm deutlich anzusehen: Jede Sehne an seinem Hals, jedes Blutgefäß schien kurz vor dem Bersten zu sein, aber er gab keinen Ton von sich. Kugeln bohrten sich in die hilflose Made, während er ihren Kumpel erledigte und beide gegeneinander sacken ließ.

Dom hielt sich an Dauerfeuer und schnelles Nachladen, aber er schätzte auch sein Kampfmesser. Er hatte in vielerlei Hinsicht mehr Grund, die Maden zu hassen, aber im Gegensatz zu Fenix schien er das befreiende Gefühl, sie zu töten, nicht zu brauchen.

Zu viert erledigten sie vierzehn Maden, dann legte sich endlich Ruhe über die Ruinen.

»Danke, Sergeant«, sagte Hoffman vorsichtig. Ich wollte nicht gerettet werden. Und ich wollte schon gar nicht von dir gerettet werde. Nicht nach dem, was ich getan habe. »Gut gemacht, Dom. Wie ich sehe, haben Sie immer noch das Commando-Gespür.«

Dom nickte nur angemessen zurückhaltend. »Also, wo liegt das Problem bei dem Dillo?«

»Sie haben Sprengstoff druntergepackt«, erklärte Kaliso. »Wir können es uns nicht leisten, noch einen zu verlieren.«

Fenix kratzte sich seltsam entspannt am Kinn. »Also, Baird rufe ich nicht zurück. Anya? Können wir einen Jack zum Bombenräumen bekommen?«

»Dafür sind Bots ja da …«

»Schon, aber das war, als wir noch ohne Ende von ihnen hatten.«

»Nicht mein Budget, Marcus. Aber der Budgethalter steht gleich neben dir.«

Budget. In Hinblick auf die Staatsführung existierte Geld überhaupt nicht mehr. Es war eine Tauschwirtschaft.

»Tun Sie’s«, sagte Hoffman. »Falls wir den Dillo und den Jack hochjagen, kann Prescott mir die Rechnung schicken.«

Sie zogen sich in sichere Entfernung zurück und gingen in Deckung, um nach weiteren Maden Ausschau zu halten und darauf zu warten, dass Jack sie lokalisierte.

»Bleibt Jack dabei irgendeine Wahl?«, fragte Dom. Er schien immer Schuldgefühle zu haben, wegen der Risiken, denen er die Bots aussetzte, schon seit damals bei Aspho Point. »Mir kommt’s dabei immer fast hoch.«

»Empfindungsvermögen«, sagte Kaliso mit ernster Stimme.

»Maden sind empfindungsfähig. Dir macht’s nichts aus, sie in Würfel zu schneiden.«

»Das ist meine Berufung.«

»Ich liebe Ethiker«, murmelte Fenix. »Von Baird bekomm ich diesen Philosophie-Scheiß nicht aufgetischt.«

Hoffman sah dem Bot unruhig zu. Jack fuhr beide Arme aus, streckte sie unter den Dillo und sirrte und vibrierte wie eine Küchenmaschine. Es dauerte zu lange für Hoffmans Geschmack und er erwartete jeden Augenblick den nächsten Angriff der Maden. Aber nach ein paar Minuten zog sich Jack zurück, legte den Sprengsatz in Einzelteilen vor Hoffmans Füßen ab wie ein treuer Hund und schwebte auf Befehle wartend in der Luft.

Fenix kniete sich hin, um sich die Bauteile anzusehen. »Jack, der Kram ist doch sicher, oder? Geben wir’s Baird. Der wird das mit Freuden analysieren.« Dann zeigte er auf den Armadillo. »Okay, zurück zur Basis.«

Der Tag neigte sich dem Ende zu. Hoffman war nicht scharf darauf, das Ganze morgen wieder durchzumachen. Aber natürlich war das genau das, was seine Gears taten, tagein, tagaus. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er genau gewusst hatte, was für ein Gefühl das war. Die Vorstellung, zu vergessen, erschreckte ihn.

Ich werde alt. Schnell.

Und ich muss in der Lage sein, ihnen in die Augen zu schauen.

»Setzt mich einfach vor der Sicherheitsabsperrung ab«, sagte Hoffman. »Ich möchte durch die Stadt gehen.«

»Sie haben ein Loch in Ihrem Bein, Sir«, meinte Dom. »Und Sie sind kein Junge mehr.«

»Danke, dass Sie es bemerken, Santiago.«

»In Ordnung, Sir«, erwiderte er. »Aber wenn Sie gehen, gehe ich auch.«

»Wenn er geht, bricht er zusammen«, warf Fenix ein. »Also steig ich besser aus, wenn er das tut. Kaliso, lass uns hinter der Linie der Gestrandeten raus.«

Kaliso zuckte mit den Schultern. Es war klar, dass alle Hoffman für verrückt hielten. Er wollte einfach nur ein bisschen draußen sein, etwas frische Luft schnappen, weg vom Büro und nicht eingezwängt in einen APC oder einen Raven. Er fürchtete sich vor der Abkapselung von den Männern um ihn herum, die das jeden Tag machten.

Und er wollte sehen, wie Zivilisten – nicht Gestrandete, richtige Zivilisten, die Gesellschaft, deren Rettung seine Aufgabe war – ihn und seine Gears ansahen.

»Nach Ihnen, Sir«, sagte Fenix und schaffte es, das Wort wie Arschloch klingen zu lassen.

 

JACINTO; FAHRZEUG-KONTROLLPUNKT

Sie stiefelten nach Jacinto hinein, als es gerade anfing, hell zu werden.

»Ich glaube, jetzt könnte ich doch diesen Hund essen«, meinte Dom. Hoffman gab sein Bestes, um aus eigener Kraft zu gehen, aber Dom und Marcus stützten ihn jeweils mit einer Hand unter den Achseln. Dom wusste, er würde sich dadurch beschissen fühlen – nach Hause gebracht zu werden wie ein alter Mann. »Und dazu ein paar Liter Kaffee.«

Es war, als würde man eine andere Dimension betreten. Auf der einen Seite waren nicht einmal die Gestrandeten unterwegs. Innerhalb der Sicherheitszone nutzten Reinigungs- und Wartungspatrouillen die relative Flaute, um zu versuchen, die Stadt mit rein gar nichts und einem Schuss gutem Willen am Laufen zu halten. Dom bewunderte ihre Beharrlichkeit. Sie hatten nicht einmal das Adrenalin des minütlichen Überlebenszwangs der Kämpfe, um weiterzumachen. Die Stadt roch sogar anders als die Welt da draußen. Desinfektionsmittel, geschnittenes Gras, Brot aus einer nahe gelegenen Bäckerei – kleine Dinge, die zeigten, dass dieser Ort an einem seidenen Faden vom buchstäblichen Ende der Welt hing, aber kleine Inseln der Normalität überlebten, und noch waren die Menschen nicht völlig geschlagen.

Die Straßentrupps blieben stehen, um sie anzustarren. Dom wurde sich bewusst, dass seine Rüstung, genau wie die der anderen, mit Maden-Blut und Scheiße voll geschmiert war. Er erwartete Kommentare über ihren versifften Zustand, aber die Zivilisten legten einfach ihre Besen und Schaufeln beiseite, stellten sich gerade hin, so als hielten sie das für die angemessen respektvolle Geste – und brachen in spontanen Applaus aus.

Dom war völlig von den Socken. Beinahe hätte er geweint. Er sagte sich, es läge an der Müdigkeit.

»Üble Kneipe«, meinte Marcus zu dem Straßentrupp. Ein Rinnsal getrockneten Bluts zog sich von seiner Braue bis zum Kinn. »Da geh ich nie wieder einen heben.«

Den ganzen Weg durch die Stadt ging es so weiter. Die frühmorgendlichen Arbeiter, die in entschlossener Vorspiegelung, alles wäre beim Alten, in die Fabriken oder Büros gingen, blieben stehen, um den Gears auf die Schultern zu klopfen. Eine Frau – um die dreißig, ganz hübsch, aber kein Vergleich zu Maria – kam auf Hoffman zu und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Der Colonel sah eher schockiert als geschmeichelt aus.

»Die ist abschleppbereit, Sir«, raunte Dom ihm fröhlich zu. »Soll ich Ihren Mantel holen?«

»Es ist wahr, oder?« Die Frau sah überglücklich aus. »Sie sind geschlagen. Endlich haben wir diese verdammten Viecher geschlagen.«

»Ich weiß nicht, Ma’am«, entgegnete Hoffman. Wenn er wollte, konnte er immer noch höflich sein. »Die Zeit wird’s zeigen. Alles, was wir tun können, ist, sie weiter umzulegen, bis uns die Maden zum Umlegen ausgehen.«

Dom verbannte die Vorstellung, den Krieg zu beenden, aus seinem Kopf. Aber es tat gut, eine Straße hinuntergehen zu können und zu sehen, was ein Gear bewirken konnte, das Gefühl der Verbundenheit mit den Leuten in der Stadt zu spüren. Jetzt konnten sie wirklich sehen, weshalb Gears ihre Extra-Rationen verdienten. Hoffman wusste, was er tat. Die Gears sahen aus wie Scheiße und rochen auch so: Blut, ramponierte Rüstungen, Bartstoppeln, Dreckspritzer und Fetzen toter Maden – und alles drückte das »Wir sind da draußen und sterben für euch« besser aus als jedes offizielle COG-Plakat.

Und der spontane Willkommensgruß schlug mit Sicherheit jede beliebige Anzahl Medaillen. Es war die elend lange Plackerei bis zum Wrightman-Krankenhaus wert. Dom verbrachte nicht besonders viel Zeit mit den Zivilisten hinter den Barrikaden und es war ganz nützlich, daran erinnert zu werden, wie sie aussahen und wie sehr sich ihre Welt von der seinen unterschied.

»Ich hoffe, dieses Straßentheater war es wert, Ihre Wunde zu verschlimmern, Sir«, tadelte die Ärztin, als sie die medizinische Abteilung erreicht hatten. Dr. Hayman war älter als Bernie, aber nur halb so geduldig, und sie hob Hoffmans Bein hinter ihm hoch wie eine Tierärztin, die den Huf eines Pferdes untersucht. »Und Sie, Sergeant, Sie bewegen Ihren haarigen Hintern auch gleich mal für ein paar Tests hier rein. Haben Sie überhaupt irgendeine Vorstellung davon, was für Infektionen Sie sich durch Locust-Fäkalien in offenen Wunden zuziehen können?«

Marcus blickte mit einem Schulterzucken auf seine ungeschützten Hautpartien. »Okay, in Zukunft werd ich’s vermeiden, ihnen in die Gedärme zu ballern, Ma’am.«

Für Marcus’ Verhältnisse war das richtiggehend fröhliche Geschwätzigkeit. Dom sagte sich, es ginge in Ordnung, ihn mit den Ärzten allein zu lassen, und ging zurück in die Hauptkaserne. Seine Prioritätenliste – nachdem er den gröbsten Pamp von seiner Rüstung abgespült hatte – waren eine Dusche, das größte Frühstück, das sich auf einen Teller packen ließ, und dann Bernie finden, bevor sie es sich anders überlegte.

Nein, sie hat es dir versprochen. Und sie wird es auch halten. Sie wird dir die Wahrheit sagen.

Für Dom machte eine Dusche den Unterschied zwischen Zivilisation und animalischem Dasein aus. Er legte seine Hände flach an die Kacheln und ließ das heiße Wasser auf seinen Kopf prasseln. Als er an seinem Körper hinunterblickte, sah er überall frische Schrammen und offene Druckstellen an den Punkten, an denen seine Rüstung gerieben hatte, weil er einfach zu lange in ihr geschwitzt hatte.

Und ich bin auch kein Junge mehr. Wie lange habe ich noch? Scheiße …

In diesem Moment hatte er nur den einen Gedanken, dass Maria ihn nicht wieder erkennen würde, wenn er sie endlich fand, oder dass sie ihn nicht mehr wollen würde, weil er nicht mehr der Mann war, an den sie sich erinnerte.

»Du bist zu müde, um klar denken zu können«, sagte er laut zu sich selbst. »Du denkst wieder nur Scheiße. Geh und iss was.«

Es ging auf 1000 zu, als er sich selbst und seine Rüstung sauber bekommen hatte. Als er in die Messehalle kam, saßen ein paar der Trupps – Kappa und Omicron – beim Essen. Omicrons Sergeant, Andresen, winkte ihn herüber.

»Hey, Santiago. Erfolgreiche Jagd?«

»Nicht so viele wie sonst.« Dom nahm ein paar Scheiben Toast von Andresens Teller und schlang sie hinunter. »Aber genug, um einem auf den Wecker zu gehen. Hoffman hätten wir auch fast noch verloren.«

Sie lachten alle. »Ihr müsst euch mehr anstrengen, ihr faulen Säcke«, sagte Andresen. »Meinst du, die Leichtmasse hat’s gebracht? Haben wir die Maden erledigt?«

»Keine Ahnung.«

»Die Gestrandeten behaupten, aus Tollen wären sie alle verschwunden. Hatten da schon seit Tagen keinen Überfall mehr. Jede Menge Erdbeben, aber keine Maden.«

Dom konnte es in ihren Stimmen hören. Sie wollten, dass er die gute Nachricht verkündete, dass er sagte, es sei alles vorbei, weil er in ihren Augen zum inneren Kreis von Hoffmans Elite gehörte. Aber er konnte es nicht.

»Hoffen wir’s mal«, sagte Dom.

»Wir halten immer noch nach Maria Ausschau.«

»Danke.« Dom sah zu Andresens Corporal, der seinen Kopf in die Hand gelegt hatte und am Tisch eingenickt war. Sein Frühstück wurde kalt. Dom schob seinen Teller zu sich herüber und haute rein. Essen zu verschwenden, war in diesen Tagen undenkbar – ganz besonders an diesem Tag. »Wenn Bernie Mataki nach so langer Zeit wieder auftauchen kann, dann ist alles möglich, richtig?«

»Santiago, du bist ein Glücksbringer für alle, die am Leben bleiben wollen«, sagte der Corporal verschlafen, ohne die Augen zu öffnen. Er döste keineswegs. »Sogar für Fenix. Wie geht’s ihm? Vier Jahre im Block können seiner Gesundheit nicht gut getan haben.«

Wenn ich so viel Glück bringe, wieso konnte ich dann Carlos nicht überleben lassen? »Er ist Marcus. Du brauchtest noch ’ne Leichtmasse, um den kleinzukriegen.«

Dom glaubte daran. Marcus war so fit wie eh und je, abgesehen von ein paar weiteren rätselhaften Narben und sehr viel mehr Falten. Nur redete er noch weniger als zuvor. Das war seine Art, klarzukommen.

Dom aß sein Frühstück auf und ging zur Essensausgabe, um sich Nachschlag zu holen. Er wollte Bernie mit vollem Magen gegenübertreten. Sie hatte ihn bereits gewarnt: Er würde alte, schlechte Nachrichten zu hören bekommen.

 

WRIGHTMAN-BASIS, KASERNENFLÜGEL ALPHA BIS DELTA

Bernie hatte ihre Füße hochgelegt und verstand, was es bedeutete, auf die sechzig zuzugehen und dabei zu versuchen, mit Männern mitzuhalten, die halb so alt waren wie sie.

Es tat weh. Alles tat weh, von ihrem Auge und der geplatzten Lippe bis zu ihren Handgelenken und Knien. Fitness war eine Sache; Genesungszeit etwas vollkommen anderes. Hoffman war ein paar Jahre älter als sie, daher wusste sie, dass er sich ganz genauso beschissen fühlte wie sie jetzt. Im angrenzenden Raum schnarchte Rojas den unbeirrbaren, tiefen Schlaf der Jugend. Baird putzte seine Stiefel. Cole zog sich einen Stuhl heran und setzte sich an den Schreibtisch in der gegenüberliegenden Ecke.

Okay, Baird ist ein geborener Wichser. Wahrscheinlich werde ich nicht mit Delta eingesetzt. Spielt es also eine Rolle, ob ich mit ihm klarkomme oder nicht?

Bisher hatte sie noch nie einen Gear abgeschrieben, ganz egal, wie bescheuert er drauf sein mochte. Allein schon aus diesem Grund würde sie versuchen, mit dem kleinen Scheißer klarzukommen.

»Also dann«, sagte sie. »Anya Stroud, Blondie.«

Baird blickte nicht von dem Stiefel in seinem Schoß auf. »Was ist mit ihr?«

»Warum ist sie in ihrem Alter noch Lieutenant erster Klasse? Die Kleine war ein Wunderkind.«

»Welchen Sinn haben schon Beförderungen?«, murmelte Baird. »Nur Arschlöcher wollen und bekommen eine. Was soll’s. Seit du weg gewesen bist, Oma, stehen die Frauen vor der Wahl zwischen Fortpflanzung und Kriegshandwerk. Sie kann keine Kinder kriegen, also macht sie das, was sie am besten kann.«

Er war eine Zielscheibe, die nur auf den Schuss wartete. Und sie war eine Scharfschützin. Trotz bester Absichten konnte sie es sich nicht verkneifen. »Du bist Corporal geworden. Haben sie dich mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen, weil du so ein stures Arschloch bist?«

Baird hielt inne. »Wie lange wollen wir das noch durchziehen, Oma?«

»Bis dir langweilig wird, Blondie. Pinkel nie ’nem alten Sergeant ans Bein.«

»Die Boomer-Lady sagt die Wahrheit, Damon-Baby.« Cole schrieb immer noch weiter auf seinem Notizblock. »Gegen ’ne Frau, die Katzen frisst, kommst du nicht an.«

»Ich behandle dich nicht anders als irgendjemanden sonst im Trupp, Mataki«, sagte Baird.

Cole nickte vor sich hin. »Auch das ist die Wahrheit, Baby, ’nen herzigeren Damon als diesen hier kriegst du nicht. Ihm fehlt bloß mein natürliches Charisma.«

Das war mit Sicherheit auch eine Wahrheit. »Was machst du da eigentlich, Cole?«, fragte Bernie.

»Ich schreib’ meiner Mama.«

»Ich wusste nicht, dass deine Familie noch lebt.«

Cole hörte auf zu schreiben, starrte aber weiter auf das Papier. »Tut sie nicht.«

Bernie brauchte einen Moment, um das zu verdauen. Cole war wahrscheinlich der Vernünftigste von ihnen allen, Mister Solide. In einer Welt, die mehr tot als lebendig war, fiel es allerdings schwer, bei Verstand zu bleiben, und vielleicht mussten in einer Gesellschaft, in der jeder – wirklich absolut jeder – Freunde und Familie verloren hatte, die Definitionen von normal auf die schlimmstmögliche Weise neu geschrieben werden.

Sie reckte ihren Hals, um zu Cole zu schauen. Er saß lächelnd an dem Schreibtisch, für den er viel zu groß war, und schrieb gewissenhaft, während ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Baird schien dem keine Bedeutung beizumessen. Sie schon.

»Bist du okay, Cole?«

»Mir geht’s gut. Mir geht’s immer gut.«

Bernie stand auf, um sich auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch zu setzen. Für eine Weile schrieb er einfach weiter.

»Darf ich dich was fragen?«, sagte sie.

Er wischte sich mit der linken Hand über die Wange. »Schieß los, Baby.«

»Warum tust du das?«

»Scheiße, ich glaub, es sind die ganzen Sachen, die ich nicht gesagt habe, als sie noch am Leben war. Nur weil sie nicht mehr lebt, heißt das nicht, dass ich sie ihr nicht sagen kann. Besser, ich bekomm’s aus mir raus, als es mit mir rumzuschleppen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, sodass er knirschte, und las vor, was er geschrieben hatte. Dann faltete er den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Tasche. »Verdammt, ich vermisse sie. Ich vermisse sie alle.«

Bernie stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. Sie wollte Baird nicht sehen lassen, dass sie selber den Tränen nahe war. »Entschuldige, dass ich mich so aufdränge, Cole.«

»Du drängst dich doch nicht auf. Jederzeit.« Er nahm ihre Hand. Seine Faust war so groß, dass ihre darin verloren ging, und sie war keine kleine Frau. »Bist du okay? Fällt’s dir schwer, wieder unter uns guten Jungs zu sein, nachdem du dich jahrelang mit Abschaum rumgetrieben hast? Wenn du dir was von der Seele reden willst, Bernie, dann lass es einfach raus. Ich bin hier und ich habe nicht allzu viel dringende Verabredungen.«

Coles Auffassungsgabe war geradezu erschreckend. Ja, es fiel schwer, zu lernen, den Menschen wieder zu vertrauen. Es fiel schwer, zu wissen, dass sie nicht mehr mit einer geladenen Waffe oder einem Messer schlafen musste, und zwar nicht unter dem Kissen, sondern in der Hand. Schon ein paar Tage in dem Wissen, wieder in Sicherheit zu sein, hatten ihr gereicht, um sich so weit zu entspannen, dass sie ganz klar die Hölle der vergangenen paar Jahren erkannte: Anarchie, Stammestum, Gewalt, das ganze bestialische Verhalten, das hinter der Schale lauerte.

Aber nicht von Maden. Von Menschen.

Maden waren Monster und wussten es nicht besser. Menschen – Menschen waren schlimmer, denn sie besaßen die Fähigkeit, sich für die Zivilisation zu entscheiden. Sie hatten zivilisiert gelebt, über Jahrhunderte, über Jahrtausende. Es gab keine Entschuldigung. Die Menschen fielen beinahe über Nacht in die Barbarei zurück und die einzige Vernunft, die noch blieb – die einzige Menschlichkeit, die sie in den letzten vierzehn Jahren als schützenswert erlebt hatte –, war die Koalition der Ordentlichen Regierungen. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie das Regime, das ihre Inseln überfallen und erobert hatte, eines Tages als Zufluchtsort oder Beschützer der edlen Werte der Menschheit ansehen würde.

Aber das war alles, was geblieben war. Und es war das Bedürfnis gewesen, wieder unter Gears zu sein, das sie über den halben Planeten hinweg zurückgebracht hatte, nicht die COG.

»Ich habe ein paar üble Dinge getan«, sagte sie schließlich. Scheiße, sie hatte das seit Jahren verdrängt. Eine heiße Dusche, längst vergessene Gerüche, eine Erinnerung an die schier urwüchsige Kraft der Kameradschaft unter Feuer – und auf ein Mal schwangen die Schleusentore auf. »Ich habe nicht nur Katzen gehäutet.«

Das rhythmische, scheuernde Geräusch von Bairds Bürste verstummte kurz und ging dann wieder weiter.

»Schon okay, Boomer-Lady«, sagte Cole. Seine Stimme klang ruhig und ernst, nach einem ganz anderen Cole. »Ich wette, du hattest immer einen verdammt guten Grund für alles, was du getan hast.«

Jetzt ergab alles einen Sinn: Coles lautstarke Fröhlichkeit war nicht seine Art, die eigenen Ängste in Schach zu halten. Er war emotional zu stark, zu selbstbewusst, um sich selbst Mut ansabbeln zu müssen. Das Theater galt dem Trupp – damit sich alle um ihn herum kugelsicher fühlten. Cole war der ultimative Teamspieler.

»Ich muss mal kurz pinkeln«, sagte sie, weil sie dringend einen Moment für sich brauchte. »Fünf Minuten.«

Sie ging den Flur zu den Toiletten hinunter, fand eine Kabine am hintersten Ende der Reihe und setzte sich hin, um zu weinen. Cole verkörperte all die Gründe, aus denen sie zurückgekommen war. Er stellte den Menschen in seiner Höchstform dar. Es traf sie schwer und sie brauchte zehn Minuten, in denen sie sich ein kaltes nasses Handtuch auf die Augen presste, bevor sie sich wieder beherrscht genug fühlte, um in den Raum zurückgehen zu können, ohne Baird bei der nächsten Stichelei eine reinzuhauen.

Als sie zurückkam, wartete jedoch Dom Santiago auf sie, mit diesem erwartungsvollen Blick, den sie von Carlos kannte. Er stand auf, als sie eintrat.

»Du hältst mich immer nur hin«, sagte Dom. »Ich bin nicht blöde. Ich sehe es dir jedes Mal an, wenn ich frage. Du willst nicht über Carlos sprechen.«

Damit war er nicht weit ab vom Schuss. Cole schenkte ihr ein wissendes Nicken und stand auf, um Baird abzulenken.

»Komm schon, Damon.« Er gab ihm einen spielerischen Klaps. »Sauberer werden die Stiefel nicht.«

»Ich weiß.«

»Dann pack deine Werkzeugkiste zusammen, Baby. Wir haben noch ’nen Laster einzusammeln.«

Baird verstand den Wink, aber trotzdem warf er Bernie noch seinen kaltschnäuzigen Raubtierblick zu, diesen Blick, der sie nicht im Geringsten beeindruckte. »Wir warten dann im Fahrzeuglager, Omi.«

Sie wartete, bis sich die Türen geschlossen hatten.

»Okay, Dom. Was willst du wissen, was du nicht sowieso schon weißt?«

»Die Wahrheit«, erwiderte Dom.

»Wahrheit ist nicht das Gleiche wie Fakten.«

»Das muss ich selbst beurteilen. Du bist eine ehrliche Frau. Erzähl mir einfach, was du gesehen hast. Es gibt nichts mehr, was mich verletzen könnte.«

Er griff in sein Shirt, holte ein paar Fotos heraus und suchte eines für sie aus. Es war auf völlig unerwartete Weise schockierend, bloß ein ganz normales Foto von drei jungen Männern: Dom, Carlos und Marcus; Carlos in der Mitte, seine Arme um die Schultern der anderen gelegt. Es schockierte sie deshalb, weil Marcus von einem Ohr zum anderen grinste und auch nicht das Kopftuch trug, das er jetzt nie mehr abnahm, und sie hatte Schwierigkeiten, den jungen Gear in ihm zu sehen, den sie damals gekannt hatte. Die Kluft zu dem heutigen Marcus – von Narben gezeichnet, niemals lächelnd, ruhelos – war so tief, dass sie sie nicht einmal ansatzweise ausloten konnte.

»Carlos hat nicht lange genug gelebt, um meine Tochter kennen zu lernen«, sagte Dom und steckte das Bild so vorsichtig, als würde er eine heiligen Reliquie anfassen, zurück zu den anderen. »Erzähl mir einfach etwas, das dem Ganzen einen Sinn gibt. Bitte.«

Carlos war ein gut aussehender junger Bursche. Im Nachhinein erschien es jetzt als reine Verschwendung, die Gesellschaft vor einer Bedrohung zu retten, wenn es sich dabei nicht um jene handelte, die im Verborgenen lauerte, bereit, den Großteil der Menschheit zu vernichten.

»Okay«, sagte Bernie. »Carlos war ein Held – einer der Besten, einer von denen, die es für die Menschen tun und nicht für irgendeine Idee. Wenn es galt, ein Risiko einzugehen, war er der Erste in der Schlange und schob dabei sogar Marcus beiseite. Die Bedeutung des Wortes aufgeben kannte er nicht. Er betete dich an und war stolz auf dich.« Hey, sachte, Mädchen, das ist noch schlimmer, als ihm die richtig üble Scheiße zu erzählen. Wie weit willst du das Messer denn noch rumdrehen? »Ich vermisse ihn immer noch. Ist es das, was du wissen willst? Ich erinnere mich wahrscheinlich nur noch stückchenweise an die lustigen Geschichten, wie damals, als er pinkeln musste und dem Adjutanten in den –«

»Ich will wissen, wie er starb.«

»Er hat den Embry Star bekommen. Sagt das nicht alles?«

»Nein, das sagt mir Scheiße noch mal gar nichts. Es sagt mir nur, was in der Würdigung stand.« Dom war auf jeden Fall aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Carlos. Er gab niemals auf. Er wich nie auch nur einen Schritt zurück, selbst wenn er wusste, dass es wehtun würde. »Du warst dort – bei ihm. Und Marcus auch, aber ich kann ihn nicht zwingen, Dinge auszukramen, die ihm das Herz gebrochen haben. Erzähl mir, was du gesehen hast.«

Sie denken immer, sie würden es wissen wollen.

Vielleicht will Dom es wirklich.

Das Problem bestand darin, es ein für alle Mal zu wissen. Wenn man jemandem erst einmal die Wahrheit erzählt hatte, gab es keine Möglichkeit, sie unerzählt zu machen, und sie waren für den Rest ihres Lebens mit dem Wissen in einer Kiste gefangen, ohne ihr jemals wieder entrinnen zu können. Bernie mochte Dom viel zu sehr, um ihn leichtsinnig in dieses Gefängnis zu stecken.

»Er starb, Dom«, sagte Bernie. »Du hast jetzt achtzehn Jahre als Gear gedient. Du weißt, dass der Tod nicht so ist wie im Film. Willst du es wirklich in allen Einzelheiten wissen?«

Dom hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie Carlos: Er schob sein Kinn ein winziges Stück vor, presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und runzelte ein wenig die Stirn, so als würde er angestrengt nachdenken.

»Ja«, sagte er. »Es muss sein.«

Es geht um seinen Bruder. Er hat ein Recht darauf. Es ist nicht mein Geheimnis, das ich hüten muss. Worum geht es hier? Seine Gefühle oder meine Schuld?

»Es wird dich aus der Bahn werfen«, sagte sie.

»Okay. Ja, das passt schon. Danke.« Dom nickte. Am liebsten hätte Bernie jetzt Baird am Kragen gepackt und hergeschleift, nur um ihm zu zeigen, wie sich ein echter Mann verhielt. »Tut mir leid. Ich wollte keine bösen Erinnerungen wecken oder so.«

Beinahe hätte Bernie die Beherrschung verloren; Dom hatte die gleiche Angewohnheit wie Carlos, zuerst an die andere Person zu denken. Aber nach sechzehn Jahren wollte sie nicht mehr zögern und einem tapferen Mann den schwersten Teil überlassen. Sie wollte sich nicht sperren und sich noch einmal von einem Carlos eine schwere Entscheidung abnehmen lassen.

Tut mir leid, Carlos. Aber du hast es bewiesen. Du hast bewiesen, dass du der einzig Wahre bist, und das habe ich dir nicht genommen. Und ich muss nicht jedes Mal dein Gesicht mit meiner Kugel zwischen den Augen sehen, wenn ich anlege, und mich selbst dafür hassen.

Am Ende hatte Carlos sie sogar gerettet.

»Dein Bruder«, begann sie, »hat etwas getan, das jeder von uns mindestens ein Mal im Leben macht. Er hat Scheiße gebaut. Aber er starb, um Marcus zu retten, und Marcus wäre beinahe bei dem Versuch gestorben, ihn zu retten, und für dich hätten beide ihr Leben gegeben, ohne auch nur einen Herzschlag lang darüber nachzudenken. Es gibt nicht viele menschliche Wesen, die so lieben können. Hauptsächlich Gears. Es ist der Grund, aus dem wir wissen, was es wirklich bedeutet, ein Mensch zu sein. Es geht um mehr als Familie. Es geht um Zivilisation. Um das Beste im Menschen. Selbst bei Baird, diesem kleinen Stück Inzuchtscheiße. Komisch eigentlich für einen Haufen Bastarde, die andere Lebewesen mit Kettensägen zerschreddern.« Bernie legte ihre Hände auf Doms Schultern und drückte ihn sanft auf den Stuhl zurück. Sein Gesichtsausdruck wirkte jetzt mehr erhellt als geplagt, so als hätte er eine tief greifende, religiöse Wahrheit entdeckt, die ihm bisher versagt geblieben war. »Und jetzt werde ich den Anstand haben, dir jedes verdammte Detail zu erzählen. Denn Carlos Santiago war ein verdammter Held.«