KAPITEL 1

 

Ich schwöre dir, ich hab gedacht, ich wäre in einem Museum, als ich da reingegangen bin. Ich meine, es war riesengroß und voll mit Büchern und alten Bildern. Aber vollkommen menschenleer, verstehst du? Diese Art Totenstille, die dir sagt, halt die Klappe und erstarre in Ehrfurcht vor der Geschichte. Und dann kommt Marcus’ Mom durch die Tür, als hätte sie uns gar nicht bemerkt, liest in irgend ’ner Zeitung und sagt: »Hi, Schatz, hast du ein paar Freunde mitgebracht? Ich setze mich später zu euch.« Und weg war sie. Ich hab den Ausdruck auf Marcus’ Gesicht gesehen und da hab ich gewusst, dass der Typ einen Bruder sehr viel nötiger hat als ’ne Bibliothek.

 

(CARLOS SANTIAGO, BEI DER BESCHREIBUNG SEINES ERSTEN BESUCHS IN DER VILLA VON MARCUS FENIX’ FAMILIE IM ALTER VON ZEHN JAHREN)

 

EPHYRA, HEUTE – 14 N. A.

Dom Santiago entschied, dass es auch sein Gutes hatte, dass ein Phantom-Scharfschütze das Hirn eines Locust über sein Gesicht verteilt hatte. Es lenkte ihn davon ab, sich darüber zu sorgen, wie viele Locust noch in der Nähe waren.

Seine Beine zitterten, als er an den Rand der Grube trat, die sich im Asphalt gebildet hatte, und mit seinem Gewehr in die Tiefe zielte, nur für den Fall, dass die Maden Verstärkung im Rücken hatten. Das Zittern war nur das Nachbeben des Adrenalinschubs, aber -

Lügner. Ich hab mir fast in die Hosen gemacht. Das Viech hat mich fast erwürgt und eine Kugel ist nur Zentimeter an meinem Hirn vorbeigeflogen. Das ist die blanke Angst. Nix mit Adrenalin.

Es war immer Furcht einflößend, das hörte nie auf. An dem Tag, an dem es aufhörte, wäre er wirklich tot. In dem Gewirr aus geborstenen Rohren und Kabeln unter ihm bewegte sich nichts, außer dem Rieseln hinabstürzender Steinchen und Erde. Bis auf das leichte Schwanken loser Asphaltplatten konnte Dom jetzt nichts mehr unter seinen Stiefeln spüren. Die Vibrationen aus dem Inneren des Planeten hatten fürs Erste aufgehört und der Geruch nach gegrilltem Hund wurde von zerfetzten Eingeweiden und pulverisiertem Beton übertüncht.

»Hey, Klugscheißer«, rief Baird die leere Straße hinunter. »Hübscher Schuss. Jetzt zeig dich!«

»Probier’s ein bisschen lauter«, riet Cole. »Der könnte ’nen Kilometer weit weg sein.«

Ein Scharfschütze war immer schwer auszumachen. Und in diesem Labyrinth aus Zerstörung und Schatten gab es tausende Flecken, an denen man sich auf die Lauer legen und auf sein Ziel warten konnte. Marcus ging in die Hocke und untersuchte noch einmal den Schädel des Locust. Dann blickte er auf und deutete pauschal in Richtung Südseite der Straße.

»Nein, sehr viel näher. Die Kugel ist durch die Schädeldecke eingedrungen. Fast direkt von oben und noch mit jeder Menge Wucht.«

Dom sah in die Richtung, in die Marcus zeigte, und versuchte herauszufinden, von wo aus der Scharfschütze freies Schussfeld haben könnte. Marcus bewegte sich langsam zur nächstgelegenen Mauer und hielt seine Finger an seinen Ohrstöpsel. Dom hörte mit.

»Delta an Zentrale, irgendwelche Scharfschützenteams im Süden von Embry? Überhaupt irgendwelche Gears?«

»Negativ, Delta.« Es war Lieutenant Stroud: Anya Stroud, schob nach achtzehn Stunden immer noch Dienst. Die Frau schien niemals zu schlafen. Wenn der Delta Trupp wach war – sie war es auch. »Braucht ihr einen?«

»Nicht mehr.«

»Mach’s nicht so spannend, Sergeant.«

»Hier läuft irgendein Witzbold mit ’nem veralteten Gewehr frei rum. Im Moment ist er noch hilfreich, aber das könnte sich vielleicht ändern.«

»Danke für die Warnung. Ich geb ’ne Meldung raus.«

Cole behielt immer noch die Dächer im Auge. Baird senkte seinen Lancer und ging los. »Lasst uns abziehen. Vielleicht haben sie ’nen plötzlichen Patriotismusanfall und meinen, sie würden uns was schulden, jetzt, wo der Krieg beinahe aus ist.«

»Vielleicht«, meinte Marcus, »hat er aber auch auf Dom gezielt und danebengeschossen. Und er ist nicht aus.«

»Gestrandete schießen nie auf uns. So blöd sind die nicht.«

»Altes Gewehr. Toller Schuss.« Marcus lud nach, ganz beiläufig und offenbar ohne jede Eile. »Macht mich neugierig.«

Baird blickte nicht zurück, während er sorgfältig seinen Weg über zusammengefallenes Mauerwerk wählte. »Gibt massig gute Schützen unter den Gestrandeten. Bedeutet noch lange nicht, dass wir sie aufspüren und anwerben müssten.«

Baird hatte nicht unrecht. Solange niemand auf sie schoss, war es nicht ihr Problem. Aber wenn jemand mit einem Scharfschützengewehr unterwegs war, konnte es nur gestohlen sein, so viel war Dom klar. Veraltet oder nicht, diese Teile waren rar. Eine Handvoll Fabriken mühte sich damit ab, Ersatzteile herzustellen, von neuen Waffen ganz zu schweigen. Jedes funktionsfähige Stück Ausrüstung, vom Raven-Heli über Armadillo-Transporter bis zum einzelnen Gewehr, stand auf verlorenem Posten zwischen Instandhaltung und Verfall. Wie alle anderen Gears auch, schlachtete Dom alles aus, was ihm vor die Nase kam. Baird war ein wahrer Meister darin.

»Genau, wir müssen’s rauskriegen«, meinte Dom. »Denn wenn das Gewehr nicht gestohlen ist, bedeutet das, dass der Besitzer einer von uns ist. Ein Veteran.«

Baird blieb stehen, um etwas aufzuheben. Als er es näher vor sein Gesicht hielt, um es zu betrachten, konnte Dom sehen, dass es sich um irgendein Servoteil handelte. »Die Ausrüstung ist uralt und es sind dreckige Diebe.« Baird steckte den Servo ein. »Denn kein Gear hängt mit Straßenabschaum rum, solange er schießen kann.«

Der eingebildete kleine Sack hatte schon wieder recht. Dom wollte nur einmal erleben, dass er falsch lag, und sei es nur, damit er mal für eine Weile die Klappe hielt. Es stimmte, nach dem Tag der Ankunft ließen sich reichlich Gear-Veteranen wieder verpflichten, sogar ein paar echt alte Typen, denn für jeden Mann, der auch nur einen Pfifferling wert war, gab es nur zwei Möglichkeiten: zusammen mit den COG-Truppen kämpfen – oder verrotten. Es gab nur eine Entschuldigung dafür, nicht gegen die Locust zu kämpfen, und die lautete: tot sein.

»Jedes Gewehr zählt«, rief Dom ihm nach. Nein, der Krieg war nicht aus. »Und jeder Mann.« Er wandte sich zu Marcus und deutete in die ungefähre Richtung des Schusses. »Gib mir zehn Minuten.«

»Jetzt hast du mich auch neugierig gemacht«, sagte Cole, seinen Lancer an die Schulter gelehnt. »Ich glaube, ich komme mit.«

Marcus seufzte. »Okay, aber haltet die Funkverbindung offen. Baird? Baird, beweg deinen Arsch hierher zurück!«

Die Hälfte dieses Stadtblocks hatte aus der Hauptverwaltung einer Bank bestanden, umgeben von Snackbars und Coffeeshops, die von der Armee der Angestellten lebten. Jetzt war alles verfallen. Dom konnte sich noch nebelhaft daran erinnern, wie es vor dem Tag A ausgesehen hatte, die Reihen mit den fein säuberlich eingewickelten Sandwichs in den Schaufenstern, alle belegt mit Delikatessen, die heute nicht mehr aufzutreiben waren. Das Essen in der Armee war … angemessen. Besser als alles, was die Gestrandeten hatten. Aber es war auch nicht gerade ein Vergnügen.

Hund. Verdammt noch mal, wer isst schon Hund?

Die glitzernde Granitfassade war inzwischen nur noch ein Gerippe, mit ein paar zählebigen Pflanzen, die zwischen den zusammengestürzten Steinquadern wurzelten. Viel wuchs hier nicht. Alles viel zu karg. Dom und Cole rückten langsam in die ausgebrannte Bank vor und blickten hinauf: Keine Etagen, nirgends ein Schlupfwinkel. Das Gebäude war eine einzige leere Kiste. Alles, was nicht niet- und nagelfest und irgendwie wieder verwertbar war – Holz, Metall, Kabel, Rohre –, war längst geplündert worden.

»Oh, scheiße«, meinte Cole vergnügt. »Ich hatte mein ganzes Vermögen hier gebunkert.«

Cole war als professioneller Thrashball-Spieler zu einem echten Star geworden, ein reicher Mann in einer Welt, die längst nicht mehr existierte. Heute waren Tauschgeschäfte und Geschick das Maß des Wohlstands. Seine wertlosen Millionen behandelte er immer als großen Witz; er konnte so gut wie jeder Situation etwas Lustiges abgewinnen. Es gab so gut wie nichts zu kaufen, was ein Gear gebraucht hätte. Dom beschloss, wenn sich das Leben wieder normalisierte – auch nach vierzehn Jahren musste er daran glauben, dass diese Möglichkeit bestand – würde er Coles Beispiel folgen und mit Geld nach dem Motto »Wie gewonnen, so zerronnen« umgehen. Was zählte, waren die Menschen. Sie waren nicht zu ersetzen und warfen auch keine Zinsen ab. Mit jedem Tag wurden es weniger und man musste aus jedem kostbaren Augenblick das Beste machen.

Wenn ich Maria finde, werde ich jede Minute als Geschenk ansehen.

Dom sondierte den Innenraum und spähte hinab in einen tiefen Krater, der jetzt den polierten Marmorbankschalter ersetzte. Nichts regte sich. Er konnte alte Tresore mit aufgesprengten Türen erkennen. »Tja, die Bestellung für die Jacht stornierst du besser.«

»Hey, Dom, da unten wirst du keine Scharfschützen finden.« Cole gab ihm einen Schubs gegen die Schulter. »Pass auf.«

Der hintere Teil des Bankgebäudes hatte sich in einen abschüssigen Haufen aus Schutt und Trümmern verwandelt, wie Geröll, das sich von einem Berghang gelöst hatte. Oberhalb dieses Anstiegs aus Ziegeln, Wandverkleidungen und geborstenen Trägem erhob sich wie eine Felsklippe die Rückwand, an deren oberen Ende leere Fensterrahmen hohe Bögen bildeten. Das war eine gute Position für einen Scharfschützen – je nachdem, was sich hinter der Mauer befand, natürlich. Dom hängte sich das Gewehr um die Schulter und kletterte den Hang hinauf, um bessere Sicht zu haben.

»Niemand zu Hause, Dom.« Cole folgte ihm. »Bekommst du nicht genug Bewegung, oder was?«

»Ich will mir das mal von oben ansehen.« Dom ergriff einen verrosteten Stahlträger und zog sich an den Stümpfen der Querbalken, die aus der Mauer ragten, hinauf. Seine überdimensionalen Stiefel waren nicht gerade zum Klettern geeignet, also musste er sich dabei auf die Kraft seines Oberkörpers verlassen, statt auf seine Beine. Der Abstieg würde interessant werden. »Denn er muss sich in dieser Höhe befunden haben, um so einen Schuss hinzulegen.«

Dom zog sich auf ein Fenstersims und hielt sich zu beiden Seiten an den steinernen Einfassungen fest. Die Mauer war groß und massiv, wie für eine Burg gebaut, und dick genug, um sogar in Gearstiefeln bequem darauf stehen zu können. Auf der anderen Seite bildeten angrenzende Gebäude in diversen Stadien des Verfalls notdürftige Treppen, die bis auf Bodenhöhe hinabführten. Falls sich hier oben jemand aufgehalten hatte, hätte er einen relativ einfachen Weg hinunter gehabt.

»Siehst du irgendwas?«, rief Cole hinauf.

»Nur der übliche Dreck.« Dom sah sich mit einer 180-Grad-Drehung um. »Nicht gerade ein Postkartenmotiv. Es sei denn, man lebt in ’ner noch kaputteren Müllhalde.«

Unter ihm sah die Stadt noch immer wie ein verlassenes Schlachtfeld aus, baumlos und unfruchtbar. Rauch stieg in dünnen Fähnchen von kleinen, offenen Herdfeuern auf, die Dom nicht sehen konnte. Eine deutliche Grenze war erkennbar zwischen den Teilen der Stadt, die auf dem massiven Jacinto-Plateau fußten – die letzte Bastion der Koalition Ordentlicher Regierungen, kurz COG –, und den Außenregionen, wo Risse und weicheres Gestein den Locust ermöglichten, alles zu untertunneln. Ein Streifen trennte die erkennbare Stadt – Gebäude, die größtenteils noch in einem Stück geblieben waren – vom verwüsteten Hinterland. Dieses Grenzgebiet – nun, es war der Rand, an dem die meisten Gestrandeten zu leben schienen, die ungesicherten Bereiche, in denen sie ihr Glück versuchten.

Ihre Entscheidung. Nicht unsere.

Es war nicht die Aussicht, die Dom aus der Kabine eines King Raven-Helis gewohnt war. Bewegungslose Ruhe, trügerisch friedlich, nicht die dahinjagende, schlingernde Abfolge unzusammenhängender Bilder. Er konnte einen Moment nachdenken. Zehn Jahre waren vergangen und immer noch versuchte er sich vorzustellen, wo Maria jetzt sein könnte. Er fing an sich zu fragen, wie sie Sera jemals wiederaufbauen sollten, und die Vorstellung war so überwältigend, dass er das einzig Vernünftige tat und einfach nur daran dachte, wie er die nächsten Stunden lebendig überstehen würde.

»Dom, wenn du da noch länger rumstehst, schießt dir noch jemand einfach aus Jux den Arsch weg«, rief Cole. »Lass uns ein Fahrzeug requirieren und ein bisschen Boden wettmachen.«

Dom war sich nicht sicher, ob der Scharfschütze weit gekommen war. Gelände wie dieses machte es schwer, sich schnell fortzubewegen. Ständig kriechen, klettern, ducken, durchwühlen. Dafür allerdings konnte man sich bestens verstecken. Wer immer es sein mochte – Dom war sich sicher, er würde sich noch hier herumtreiben.

»Der kommt zurück.« Dom versuchte, nicht groß über den Höhenunterschied nachzudenken. Er drehte sich einfach um und sprang, wobei er sich darauf verließ, dass der lose Schutt und die dicken Sohlen seiner Stiefel den Aufprall abfedern würden. Trotzdem fuhr es ihm durch Mark und Bein. »Er will uns etwas sagen. Bin nicht sicher, was, aber …«

Aber Marcus kam mit Neuigkeiten, die ihn von seiner Grübelei über den Scharfschützen ablenkten. »Bewegt euch, Leute. Echo meldet Maden, die drei Klicks westlich an die Oberfläche kommen. Das heißt, sie bewegen sich vielleicht immer noch entlang dem Sovereign Boulevard-Riss. Wir können da sein, noch bevor irgendjemand ’nen Raven in die Luft bekommt.«

Marcus’ Tonfall klang immer müde und monoton. Selbst wenn er brüllen musste, tat er nichts anderes, als einfach die Lautstärke aufzudrehen. Niemals klang eine Spur von Wut oder Dringlichkeit mit, obwohl Dom nur allzu gut wusste, dass es immer noch ums Ganze ging. Im Augenblick war vom Sieg weit und breit nichts zu spüren.

»Wie viele?«, fragte Dom.

»Ein Dutzend.«

»Aber das bedeutet, dass sie sich verziehen«, stellte Baird fest. Er sah sich gern als den örtlichen Locust-Experten und das war er auch. »Sieht aus, als hätten wir’s geschafft. Wir haben die Scheiße aus ihnen rausgebombt.«

Dom stieß Baird im Vorbeigehen freundlich aber bestimmt gegen die Brust. »Du meinst, Marcus hat’s geschafft. Er war derjenige, der den Maden ’ne Packung Leichtmasse reingewürgt hat.«

»Na, dann wird Hoffman ihm vielleicht doch noch seine Medaillen zurückgeben …«

»Hört auf damit.« Marcus drehte sich um und machte sich im Laufschritt in Richtung Sovereign auf. Die meisten Patrouillen waren gezwungenermaßen zu Fuß unterwegs; APC-Transporter waren Mangelware. »Die Nachzügler könnten uns zahlenmäßig immer noch überlegen sein. Erst mal durchzählen.«

Dom war stolz darauf, durchzuhalten, genau wie sein Vater, genau wie sein Bruder Carlos. Nur nicht den Mut verlieren. Nur nicht die Hoffnung aufgeben. Carlos hatte es Standhaftigkeit genannt. Ein Mann musste standhaft sein und nicht gleich beim ersten Rückschlag verzweifeln. Aber nach vierzehn Jahren des Kampfes waren nur noch ein paar Millionen Menschen am Leben und Dom war bereit, sich an jede Hoffnung zu klammem, dass der Albtraum ein Ende nehmen würde.

Nein, es wird nur eine andere Art Albtraum. Die Zivilisation aus dem Nichts wieder neu aufbauen. Aber immer noch besser, als zu denken, dass jeder Tag dein letzter sein wird.

Das Einzige, was Dom beim Gedanken an seinen Tod beunruhigte, war die Tatsache, dass damit seine Suche nach Maria zu Ende wäre.

»Bin direkt hinter dir«, sagte er und rannte Marcus nach.

 

BÜRO DES VORSITZENDEN RICHARD PRESCOTT, COG HAUPTQUARTIER, JACINTO.

Colonel Victor Hoffman kam fünf Minuten zu früh zur Besprechung und verschwand vorher noch einmal auf der Toilette, um seine Uniform zu richten.

Uniform war übertrieben, genauso wie der Ausdruck »Hauptquartier« für dieses marode Gebäude übertrieben war, aber wenn er erst einmal anfangen würde, irgendwelchen Dingen – und seien sie noch so nichtig – keine Bedeutung zuzumessen, dann würde der Zerfall einsetzen. So wurde Zivilisation aufrechterhalten. Nur so konnte Kultur überleben. Museen und Kunstgalerien mochten zusammenstürzen, die menschliche Gesellschaft auf Sera würde unbeschadet weitermachen. Das Benehmen, das ein Mann an den Tag legte, die grundlegenden Regeln für jeden Zeitpunkt eines jeden Tages – das war alles, was zwischen den letzten Menschen auf Sera und chaotischer Barbarei stand. Das galt es unter allen Umständen aufrechtzuerhalten.

Hoffman untersuchte also Kinn und Kopfhaut auf Stoppeln, zog seinen Kragen zurecht und versuchte die Anzeichen zu verbergen, dass er – wieder einmal – seit sechsunddreißig Stunden keinen Schlaf bekommen hatte.

Was bringt mich wohl zuerst um? Dieser Job oder die Locust?

Hinter ihm öffnete sich die Tür. Der gedämpften Stimme nach zu urteilen nur einen Spalt weit. Eine Frauenstimme; er erstarrte und kontrollierte seinen Reißverschluss.

»Der Vorsitzende empfängt Sie, sobald sie fertig sind, Sir.«

Nicht mal mehr in Ruhe pinkeln konnte man heutzutage. Hoffman drehte sich nicht um. Er setzte seine Mütze wieder auf. »Danke. Nur eine Minute.«

Er zählte langsam bis sechzig, betrachtete sich in dem Spiegel, der ebenfalls schon bessere Zeiten erlebt hatte, und machte dann auf dem Absatz kehrt, um die wenigen Meter den Korridor hinunter zu Prescotts Büro zu gehen. Es war ein Raum, der schon vor dem Tag A länger keine Renovierung erlebt hatte, und zumindest das brachte dem Politiker ein paar Punkte ein. Er nahm die allgemeine Unterversorgung hin wie jeder andere auch.

»Victor«, grüßte Prescott. Er stand vor einer behelfsmäßigen Schautafel, die sich hinter mehreren Papierbögen versteckte, die er einen nach dem anderen studierte. Dann blickte er über die Schulter. »Nehmen Sie Platz. Ist die Lage so hoffnungsvoll, wie es scheint?«

Hoffman faltete seine Mütze und versuchte, nicht sehnsüchtig auf den Kaffee auf Prescotts Schreibtisch zu starren. Er nahm die Einweisungsmappe, die bei diesen sinnlosen monatlichen Besprechungen immer knusprig frisch auf ihn wartete, und überflog die Auszüge. Lebensmittelvorräte: zehn Prozent unter dem Soll. Munition: ein Drittel unter dem Produktionssoll. Betriebsmittel: interne Stromversorgung unter zwölf Stunden am Tag.

Alles wie gewohnt …

»Alles, was ich sagen kann, ist, dass wir seit der Leichtmasse-Detonation hauptsächlich Locust-Drohnen gesehen haben, und die in deutlich geringerer Zahl, Herr Vorsitzender. Normalerweise treffen wir im Verlauf einer Woche auf das gesamte Spektrum an Locust-Arten – Bommer, Grinder, Reaver, was Sie wollen – und viel mehr Drohnen.«

Hoffman brach ab. Mehr hatte er nicht zu sagen. Prescott sah ihn an, als wartete er darauf, dass er fortfuhr und ein paar gute Neuigkeiten vorbrachte, die er bekannt geben konnte. In der kurzen Stille, die eintrat, klang das Ticken der antiken Uhr an der Wand wie Steine, die von einem Felsvorsprung stürzen.

Prescotts Geduld währte ganze sechs Sekunden. »Also hat es funktioniert? Hat die Bombe funktioniert?«

Für Hoffnung hatte Hoffman dieser Tage nicht viel übrig. Ständig wurde sie wieder zerbrochen. Soweit es ihm möglich war, behielt er seine Gedanken auf die Bereiche des Messbaren und Prognostizierbaren gerichtet.

»Sie hat die Locust-Zitadelle zerstört«, sagte er bedächtig. Das war nicht ganz das, was er verspürt hatte, als die Leichtmasse-Bombe die Locust-Tunnels umgekrempelt hatte, aber es gab keinen Grund, Prescott irgendwelchen Mist zu erzählen. »Wir sehen jetzt sehr viel weniger an der Oberfläche und wir haben die meisten von den Kryll vom Hals. Aber außer durch ihre Tunnels zu spazieren und sie einzeln abzuzählen, sehe ich keine Möglichkeit, die Gesamtauswirkung einzuschätzen. Die Zeit wird’s zeigen.«

»Die Leute brauchen gute Nachrichten, um weiterzumachen, Victor.«

»Und wenn wir welche haben, Sir, werden Sie der Erste sein, der sie erfährt.«

»Stimmung ist ein Handelsgut.«

»Ebenso für die Armee. Der Ausrüstungsmangel hat den kritischen Punkt schon längst überschritten.« Die gleiche Unterhaltung führte Hoffman jeden Monat mit Prescott, regelmäßig wie ein Uhrwerk. »Wir werden darüber nachdenken müssen, mehr Zivilisten zur Waffenherstellung einzuziehen.«

»Und wie soll ich das angesichts zurückgehender Locust-Überfälle rechtfertigen?«

Mist, ich kann so oder so nicht gewinnen, was? »Bei allem Respekt, Sir, aber wem gegenüber sollten Sie es rechtfertigen?«

»Der Bevölkerung. Die steht mit nichts da, genau wie Sie.«

»Ohne eine schlagkräftige Armee stehen sie tot da.«

»Ich wünsche keine Ausschreitungen mehr wegen Rationierungen und Stromausfällen.«

»Hören Sie, Herr Vorsitzender, im Augenblick sind meine Gears nicht ganz so beschäftigt wie sonst. Der Zeitpunkt ist günstig, um einen Teil der Arbeitskräfte dazu einzusetzen, so viel an Ausrüstung zu erneuern, wie wir nur können. Selbst wenn die Locust geschlagen sein sollten, brauchen Sie trotzdem eine starke Armee für die Zeit des Wiederaufbaus. Wenn erst einmal gewisse Gruppen auf die Idee kommen, die Gefahr sei gebannt, haben Sie eine ganze Ladung neuer Probleme am Hals. Lassen Sie uns jetzt auftanken, solange wir eine Atempause haben.«

Es war die reine Wahrheit, eine stichhaltige Folgerung, und Hoffman wusste, wie Politiker zu steuern waren. Sie dachten nur kurzfristig; aber fuchtelte man mit einer ordentlichen Bedrohung rum, die ihre Aufmerksamkeit einfing, richteten sie ihren Blick in die Feme. Hoffman besaß leider nicht den Luxus, an etwas anderes zu denken, als seine Männer satt und bewaffnet über den nächsten Tag, die nächste Woche, den nächsten Monat zu bringen. Wenn Prescott ihm also nicht mehr auf die Pelle rückte, weil er sich auf Bürgerunruhen und Wiederaufbau konzentrierte, hätte er eine juckende Stelle weniger zu kratzen.

»Ich verstehe«, meinte Prescott. »Auch ich habe die Uniform getragen.«

Achtzehn Monate lang. Der Form halber. Schon mal unter Beschuss gekommen? Nein. »Dann kennen Sie auch den Vertrag mit der Gesellschaft, Sir. Gears setzen ihr Leben aufs Spiel und Zivilisten sorgen dafür, dass sie genügend Ausrüstung und Unterstützung bekommen, um den Job zu erledigen. Alles darunter wäre moralisch inakzeptabel. Und dazu noch das Rezept für eine Niederlage.«

Prescott ging ans Fenster, verschränkte die Arme und blickte auf die Stadt. Der Schmutz auf den Scheiben – nichts wurde mehr gepflegt, der Prunk eines weniger grausamen Krieges war verblasst – gab der zerklüfteten Skyline von Jacinto einen weicheren, schmeichelhafteren Anstrich.

Er stieß einen lang gezogenen Seufzer aus. »Der durchschnittliche männliche Bürger kommt mit zweitausenddreihundert Kalorien am Tag aus, ungefähr ein Drittel von dem, was ein Gear verbraucht, bei Frauen sind es tausendachthundert. Mehr als zwölf von sechsundzwanzig Stunden haben wir keinen Strom. Die Wasseraufbereitung kommt nicht nach. Wenn die Lebensmittelrationen für Familien nicht daran gebunden wären, dass die Kinder zur Schule gehen, würden Meuten verwilderter Bälger durch die Straßen ziehen. Meine Aufgabe besteht darin, die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, Victor, mit allen Mitteln. Ich muss über den Krieg hinaus denken. Mein Job ist das Morgen.«

»Nun, ich bin nur ein Soldat«, sagte Victor vorsichtig. »Mein Job ist es, dafür zu sorgen, dass es überhaupt ein Morgen gibt.«

»Gut, die Leute gegen diesen Feind aufzubringen, war leicht«, meinte Prescott. »Das sind nicht die Pendelkriege. Die Locust sind nicht ansatzweise menschlich. Und es hat auch niemand eine verwandte Made in Übersee, die einem etwas anderes erzählen würde. Sie sind das Gegenteil der Menschheit, wahre Monster. Aber Hass und Stammestum können eine Gesellschaft nur bedingt einen.«

»Wir haben es vierzehn Jahre lang geschafft.« Hoffman erhob sich und setzte seine Mütze auf. Mit einer routinierten, fast unbewussten Bewegung brachte er das Abzeichen auf eine Linie mit seinem Nasenrücken, wobei sein Zeigefinger über das Metall strich, während seine Linke den hinteren Teil der Mütze zurechtzog. Wenn er das Totenkopfemblem berührte, fragte er sich manchmal, ob es Angeberei oder eine Prophezeiung darstellte. »Wir leben im Belagerungszustand. Ich bin gut in Belagerungen. Nennen Sie mir ein Ziel und ich sage Ihnen, ob ich es mit den verfügbaren Mitteln und Männern erreichen kann.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, erwiderte Prescott.

Hoffman verstand ein »Hau ab«, wenn er es hörte.

Es gab jetzt nur noch Männer, oder zumindest fast. Die Tage der Pendelkriege, in denen auch Frauen in Uniform steckten, waren weitestgehend vorbei. Als Hoffman ging, stand ein Mädchen in einem braven blauen Geschäftsanzug – vielleicht das Mädchen, das die Tür zur Toilette geöffnet hatte – an einem Aktenschrank. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, aber als sie sich umdrehte, konnte er sehen, dass sie bereits seit mehreren Monaten schwanger sein musste. Das war jetzt der vorrangige Job: Nicht nur Maschinen- und Waffenteile ersetzen, sondern Menschen.

Bedeutet allerdings längere Durchlaufzeit …

»Ma’am«, grüßte er höflich, hob den Zeigefinger an den Schirm seiner Mütze und ging hinaus auf den Platz.

Vielleicht war es nur Einbildung, aber der Himmel schien weniger bewölkt als sonst. Er sah hinauf und sah nichts. Nichts war schon mal gut.

Sein Funkgerät knisterte. Lieutenant Strouds Stimme, die sich in seinem Ohrstöpsel meldete, klang mitgenommener als gewöhnlich.

»Sir – zwei weitere Drohnenüberfälle. Delta ist unterwegs zum Sovereign, um sich mit dem Echo-Trupp zu treffen.«

»Danke, Lieutenant. Gönnen Sie sich ’ne Mütze Schlaf. Sie sind nicht die einzige Kommandantin in der Zentrale. Sagen Sie Mathieson, er soll seinen faulen Hintern in Ihren Sessel hieven.«

»Ja, Sir. Stroud Ende.«

Die Verbindung brach ab. Anya Stroud konnte Hoffman nicht hereinlegen. Sie behielt ein besonders wachsames Auge auf Delta und das lag bestimmt nicht an deren kultiviertem Kunstsinn. Falls sie glaubte, sie könne Marcus Fenix bessern und einen respektablen Mann aus ihm machen, dann hatte Hoffman ihre Intelligenz überschätzt. Aber es war nicht seine Aufgabe, ihr Vorträge darüber zu halten, wie aussichtslos es war, völlig unpassende Männer anzuschmachten. Solange sie deswegen ihre Pflichten nicht vernachlässigte, blieb es ihr eigenes kleines Problem.

Und sie war auch nicht ihre Mutter, das arme Ding. Es musste verdammt hart gewesen sein, im Schatten von Helena Stroud aufzuwachsen.

Oder von Adam Fenix, wo wir schon dabei sind. Hoffman konnte sich gerade noch zusammenreißen, bevor er tatsächlich Mitleid für dessen Sohn verspürte.

»Du hast mir noch ’ne ganze Menge Boden gutzumachen, Fenix«, sagte Hoffman laut. Er ging die Straße vom Hauptquartier hinunter und auf dem Weg wollte er sich plötzlich ein Gewehr schnappen. So hatte er schon lange nicht mehr reagiert, aber auf einmal fühlte er sich nur mit seiner Pistole nackt, selbst hier, im geschützten Herzen der Stadt ,»’ne ganze Menge.«

 

SOVEREIGN BOULEVARD, JACINTO

Dom konnte die Schüsse schon hören, lange bevor sie die Kreuzung zum Boulevard erreichten. Marcus rannte schneller und folgte dem Lärm im Sprint.

»Der bringt uns noch alle um«, murmelte Baird, ohne seinen Laufschritt zu beschleunigen. »Das Arschloch.«

Cole verpasste ihm einen spielerischen Stoß in den Rücken, was bei einem Typen, der gebaut war wie ein Vorschlaghammer auf zwei Beinen, einen ordentlichen Rums abgab. Baird stürzte beinahe. »Komm schon, Baby.« Cole überholte ihn. Er konnte immer noch wie ein Profisportler sprinten. »Du willst doch keinen Hässlichen abbekommen.«

Wenn es um die Locust ging, standen nur hässlich und hässlicher zur Auswahl. Dom wechselte den Kommunikationskanal und empfing den Sergeant vom Echo-Trupp, Rossi, der in allen Regenbogenfarben fluchte, während er sein Magazin leer ballerte. »Hat ja verdammt lang gedauert, Delta!«

Marcus’ Stimme schaltete sich dazu. »Tja, jetzt sind wir ja da. Sollen wir euch unter die Arme greifen?«

»Wir sind schon zwei weniger. Was glaubst du? Wir haben uns in der Einkaufspassage verschanzt. Besser gleich als später.«

Es hieß, es gäbe zwei Sorten Leute: diejenigen, die vor der Gefahr davonrennen und diejenigen, die direkt in sie hineinrennen. Es war schon komisch, wie man den Instinkt, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, überwinden konnte, wenn man hart genug darauf gedrillt worden war. Doms Beine bewegten sich unabhängig von seinem Gehirn, und als er hinter Cole um die Ecke bog, sah er, was Rossis Männern solchen Ärger machte: Es war der größte Boomer, den er je gesehen hatte, und er hatte noch eine Schwadron seiner Drohnen-Kumpels mit dabei.

Der weitläufige offene Raum des Boulevards bot herzlich wenig Schutz. Dom und der Rest von Delta bahnten sich ihren Weg die Straße hinauf, indem sie von einem Eingang zum nächsten jagten, und gingen dann für einen Moment hinter einem umgeworfenen Müllcontainer in Deckung.

Früher einmal hatten sorgfältig gestutzte Bäume den gesamten Bereich südlich des House of Sovereigns geschmückt. Überall lockten teure Läden und Straßencafés, die Doms Budget überstiegen, aber er war mit Maria zum Schaufensterbummeln hier gewesen, bevor die Kinder auf die Welt kamen.

Bis auf die zertrümmerten Steinfassaden wies so gut wie nichts darauf hin, dass dies einmal ein freundlicher Ort gewesen war. Die ganzen weißen Marmorstatuten, die in den Mauernischen gestanden hatten, waren fort. Dom konnte nicht einmal mehr erkennen, wo sich die Hochbeete für die Blumen befunden hatten.

Der Boomer und die Drohnen, die ihn begleiteten, waren mit dem Eingang zur Einkaufspassage, einem weiteren umfunktionierten historischen Gebäude, beschäftigt.

Die Türen waren längst fort, aber das Schließgitter – ein massives, zwischen geriffelten Säulen eingehängtes Fallgatter aus Stahl – war heruntergelassen worden. Der Boomer rüttelte so mühelos daran herum wie ein Nachtwächter, der eine schwache Tür überprüft. Lange würde das Gitter nicht mehr halten.

Marcus hatte sein Sag-nichts-ich-denke-nach-Gesicht aufgesetzt. »Rossi«, sagte er mit dem Finger an seinem Ohrstöpsel. »Rossi, ist das Zwischengeschoss über dem Eingang noch intakt?«

Rossis Stimme war unter dem ganzen Gewehrfeuer kaum zu hören. »Ja. Um die ganze Vorhalle herum. Höhe ungefähr fünf Meter.«

»Habt ihr die Schließgitter unter Kontrolle?«

»Schließmuskeln – nein. Schließgitter – ja.«

»Auf mein Zeichen hochfahren.«

»Wir haben auch Maden hier drinnen. Ich hatte eigentlich nicht vor, Verstärkung reinzulassen.«

»Einfach hochfahren, wenn ich es sage.«

»Und wozu?«

»Lasst den Boomer rein und überlasst den Rest uns. Wir gehen von oben rein.«

Rossi schwieg einen Augenblick. Im Hintergrund konnte Dom eine Stimme hören, die jemanden namens David ermutigte, durchzuhalten. Sie mussten Verwundete evakuieren.

»Uns bleibt wohl keine Wahl, was?«, meldete sich Rossi wieder. »Halten uns bereit.«

»Funkkanäle offen halten.« Marcus drehte sich um. »Okay, wir haben zwei Ausgänge auf der Rückseite der Passage, erreichbar über die Verladerampen. Die Notausgänge rauf, übers Zwischengeschoss und dann legen Dom und ich den Boomer von oben um.«

»Und was mach ich solange? Rumsitzen und stricken?«, sagte Baird. »Woher kennst du überhaupt den Grundriss?«

»Meine Mutter ist hier oft hergekommen, als ich noch klein war«, erklärte Marcus ruhig. »Ich war immer auf Erkundungstour.«

»Und da sollen wir uns jetzt drauf verlassen? Auf die Einkaufsbummel deiner Mama?«

Dom war sicher, Marcus würde Baird früher oder später ordentlich eine semmeln. Er hatte es noch nie erlebt, dass Marcus die Beherrschung verlor, aber niemand konnte den ganzen Tag Bairds Nörgeln aushalten, ohne den Drang zu verspüren, die Scheiße aus ihm rauszuprügeln. Je länger Marcus es stillschweigend hinnahm, desto heftiger war der Wutausbruch, den Dom erwartete.

»Genau«, seufzte Marcus. »Deshalb geben du und Cole uns Feuerschutz, falls die Maden uns bemerken. Wenn wir erst einmal drin sind und die Gitter hochfahren, schließt ihr auf und geht nach ihnen rein.«

Baird murmelte immer noch über Funk, was für ein Schrottplan das Ganze sei, während Dom hinter Marcus den Weg zurückging, den sie gekommen waren, und dann mit ihm in eine Seitengasse abbog, um den Block zu umrunden. Genau wie Marcus gesagt hatte, gab es einen Hintereingang zur Einkaufspassage. Die Mauem waren noch intakt, die Türen fehlten.

Dom überprüfte seinen Lancer und folgte Marcus auf ihm offenbar vertrautes Gelände. »Du hast gesagt, wir legen den Boomer um, Marcus. Definiere bitte umlegen.«

»Draufspringen. Rübe runterreißen.«

Boomer waren so groß und stark, dass sie kleinere Artilleriestücke mit sich tragen konnten. Außerdem waren sie dumm wie Brot, nicht annähernd so clever wie Drohnen, deshalb bestand eine Möglichkeit, gegen ihre schiere Stärke zu gewinnen, darin, sie zu überlisten und so nahe an sie heranzukommen, dass sie ihre Waffen nicht einsetzen konnten.

Natürlich nur, solange sie dir nicht zuerst die Rübe runterreißen …

Marcus rannte die Treppe hoch. Er nahm dabei jeweils zwei Stufen auf einmal und folgte irgendeiner Karte aus seiner Kindheit, die er offenbar noch deutlich vor Augen hatte. Dom hatte einen großen Teil dieser Kindheit mit ihm zusammen verbracht, aber hierher war er niemals gekommen. Vielleicht war es für ihn kein schöner Ort gewesen.

»Okay, ich dachte mir, dass du das meinst«, sagte Dom. »Aus nächster Nähe.«

»Er wird unseren Fall stoppen.«

Richtig, Marcus meinte auch draufspringen so, wie er es sagte.

Was zur Hölle mach ich, wenn er dabei drauf geht?

Die Kinder zu verlieren, war schon schlimm genug gewesen. Aber als Maria verschwand, war es Marcus gewesen, der Dom irgendwie beieinander gehalten hatte, ob es ihm bewusst gewesen war oder nicht. Der Kerl war sein Freund und seine letzte Verbindung zu glücklicheren Zeiten. Er war nicht ersetzbar, nicht in einer kaputten Welt wie dieser. Der einzige Vorteil bestand darin, dass jeder, wirklich jeder, seine Familie und Freunde verloren hatte. Man trauerte nicht allein. Man wurde verstanden.

Ich lasse nicht zu, dass er sich noch selbst umbringt.

Marcus, der Doms Sorgen nicht im Geringsten wahrnahm, trat am oberen Ende der Treppe eine Tür ein. Die beiden Männer starrten in absolute Dunkelheit.

»Licht«, sagte Marcus und klang, als spräche er mit sich selbst. Er tat das immerzu, vom ersten Tag an, an dem Dom ihm begegnet war. In den Korridor fiel kein Tageslicht. »Warum können die uns keine verdammten Taschenlampen mitgeben? Okay, dieser Arbeitsgang geht an den Verwaltungsbüros vorbei und mündet dann beim Aufzug ins Zwischengeschoss.«

»Was, wenn der Bauplan geändert wurde, seit du das letzte Mal hier warst?«

»Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Da kann man nicht einfach die Innenwände verschieben.«

Es war eher unbedeutender Kram, an den sich Marcus gut erinnern konnte, aber im richtigen Moment konnte das enorm nützlich sein. Nachdem sie sich fünfzig Meter mit den Händen an der Wand den Weg ertastet hatten, bogen sie nach rechts um eine Ecke. Weiter vom konnte Dom ein helles Rechteck erkennen. Im Korridor hallte jetzt der Lärm eines heftigen Feuergefechts wider.

»Die Türen zum Zwischengeschoss«, erklärte Marcus. Jetzt war es nur noch ein großes Loch, an dem nicht mal mehr die Türangeln hingen. »Alles klar bei dir?«

»Bestens.«

»Du glaubst, ich hätte ’nen Todestrieb.«

»Nein.« Naja, vielleicht … manchmal. »Hey, wir ziehen das zusammen durch, okay? So haben wir es schon immer gemacht und dabei bleibt’s auch.«

Dieses Mal ging Dom als Erster durch die Tür, obwohl er nicht einmal den Bauplan kannte. Der Krach traf ihn wie eine Steinwand. Als er sich erst einmal im Zwischengeschoss befand, wurde alles klar. Es verlief wie ein Balkon und von hier oben konnte Dom das gesamte Erdgeschoss der Einkaufpassage sehen, von den in Stein gemeißelten Vorhängen am Eingang bis zu den rußgeschwärzten Verkleidungen der Läden, die die Innenhalle säumten. Vereinzeltes Mündungsfeuer erhellte die Szenerie. Rossi hockte hinter einer steinernen Stützmauer neben der Treppe zum Kellergeschoss und neben ihm lag ein zusammengesackter Gear – David? – in einer dunklen Lache. Marcus rannte zum gegenüberliegenden Ende des Balkons, das direkt über dem Eingang lag.

»Rossi«, rief er. »Rossi, das Gitter hoch. Jetzt.«

»Scheiße, kommt er überhaupt an den Schalter?« Dom legte eine Hand auf die Steinbalustrade, bereit, über das Geländer zu springen. Es waren nur fünf Meter. Schon, aber direkt auf einen beschissenen Boomer. Er war jetzt so auf Adrenalin, so darauf eingeschossen, Marcus zu folgen, ganz gleich, was geschah, dass ihm alles glasklar und grell bunt ins Auge stach und jede Bewegung irgendwie in Zeitlupe und gleichzeitig blitzschnell ablief. »Kommt er dran?«

»Das war mal der Schreibtisch vom Sicherheitsdienst«, erklärte Marcus. Erhielt sein Gewehr in der Rechten und stützte sich mit der Linken auf das Geländer, während er sein linkes Bein auf die Balustrade schwang. Sein Blick schoss zwischen Rossi und dem Eingang hin und her. »Er sitzt direkt auf der Steuerung.«

Das Gitter bebte und fing an, hochzufahren.

»Bereithalten«, sagte Dom.

»Ich geh zuerst und du gibst mir Deckung, okay?«

»Okay.« Boomer konnten sehr viel mehr einstecken als Drohnen. »Und wenn du ihn nicht auf Anhieb umlegst, geb ich die Verstärkung.«

Der Eingang lag fast direkt in Rossis Schusslinie. Als Dom sich bereit machte, über das Geländer zu springen, wurde ihm klar, dass er geradewegs ins Kreuzfeuer geraten könnte, aber er war zu aufgeladen, um anhalten zu können. Das Gitter fuhr weit genug hinauf, um den Boomer hineinzulassen. Er duckte sich unter dem Hindernis hindurch, ging beinahe in die Hocke, und hielt dann für einen Sekundenbruchteil inne, um hinaufzuschauen.

Marcus jagte die erste Salve in das Vieh hinein, aber es ließ sich dadurch kein bisschen bremsen. Boomer schienen keine Schmerzen zu spüren. Dann krachte er runter auf den buckeligen Rücken.

Das hier war ein Zwei-Mann-Job. Dom sprang ebenfalls, Stiefel voraus, und für einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob er Marcus oder den Boomer getroffen hatte, aber so oder so fühlte es sich an, als wäre er auf Beton aufgeschlagen. Der Boomer ging mit dem Gesicht voraus zu Boden. Die Wucht des Aufschlags presste Dom die Luft aus den Lungen und er schmeckte Blut in seinem Mund.

Als sich der Boomer auf die Knie erhob, um sie abzuschütteln, war Dom sich dem ohrenbetäubenden Feuer über seinem Kopf bewusst, aber sonst nichts. Er legte seinen Arm um den fetten Hals und packte den Boomer im Würgegriff, während Marcus ihm ein Magazin in die Eingeweide jagte.

Er wich zurück, um nachzuladen. Dom sprang ab und übernahm das Feuern. Scheiße, die Dinger konnten echt einstecken. Denen war nicht mal mit der Kettensäge beizukommen.

Die gewöhnlichen Maden dagegen … das war schon was anderes. Eine Drohne kam aus den Trümmern auf sie zu, gerade als der Boomer von Kugeln durchsiebt in die Knie ging. Dom drehte sich herum, um zu feuern, aber die Made sprang zuerst Marcus an.

»Scheiße …« Dom hatte kein freies Schussfeld, während Marcus mit der Made rang, also drehte er seine Kettensäge auf. Über die Schulter runter, direkt in die Hauptleitungen. Weg von meinem Kumpel, du Bastard! »Marcus, halt durch!«

Aber Marcus war selbst schon am Schnitzen. Seine Kettensäge jaulte auf und ratterte gegen die Rüstung. Der Umgang mit der Kettensäge verlangte präzise Methode: Man musste sein Gewicht in sie hineinlegen, andernfalls griffen ihre Zähne nicht und rutschten ab. Die beste Aktion war ein Abwärtsschnitt, bei dem man sich in den Gegner hineinlegte, aber Marcus lag auf dem Rücken und musste nach oben schneiden, und die Made schlug immer noch um sich, auch wenn sie ihre Waffen auf so kurze Distanz nicht einsetzen konnte. Dom säbelte ihr in die Schulter, aber das Ding bewegte sich immer noch.

Dafür war der Boomer jetzt aus dem Spiel und lag als zitternder Fleischberg am Boden. Irgendwie behielt Dom ihn im Augenwinkel, während er die Made auf Marcus zerschnetzelte. Er glaubte schon, das Ding würde nie sterben, bis es aufheulte, den Kopf zurückwarf und sich mit Wucht zur Seite warf. Als Dom sich wieder aufrappelte, sah er einen Schwall arteriellen Bluts aufspritzen und Marcus zur Seite rollen, dann trat eine plötzliche Stille ein.

Der Boomer war am Boden. Er war immer noch nicht tot – wie konnte er in dem Zustand nur durchhalten? –, aber er würde es sehr bald sein. Die Viecher verbluteten wie jedes andere Lebewesen auch.

»Noch andere?«, fragte Marcus, als er aufsprang. »Waren das alle? Baird? Cole?«

»Ich bin am aufwischen, Baby.«

Cole kam hinter einer zertrümmerten Säule zum Vorschein und eröffnete mit dem Lancer in einer Hand fast beiläufig das Feuer. Dom drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie ein paar Meter entfernt eine Drohne umgerissen wurde und dabei noch eine Salve abgab, die nach oben schwenkte und in die gewölbte Decke krachte.

»Schön.« Marcus wischte sich übers Kinn und blickte auf seine Handfläche. »Scheiße …«

Cole sah mit leichtem Widerwillen hinunter auf die toten Maden und stupste eine von ihnen testweise mit dem Stiefel an. Dann atmete er ein.

»Ich hasse diesen Geruch.« Seine Stimme klang gedämpft, aber das lag nur an Doms Ohren, die sich erst noch von dem Lärm erholen mussten. »Aber ich werd mir davon trotzdem nicht das Abendessen verderben lassen. Sind wir hier fertig?«

Marcus sah sich um. »Sind alle okay? Rossi, bist du noch da?«

»Ja.« Rossi stand auf. Er war mit Blut besudelt, das von jedem hätte stammen können – sogar von dem Boomer. »Ich hab Verwundetenevakuierung angefordert. David geht’s ziemlich übel. Bauchwunde. Und ich muss noch Harnes’ Gewehr finden.«

Es war eine Tatsache des Lebens, bedingt durch die Verknappung: Sie mussten versuchen, wenn möglich jedes Ausrüstungsteil zu bergen. Rossi und der letzte Gear, der vom Echo-Trupp übrig geblieben war, trugen David ins Freie, um auf den King Raven zu warten, und gingen noch mal wegen Harnes’ Leiche zurück. Dom, der sich in einem seltsamen Schwebezustand zwischen dem Kampf ums nackte Überleben und plötzlicher Langeweile befand, stellte fest, dass er in Bewegung bleiben musste. Immerzu sah er noch Schatten, die gar nicht da waren. Das kam dabei raus, wenn er mit zu wenig Schlaf an seine Grenzen ging. Er hätte schwören können, dass er jemanden in die Einkaufspassage hatte gehen sehen.

»Ich werd mal schauen«, sagte er. »Dauert nicht lang.«

Baird wühlte in seinen Taschen und fischte Munition heraus, um nachzuladen. »Der Heli wird jede Minute da sein.«

»Ich hab gesagt, ich werd nachschauen. Stimmt’s, Rossi?«

Rossi hielt mit festem Griff Davids Hand. Es sah nicht so aus, als wäre der Kerl noch in der Lage, den Griff zu erwidern. »Danke.«

Dom bahnte sich seinen Weg zurück durch die Passage und fragte sich, was mit den toten Locust geschah, wenn es keinen Leichenberg gab, den man anzünden konnte, um zu verhindern, dass sich Krankheiten ausbreiteten. Manchmal, wenn er an einen Einsatzort zurückkehrte, verwesten dort die Leichen und manchmal waren sie fort. Vielleicht wurden sie von den Meuten der verwilderten Hunde und Katzen geholt. Kein besonders appetitlicher Gedanke.

Er war sich jedoch sicher, dass die Locust nicht wegen ihrer Toten zurückkehrten. Sie waren nicht wie Menschen. Sie rühmten sich nicht damit, niemals eine Made zurückzulassen.

Er warf noch einmal einen Blick auf den Boomer. Scheiße: Der war nicht tot. Der war immer noch nicht hin. Als er um den Fleischberg herumging, folgten ihm die Augen mit unheilvollem und anklagendem Blick. Nach all dem klammerte sich das Ding immer noch ans Leben. Genau wie David. Dom legte mit dem Lancer an und hielt kurz inne, um sich über Funk bei Marcus zu melden.

»Ignorier die Schüsse«, sagte er. »Ich bring nur den Job zu Ende.«

Er entleerte sein Magazin in den Boomer. Er war sich nicht sicher, ob er es tat, um dafür zu sorgen, dass das Vieh garantiert nicht mehr aufstand, oder ob er es aus menschlichem Anstand heraus tat, damit es von seinen Leiden erlöst wurde.

Vielleicht war es Verschwendung wertvoller Munition. Aber wenigstens war es jetzt tot. Er wartete, bis die Brust des Boomers aufhörte, sich zu bewegen, und fing dann an, nach Harries’ Lancer zu suchen, ohne dabei auf die Leichen zu achten. In den Pendelkriegen hatte er Gemeinsamkeiten mit den feindlichen Soldaten erkannt, aber die Locust – die repräsentierten irgendwie all das, was schlecht an den Leuten war, sie besaßen keinerlei achtbare Vorzüge. An ihnen gab es nichts zu bemitleiden, zu lieben oder anzuerkennen.

Und sie rochen mies. Dieser Geruch klebte an ihm, bis er ihn zusammen mit Staub und Schmauch abgeduscht hatte. Von dem Lancer war nichts zu sehen. Wieder zuckte etwas in seinem Augenwinkel und er fuhr herum, obwohl er wusste, dass es nur die Müdigkeit war. Direkt vor ihm befand sich ein Ladengeschäft, dessen Eingang zum Teil von Trümmern blockiert wurde.

Es war verrückt, aber er musste es überprüfen.

Als Dom mit erhobenem Gewehr durch die Öffnung trat, glaubte er ein Schlachthaus zu betreten. Überall zwischen dem Schutt der eingestürzten Decke lagen Leichen verstreut. In dem verrauchten Zwielicht konnte er Arme und Beine aus dem Schutt ragen sehen und sein erster Gedanke war, dass ein Haufen Gestrandeter hier gelebt haben musste, als das Gebäude unter Beschuss geriet.

Für eine Sekunde glaubte er, er sei auf eine Leiche getreten, und schreckte zurück, aber das laute Knacken unter seinen Stiefeln klang nicht nach Knochen, es klang wie …

Plastik.

Erst jetzt erkannte er, dass die Leichen bloß alte Schaufensterpuppen waren, denen man jedes wieder verwertbare Material abgezogen hatte. Er hob einen vereinzelten Unterarm auf. Sogar die kleinen metallenen Kugelgelenke fehlten an beiden Enden. Er kam sich blöd vor, aber er wusste, dass er nicht der erste Kerl war, der im Eifer des Gefechts diesen Fehler machte.

Dom konnte jetzt das abgehackte Wummern des eintreffenden Raven hören. Er bahnte sich seinen Weg zum Ausgang und blinzelte ins Tageslicht der Einkaufspassage, das den Rest dieses Ortes in relative Dunkelheit tauchte. Sein Magen knurrte und er kramte in seiner Gürteltasche nach einer Trockenration, um den gröbsten Hunger zu vertreiben. Genau in diesem Moment, er hatte die Plastikfolie noch zwischen den Zähnen, um den Riegel aufzureißen, blickte er auf und starrte in den Lichtstrahl eines Gewehrscheinwerfers.

Noch bevor ihm bewusst wurde, was eigentlich los war, legte er an. Er feuerte.