KAPITEL 7
Ich versteh nicht, warum ihr jammert. Klar verdienen die Gears mehr Rationen als der Rest von uns. Sie kämpfen, um uns zu verteidigen. Jeden Tag. Das ist ein knochenharter Job. Wollt ihr, dass uns irgendwelche abgemagerten Kümmerlinge vor den Locust schützen? Wir wären alle schon tot. Schwangere Frauen bekommen Extrarationen, weil sie sie eben auch brauchen, aber der Rest von uns halt nicht – weniger Kalorien sind sowieso gesünder und vor dem Tag A haben massig Leute auf Sera so gelebt. Wieso haltet ihr nicht einfach alle die Klappe und dankt Gott, dass ihr noch am Leben seid?
(EIN AUFGEBRACHTER BÜRGER JACINTOS BEI EINER ÖFFENTLICHEN VERSAMMLUNG ZUR BESPRECHUNG DER LEBENSMITTELRATIONIERUNG)
Sarfuth, Nordregion, Auf Der Falschen Seite Der Grenze Zu Maranday; Siebzehn Jahre Zuvor, Drei Jahre Vor Tag A
Marcus ließ sich neben Carlos in den Schnee fallen. »Scheiße, ziehen wir ihn weg. Komm schon.«
Es schien verrückt, sich in einem Krieg, der sich über Jahrzehnte erstreckte und Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, über solche Kleinigkeiten den Kopf zu zerbrechen. Aber Kriege drehten sich um die kleinen Dinge, die Attentate, die Fußnoten. Carlos war auf Autopilot, als er den Schlittentyp an den Knöcheln packte, während Marcus ihn bei den Schultern nahm, aber er vergaß nicht, sein Nachtsichtgerät wieder herunterzuziehen.
Die paar Meter zurück über die Grenze waren anstrengender als ein Dauerlauf über zehn Klicks. Während sie die Leiche durch den Schnee wuchteten, beobachtete Padrick durch den Nachtsichtfilter seines Scharfschützengewehrs die Landschaft, hielt nach Aktivitäten Ausschau und murmelte irgendetwas davon, dass er den Bastard auf der richtigen Seite der Grenze hätte umlegen können.
Wenigstens hatte Carlos es leise getan.
Sie packten die Leiche unter die Pipeline, hockten sich in den Schutz des APCs und starrten in die Dunkelheit. Wegen des Schneemobils und des Bluts konnten sie nichts unternehmen, aber soweit es Carlos betraf, brauchten sie das auch nicht. Es konnte den Unabhängigen nicht schaden, zu wissen, dass man sie alle machte, wenn sie versuchten, Anlagen auf dem Territorium der COG zu sabotieren, und dass sie nicht einmal jenseits der Grenze sicher waren.
»Ich geh mal nachsehen, was der überhaupt in das Loch legen wollte«, sagte Marcus, ohne hinzufügen zu müssen, dass sie tief in der Scheiße sitzen würden, wenn es kein Sprengstoff war. »Überprüf du die Leiche.«
Ich hab ’neu Typen umgelegt.
Es war nicht das erste Mal, dass Carlos das eingesetzt hatte, was die Ausbilder tödliche Gewalt nannten, aber das hier war anders; es war persönlich. Wie bei einer Kneipenschlägerei, die aus dem Ruder läuft. Sein Herz sprang ihm beinahe aus der Brust und er fühlte sich ganz anders als in den Situationen, in denen er das Feuer feindlicher Stellungen erwidert oder einen Mörser abgefeuert hatte. Aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich einen Reim darauf zu machen. Er öffnete die Jacke des Schlittentypen und kramte in seinen Taschen. Abgesehen von dem nassen Stoff – Blut, nicht Wasser – war es, als würde man einen Besoffenen durchsuchen. Er fand Papiere, ein Schlüsselbund und eine kleine Pistole, aber in diesen Teilen der Welt besagte eine Feuerwaffe noch lange nichts.
Carlos drehte den Schlüsselbund um. Scheiße. Der Anhänger war irgendeine Zeichentrickfigur – ein Vogel. Der jahrelange Gebrauch hatte ihn abgenutzt und zerkratzt, als hätte man darauf herumgekaut. Als er jedoch das Nachtsichtgerät zurückschob und mit seiner Taschenlampe daraufleuchtete, konnte er sehen, dass die Figur mindestens ein Mal sorgfältig neu angemalt worden war.
Was immer es sein mochte, es hatte diesem Kerl etwas bedeutet.
Carlos schaltete die Taschenlampe wieder aus und zog das Nachtsichtgerät herunter, bevor er die Kapuze des Typen zurückzog. Glatt rasiert, vielleicht Mitte dreißig. Er legte seine Daumen an die Ränder der Schneebrille und drückte sie nach oben.
Das Bild, das sein Nachtsichtgerät ihm vermittelte, traf Carlos völlig unvorbereitet. Die Augen des Schlittentypen starrten ihn wie leuchtende Scheiben an. Er hatte diesen Effekt schon tausendmal auf Nachtpatrouille in lebendigen Gesichtern gesehen, aber für einen Sekundenbruchteil war er wie vom Donner gerührt. Er drehte den Kopf zur Seite, um den Blick zu vermeiden, aber das Gesicht blieb trotzdem ein Gesicht und er sah weder ausländisch noch fremd oder sonst irgendwie anders aus. Er sah wie jeder x-Beliebige aus, an dem Carlos auf seinem Nachhauseweg vorbeiging.
»Scheiße, warum kannst du nicht nach Feind aussehen?«, murmelte er. »Warum machst du es mir nicht ein bisschen einfacher?«
Die Papiere des Schlittentypen verrieten ihm nur, dass er einen Angelschein und einen Ausweis besaß. Beides passte zueinander.
Marcus kam mit knirschenden Schritten zurück.
»Da«, sagte er und ließ ein paar Gegenstände neben Carlos in den Schnee plumpsen. Sie sahen aus wie Zuckerpäckchen. »Gute Entscheidung.«
Carlos nahm eines der Päckchen und drückte es, aber der schwache Geruch verriet ihm alles, was er wissen musste. Es war eine enorme Erleichterung. Sprengstoff- Militärqualität. Er hatte keinen unglückseligen Zivilisten beim Fallenstellen umgebracht.
»Tja, seine Ich-jag-lustig-Sachen-hoch-Tage sind vorbei«, sagte Carlos und versuchte, sich so anzuhören, als hätte er es schon die ganze Zeit gewusst. Er wusste, wie dicht er dran gewesen war, genau die Sorte Vorfall auszulösen, die sich lawinenartig zu etwas sehr viel Größerem entwickelte. »Wir schaffen die Leiche weg, richtig?«
»Hier lassen ist nicht drin.« Marcus war sauer auf ihn. Es zeigte sich nur auf sehr subtile Weise, aber Carlos war es gewohnt, die nahezu unsichtbaren Zeichen zu deuten; die Art, wie er einen Satz mit einem abfallenden Ton beendete oder wie er im Stehen sein Gewicht auf beide Beine verlagerte. »Komm schon. Packen wir’s an.«
Carlos hörte ein Knistern in seinem Ohrstöpsel und dann das Geräusch von Padrick, der im Rennen keuchte. Er hatte seinen Kanal offen gelassen. Die beiden Scharfschützen kamen den Hügel hinunter und liefen dabei von einer Schneewehe zur nächsten. Sie gingen immer davon aus, beobachtet zu werden. Als Carlos und Marcus es geschafft hatten, die Leiche in das Heck des APCs zu verfrachten, stand Baz bereits bei ihnen und wartete darauf, einsteigen zu können.
»So«, sagte er, »gibt keinen Grund, weiter hier rumzuhängen.« Er war ein vierschrötiger Schrank von einem Mann, Mitte vierzig und sprach mit starkem nordtyranischem Akzent. Carlos hatte immer den Eindruck, er würde keinen weiteren Gedanken an die Ziele verschwenden, die er zusammen mit Padrick umlegte. »Ich friere. Der Reiz des Neuen ist ungefähr vor zwei Tagen verflogen.«
Padrick tauchte hinter ihm auf. »Scheiße, ihr wollt doch wohl nicht eure Arbeit mit nach Hause nehmen? Lasst den Bastard hier.«
»War keine Gefechtssituation«, sagte Marcus. »Wird schon irgend ’ne Vorschrift geben, das zu melden.«
Sie fuhren schweigend zur Einsatzbasis zurück. Marcus saß am Steuer. Ja, es gab eine Vorgehensweise, die festlegte, wie man mit toten Typen wie ihrem umging, genauso wie es eine für die Überschreibung von konfisziertem Sprengstoff gab. Der Nachrichtenoffizier, der für die vorgeschobene Basis zuständig war, übernahm die Sache. Aus Gründen, die er ihnen nicht verriet, schien er besonders über die Ausweispapiere erfreut zu sein.
»Hey, die Pipeline ist immer noch heil«, sagte Padrick, als sie zurück in den Kasernenblock gingen. »Kopf hoch, Santiago!«
Carlos machte den hinteren Teil des APCs sauber und machte sich wieder auf Patrouille, dieses Mal mit Marcus als Fahrer. Ein paar Klicks weiter südlich entdeckten sie weitere Löcher, die neben der Pipeline ausgehoben worden waren, aber ihre unregelmäßigen und verwitterten Ränder ließen darauf schließen, dass sie herrenlos waren. Vielleicht hatten Tiere sie gegraben. Es waren keine Drähte zu sehen, nur lauter kleine Pfotenabdrücke. Es hatte seit Tagen nicht mehr geschneit.
Marcus schaltete das zivile Radio auf dem Armaturenbrett ein, hielt aber eine Hand an sein Ohr gedrückt, um weiter den Funkverkehr in seinem Headset mitverfolgen zu können. »Willst du dir das Spiel anhören?«
Carlos nickte. Sie lauschten bei gedämpfter Lautstärke und es hörte sich so an, als würden die Eagles gewinnen. »Interessieren sich Insulaner für Thrashball?«
»Manche ja. Die Islands bestehen nicht nur aus einem Land, ganz egal, was wir denken.« Marcus’ Kiefermuskeln zuckten. Er schien sich darauf vorzubereiten, etwas zu sagen. »Okay, ich nehme diesen Corporal-Kram zu ernst.«
»Was?«
»Du hattest recht. Wenn du auf mich gehört hättest, wäre er uns durch die Lappen gegangen. Scheiß Leitfadentreue.«
Es war eine Entschuldigung auf Marcus-Art. Dabei musste er sich nicht entschuldigen. Befehle und Vorgehensweisen gab es aus gutem Grund und Marcus war der Verantwortliche, wenn die Sache schief gelaufen wäre.
Carlos fühlte sich schuldig. »Ich bin trotzdem in ein neutrales Land rein und hab einen ihrer Bürger umgelegt, auch wenn sein Ausweis gefälscht war und er die Taschen voller Sprengstoff hatte.«
»Tja, na ja … läuft nicht immer nach Handbuch.«
»Wenn mir das Glück ausgegangen wäre wie Harnes, hätte ich Maranday tatsächlich mit in den Krieg ziehen können.« Carlos dachte für einen Moment darüber nach, ohne dem Thrashball-Drama, das sich im Radio abspielte, richtig zuzuhören. Er fühlte sich nicht so gut, wie er sich hätte fühlen sollen. Er meinte, er hätte Marcus enttäuscht, indem er etwas Dummes und Überstürztes getan hatte. »Weißt du, Dom könnte das wirklich viel besser. Der ist ganz scharf auf diesen ganzen verdeckten Kram. Ich brauch das einfache Kriegshandwerk. Gib mir ein Gewehr und lass mich aufs Ziel los.«
Es war nicht genau zu erkennen, ob Marcus lächelte oder nur sein Gesicht verzog, als er antwortete. »Uns geht’s wieder besser, wenn’s wärmer wird und die Kampfsaison wieder losgeht.«
Es stimmte, Marcus nahm seine Corporal-Streifen sehr ernst. Er schien der Meinung zu sein, sie würden ihn für die Sicherheit jedes einzelnen Gears in der COG verantwortlich machen. Wenn sie ihn zum Sergeant machten, würde er geradewegs zur Besessenheitshölle fahren.
Andererseits war er neunzehn. Sie beide. Carlos dachte an die anderen Jungs in ihrem Alter, die sich nicht eingeschrieben hatten, und daran, was sie für eine schwere Zeit oder eine schwierige Entscheidung hielten, und ihm wurde klar, dass sie keine Ahnung hatten. Er fühlte sich wohler in seiner Haut, aber er begriff auch, dass er in einer anderen Welt lebte.
Wieso sollte man überhaupt nicht dienen wollen? Wie können die mit sich selbst leben?
Den Schlittentypen alle zumachen war nur ein Einzelvorfall in einem langen Konflikt, nichts Besonderes. Die Imulsion floss weiter; ein böser Junge mehr war aus dem Kreislauf raus.
Aber bald steht der nächste Schlittentyp an. Und dann noch einer. Und noch einer. Als ob man seine Hand aus einem Eimer Wasser zieht. Nichts vorzuweisen, nichts, um zu zeigen, dass man auch nur einen Furz getan hat.
»Ich will wirklich etwas bewirken«, sagte Carlos.
Marcus starrte geradeaus. Der APC ruckelte über felsigeren Boden, während die Eagles wieder punkteten und blecherner Jubel die Kabine erfüllte. »Wie können wir je wissen, welche unserer Taten wirklich die ist, die die Geschichte verändert?«, fragte Marcus.
»Ich werde es wissen«, antwortete Carlos. »Ich werde es spüren.«
Sie verfielen wieder in Schweigen und hörten sich den Rest des Spiels an. Dieser Cole-Typ war wie eine Lawine, er walzte alles in seinem Weg platt. Carlos fragte sich, wie viel er wohl für dieses Spiel bezahlt bekam. Ob er sich je fragte, wie es wäre, neunzehn zu sein, mit dem Arsch in der Eiseskälte, dem Blut eines Toten auf der Uniform und ohne einen wichtigeren Gedanken im Kopf, als etwas Warmes in den Bauch zu kriegen und den kleinen Bruder anzurufen?
Vielleicht tat er es. Aber Carlos zweifelte daran.
DOM SANTIAGOS WOHNUNG, SÜD-JACINTO
Dom drehte den Schlüssel im Schloss herum und blieb im Flur stehen, um zu horchen, ob sich etwas regte.
Zwei Uhr morgens war nicht die optimale Zeit, um Maria zu wecken, aber er hatte den ersten Zug aus dem Heerlager genommen, den er bekommen konnte, ohne groß darüber nachzudenken, wann er in Jacinto eintreffen würde. Er stellte seinen Seesack auf den Boden und stieß auf etwas Weiches und Flauschiges. Es war ein Stofftier, Benedictos Plüschhund, dessen Ohren zu Fetzen zerkaut waren.
Das bedeutete, dass sein Sohn jetzt ohne Stofftier einschlafen konnte. Und es bedeutete auch, dass er schnell heranwuchs.
Dom schaltete das Licht an und wollte den Flur hinuntergehen, als er hörte, wie sich die Schlafzimmertür knarrend öffnete. Maria trat ihm in den Weg. Sie zog sich gerade ihren Bademantel über die Schultern und legte den Finger an die Lippen.
»Ich dachte schon, er schläft überhaupt nicht mehr ein. Warum hast du nicht angerufen und gesagt, dass du kommst?«
»Ich hab einfach den ersten Zug genommen. Hast du mich vermisst?«
»Blöde Frage.«
»Ich hab fünfzehn Tage Urlaub bekommen.«
»Sicher?«
»Klar.« Dom hatte nicht nachgefragt. Er hatte schnell gelernt, in der Armee nicht zu weit vorauszuplanen. »Vielleicht haben sie uns ein paar Extratage dazugegeben, weil wir brave Jungs waren.«
»Willst du mir damit irgendetwas sagen?«
Dom brach sich einen ab, ihr etwas zu sagen. Er wollte es ihr am liebsten einfach zeigen, einfach seine Feldjacke hervorziehen und die Commando-Abzeichen enthüllen, die jetzt auf die Schultern aufgenäht waren, aber für einen dramatischen Tusch wäre das zu langsam gewesen. Er griff einfach in seine Manteltasche und reichte ihr sein Kampfmesser, den Griff voraus. Maria starrte es an.
»Du hast bestanden.«
»Jep, ich hab bestanden«, erwiderte er. »Ich weiß gar nicht, wie ich so lange den Mund halten konnte.«
Sie nahm es mit zwei Fingern, so als ob sie keine Fingerabdrücke darauf hinterlassen wollte. »Du hast es nicht gesagt.«
»Ich wollte dich überraschen.«
»Ist es echt?« Sie gab es ihm zurück. »Ich meine, benutzt du es?«
»Klar.«
Es gab stille Momente, in denen Dom sich wieder wie ein Kind fühlte und jede Selbstsicherheit verlor, aber jetzt stand er hier: sein Commando-Messer in der Hand und mit Kampferfahrung vom Fronteinsatz und mit einer schwangeren Frau und einem Baby, das im Zimmer nebenan schlief. Er war noch nicht einmal achtzehn Jahre alt.
Manchmal, nur manchmal, machte er sich deswegen vor Angst fast in die Hosen.
»Ich bin wirklich stolz auf dich«, sagte Maria. »Aber heißt das, dass du jetzt nicht mit Carlos und Marcus zusammen dienen wirst?«
»Nicht unbedingt.« Dom öffnete die Tür zum Kinderzimmer – eine gewagte Bezeichnung für die Abstellkammer, die er dekoriert hatte – und lehnte sich an den Türrahmen, um Benedicto beim Schlafen zuzusehen. »Es bedeutet bloß, dass ich das nötige Können draufhabe. Damit das Bataillon gleich jemanden zur Stelle hat, wenn’s so weit ist. Ist nicht so, als wäre ich andauernd bei einer Sondereinsatztruppe.«
Dom vermisste seinen Bruder – und Marcus – mehr, als er je geglaubt hätte. Aber er konnte nicht länger in ihren Fußstapfen wandeln; sein Beweggrund schlief tief und fest im Kinderbett. Seit Dom wirklich verinnerlicht hatte, dass er ein Vater war, dass er jetzt alleinverantwortlich für drei Personen war, die noch jahrelang auf ihn angewiesen wären, kreisten seine Gedanken um die verschiedensten Dinge. Ein Teil von ihm hatte das Gefühl, seine Brüder im Stich gelassen zu haben. Vielleicht war das das eigentlich Gefühl des Erwachsenwerdens.
»Möchtest du etwas Kaffee?«, fragte Maria. »Hast du was gegessen?«
»Mir geht’s gut.«
»Dann sollten wir jetzt ein bisschen schlafen.« Sie schlüpfte an Dom vorbei, um nach Benedicto zu sehen. »Ich bin völlig fertig.«
»Ich dachte, deine Mutter würde dir unter die Arme greifen.«
Maria ging zurück ins Schlafzimmer. »Ich fühle mich besser, wenn ich es allein schaffe. Du weißt schon.«
Maria packte die Dinge gern auf ihre eigene Art an. Er konnte ihr keinen Vorwurf daraus machen, schließlich wollte er auch keine Hilfe annehmen. Aber ein Baby bedeutete jede Menge Arbeit, besonders, wenn man noch ein zweites erwartete – und sie hing nicht mit den anderen Soldatenfrauen herum. Sie brauchte Unterstützung, wenn Dom nicht da war.
Für den größten Teil der verbleibenden Nacht lag er wach und überlegte, wie sich seine Eltern diskret um sie kümmern könnten. Es war schwer, einer Frau anzubieten, ihr Baby zu hüten, wenn sie niemals ausging.
Nun ja, es blieben ihm fünfzehn Tage, um Maria zu überreden, die Dinge auf andere Art und Weise anzugehen. Sie war ein Einzelkind, wie Marcus. Sie kamen nicht immer damit zurecht, eine größere Familie um sich zu haben.
Fünfzehn Tage würden natürlich wie im Flug vergehen. Dom hatte jede Menge Alltagskram zu erledigen, wie Regale richten oder Sachen für das neue Baby einkaufen. Carlos und Marcus bekamen zwei Tage Ausgang. Wenn die ganzen Besorgungen und Besuche erledigt wären, blieb ihm nicht annähernd genügend Zeit mit Maria, Zeit für ein ordentliches Eheleben.
Andererseits waren sie bereits seit Kindertagen unzertrennlich. Zeit war eigentlich kein Thema. Es war nicht so, als wäre er immer noch dabei, sie kennen zu lernen. Er hatte absolut nicht vor, getötet zu werden, von daher dehnte sich die Zeit, die sie vor sich hatten, zu einer unvorstellbaren Unendlichkeit aus.
Die Pendelkriege hatten eine Art Gleichgewichtszustand erreicht, ganz gleich, wie schlimm die einzelnen Gefechte sein mochten, und jeder wurstelte sich durchs Leben, so gut es ging. Dom stellte immer wieder fest, dass sich die Menschen an jede verdammte Situation anpassen konnten.
Es blieben noch vier Tage von seinem Urlaub und Dom saß mit seinem Sohn auf seinen Knien im Hof seiner Eltern und fragte sich, ob er Benedictos Zeit als Gear, als dreißigjähriger Mann, noch erleben würde. Die Armee war seit Menschengedenken nicht demobilisiert worden.
»Ist Marcus los, um seinen Dad zu besuchen?«, fragte Maria.
»Ich glaub, ja.«
»Traurig, oder? Nur die beiden und so eine tiefe Kluft zwischen ihnen.«
»Er kommt zurecht«, erwiderte Dom. »Er ist ein Überlebenstyp. Und er hat uns.«
Der Baum, auf dem Dom Maria vor beinahe sieben Jahren das erste Mal die Äste hatte hinaufklettern sehen, stand in vollem Laub und warf seinen Schatten auf den Hof der Santiagos. Dom schloss die Augen und dachte daran, wie schwer Babys doch sein konnten, wenn man sie eine Weile herumtrug. Beinahe wäre er weggedöst. Er war sich sicher, er wäre noch wach.
Aber das war er nicht. Die Stimme seines Vaters riss ihn aus einem Traum, den er im gleichen Moment, in dem er die Augen öffnete und Benedicto weinte, schon wieder vergessen hatte. Dom richtete sich kerzengerade auf, sein Herz schlug wie wild.
»Tut mir leid, Sohn.« Sein Vater beugte sich über ihn und nahm ihm Benedicto ab. »Ein Anruf für dich. Der Adjutant.«
Scheiße.
Dom wusste, was er zu hören bekommen würde, noch bevor er den Hörer vom Tisch im Flur aufnahm.
»Private Santiago?«
»Dominic Santiago. Sie wollten mich sprechen, ja, Sarge? Nicht Carlos?«
Der Adjutant ging nicht darauf ein. »Sie werden hiermit zum RHQ abberufen. Melden Sie sich morgen um zwölfhundert. Tut mir leid, Ihren Urlaub zu verkürzen, aber so ist es nun mal.«
»Schon okay, Sarge. Ich weiß, Sie können mir am Telefon nicht sagen, warum, aber …«
»Ich weiß es ja selbst nicht. Ich weiß nur, dass jegliches Commando-qualifiziertes Personal zurück zur Basis kommandiert wurde.«
Dom erinnerte sich nicht einmal daran, ob er »Okay« gesagt hatte oder nicht. Er ging zurück in den Hof und versuchte, sich darüber klar zu werden, ob er sich erfreut, erschreckt oder siegestrunken fühlte oder ob er zuerst Carlos anrufen oder Maria die Neuigkeit beibringen sollte. Es konnte sich nur um eine Mission handeln. Die Vorstellung, dass er von der Ausbildung direkt in einen Echteinsatz schlitterte, war … beängstigend.
Aber das Gleiche hatte er schon einmal getan: als sechzehnjähriger Infanteriesoldat von der Grundausbildung direkt an die Front. So liefen die Dinge eben. Er glaubte an seine Ausbildung und an sich selbst.
»Ich wusste, es war zu schön, um wahr zu sein«, sagte Maria, rang sich aber zu einem Lächeln durch. Sie gewöhnte sich daran, die Frau eines Gears zu sein. »Lass mich wissen, ob du rechtzeitig zur Geburt wieder zurück sein wirst.«
Wenn ich kann. Bei Benedicto habe ich es auch geschafft, oder?
»Ich habe Carlos vorhin angerufen«, sagte sein Vater. »Die ganze Sechsundzwanzigste scheint sich in Gang zu setzen. Nicht nur du.«
Dom rief sich ins Gedächtnis, dass es in der Vergangenheit Hunderte solcher Abberufungen gegeben haben musste, vielleicht sogar Tausende, und doch hatte sich am Verlauf des Krieges nichts geändert. Er hatte keinen Grund, anzunehmen, sein Auftrag – was es auch sei – wäre irgendwie anders. Aber er glaubte es.
Jetzt musste er packen. Er hasste packen.
26 RTI SONDEREINSATZKOMMANDO, RHQ, EPHYRA.
Hoffman kannte den Aufbau von Aspho Point inzwischen besser als den seines eigenen Hauses. Er hatte Stunden damit verbracht, sich in die Pläne zu vertiefen, daher war es kaum verwunderlich. Wenn er jemals sein Glück bei Nina Kladry gefunden hätte, wäre sie ihm inzwischen fortgelaufen, weil er sie vernachlässige. Was ihn wieder einmal daran erinnerte, dass es einfach nicht hatte sein sollen und dass er mit seiner Frau Margaret seine gerechte Strafe bekommen hatte.
Nein, Schatz, ich werde heute Abend nicht zu Hause sein.
Tut mir leid. Ist mal wieder die Arbeit.
Das Traurige daran war, dass sie ihn nicht verdächtigte, eine Affäre zu haben, und damit vollkommen recht hatte. Sie wusste, wie gründlich ihn das Militär in Beschlag nahm. Hoffman ging an dem Tisch im Besprechungsraum auf und ab und begutachtete den auf Puppenhausgröße geschrumpften einzigen Mittelpunkt seiner Existenz.
Die Anlage von Aspho Point hatte sich von der Karte über einen Grundriss zu einem maßstabsgetreuen Schnittmodell entwickelt, akribisch genau nachgebaut und detailliert. Die Geheimdienstleute fügten immerzu neue Einzelheiten hinzu und Hoffman fragte sich, ob sie vielleicht Spaß daran hatten. Er ertappte sich dabei, wie er, die Arme auf dem Tisch verschränkt und das Kinn auf den rechten Unterarm gestützt, die winzigen Figuren anstarrte, welche die Truppen darstellten, und dabei eine sonderbare Freude empfand.
Eine Tasse Kaffee erschien neben seinem Ellbogen. Agent Louise Settile, an deren Gürtel Sicherheitsausweise wie Kriegstrophäen klimperten, schlürfte reichlich undamenhaft aus ihrer Tasse. Er hatte gar nicht gehört, wie sie hereingekommen war.
»Wenn Sie anfangen ›Peng! Peng!‹ zu rufen und Flugzeuggeräusche machen, Major, dann wissen Sie, dass es Zeit ist, etwas zu schlafen.« Sie war jung und nicht besonders hübsch, aber sie war verdammt gut in ihrem Job, also ging sie, soweit es ihn betraf, als Göttin durch. »Werden Sie dafür nicht mehr Männer brauchen?«
»Nicht drinnen«, erklärte Hoffman. »Wenn Sie zu viele Männer reinschicken, blockieren sie sich gegenseitig. Die Absicherung des Außenbereiches ist das Entscheidende. Zeit gewinnen, Entdeckung verzögern, Exfiltrationsweg sichern.« Er richtete sich auf und griff nach dem Kaffee. »Es wäre jedoch eine große Hilfe, wenn wir keine Typen in weißen Kittel extrahieren müssten.«
»Sie haben wirklich ein Problem mit lebendig, oder?«
»Sind die Wissenschaftler denn so wichtig? Ich weiß, ich frage das andauernd, aber für uns stellt es eine Erschwernis mehr dar.«
»Wir versuchen, so gut wir können, hier ein technisches Parallel-Team auf den neuesten Stand zu bringen. Aber es gibt noch große Wissenslücken. Wir wissen nicht, wie die UIR die globale Positionierung – das Zielsystem – abwickelt, und wir kennen nicht genügend Einzelheiten der Trägerrakete, insbesondere des Treibstoffsystems. Der beste Versuch, den wir auf dem Papier hinbekommen, entwickelt nicht genug Schub, um den optimalen Orbit zu erreichen, und wir haben noch keine ausreichende Genauigkeit bei der Zielerfassung ausgetüftelt.«
Hoffman war sich nicht sicher, ob das ein Ja oder eine Nein bedeutete, aber der Vorsitzende Dalyell hatte sich klar ausgedrückt: Er wollte die Kompetenzträger in einem Stück.
»Sie gehen davon aus, dass sie mit Ihnen kooperieren werden«, stellte Hoffman fest.
»Die Möglichkeit besteht.« Settile zog einen Ordner aus ihrem Aktenkoffer. »Aber wenn sie zu Brei zermatscht sind, werden sie nicht die Gelegenheit haben, Vernunft anzunehmen. Wie dem auch sei, hier sind die jüngsten Bilder der Luftaufklärung. Viel hat sich nicht verändert.«
Hoffman nahm den Ordner und legte die Bilder auf einem freien Fleck auf dem Tisch aus. Entlang der oberen Flutgrenze hatte man Drahtrollen gespannt, aber sie schienen seit dem letzten Aufklärungsflug teilweise von Treibgut bedeckt worden zu sein. An der Küste tobten heftige Stürme.
»Gemessen an dem Wert, den dieses Ziel darstellen soll, ist ihre Strandverteidigung reichlich unangemessen.«
Settile zog eine Braue hoch. »Würde ich Sie nicht besser kennen, würde ich sagen, Sie halten uns Geheimdienstmenschen für einen Haufen Unfähiger.«
»Diese Meinung würde ich in Anwesenheit einer Dame niemals äußern«, erwiderte Hoffman. »Aber es gibt bei euch mehr als nur den gerechten Anteil von nutzlosen Aschlöchern.«
»Aspho Point ist das, was wir behaupten.«
»Wir nehmen es so oder so ein«, sagte er. »Weil das mein Befehl ist.«
»Sie sind ein solcher Freidenker …«
»Es ist mein Mangel an freiem Denken, der sicherstellt, dass es noch eine zivile Regierung gibt, die den Laden schmeißt, Ma’am.«
Settile sah ihn an, als würde sie den Satz auf der Suche nach einer verborgenen Bedeutung auseinander nehmen. Sie biss aber nicht an. »Das Wetter in Ostri wird immer noch ziemlich schlecht sein, wenn Sie anrücken. Einen Überfall von dieser Größe werden die nicht vor ihrem Sommer erwarten, wenn sie ihn überhaupt erwarten.«
Hoffman war nur für den Angriff auf die Anlage selbst verantwortlich. Landetruppen für die Absicherung des Großraums, Unterstützung durch Schiffsartillerie, wenn nötig – das war alles der Job von jemand anderem. Bis zum Mittag musste er einen besseren Plan für General Iver zu Papier gebracht haben.
»Captain Michaelson wird in ein paar Stunden hier sein.« Hoffman stand auf und ging zum Kartentisch hinüber, um sich noch einmal den Landebereich anzusehen. Es sah alles so unkompliziert aus: Eine verlassene Küste, keine Klippen, über die man sich den Kopf zerbrechen musste, und weit entfernt von irgendwelchen ernst zu nehmenden Verstärkungskräften. »Weshalb haben Sie überhaupt hier hereingeschaut?«
Settile legte die Luftaufnahmen auf die Karte und versuchte sie mit den geografischen Merkmalen übereinzubringen. »Die Produktion gyroskopischer Komponenten läuft inzwischen in Fabriken an, in denen wir sie noch nie gesehen haben. Wir haben vier Jahre gebraucht, um so weit zu kommen. Ich wünschte, es wäre nur eine Angelegenheit stiller Industriespionage, einfach nur ihre Daten und Pläne kopieren und fertig. Aber bei einem Potenzial wie diesem reicht es nicht aus, der Erste zu sein. Wir müssen die Einzigen damit sein.«
»Ich verstehe.«
»Sie werden persönlich mit hineingehen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich.«
»Fühlen Sie sich ausgeschlossen?«
»Nein, ich fühle mich, als hätte ich fünfundzwanzig Jahre Erfahrung, und es gibt da siebzehnjährige Jungs, von denen ich verlangen werde, in den eigenen Tod zu marschieren, von daher ist es für mich ausgeschlossen, nicht mit ihnen reinzugehen.«
Hoffman gingen Kommentare nur höchst selten auf die Nerven, aber diese Geheimdienstler waren gut darin, Zweifel zu säen. Das war ihr Job. Sie wussten wahrscheinlich nicht einmal, dass sie es taten, nicht einmal die sympathischen wie Settile.
Werde ich zu einer Belastung werden? Mache ich es wirklich nur, weil ich es nicht ertrage, die Sache von der Einsatzzentrale aus zu überwachen?
Nichts war schlimmer als ein Befehlshaber, der nicht wusste, wann es Zeit war, einen Schritt zurückzutreten und Dinge zu delegieren. Hoffman war nicht der Meinung, dass es mit ihm schon so weit gekommen war. Es ging um Vertrauen; darum, es in andere zu setzen und es anderen in einen selbst setzen zu lassen.
»Wer sagte doch gleich, es gäbe nichts Besseres, als hin und wieder einen toten General, um die Truppenmoral zu fördern?«, fragte Settile.
»Ich bin ein Major«, erwiderte Hoffman.
»Das sind Sie«, sagte Settile.