KAPITEL 2

 

Ich werde die Feinde der Koalition wachsam und unnachgiebig verfolgen.

Ich werde die Ordnung des Lebens verteidigen und aufrechterhalten, so, wie sie von den Allvätern der Koalition im Octus-Kanon verkündet wurde.

Ich werde mein bisheriges Leben aufgeben, damit ich meine Pflicht erfüllen kann, solange ich gebraucht werde.

Standhaft werde ich meine Funktion in der Maschinerie erfüllen und meinen Platz in der Koalition anerkennen.

Ich bin ein Gear.

 

(EID DER KOALITION, AUF DEN ALLE REKRUTEN EINGESCHWOREN WERDEN)

 

SOVEREIGN BOULEVARD

Dom feuerte, weil kein Gear auf diese Art auf einen Kumpel zugegangen wäre.

Er hörte Querschläger, konnte aber keinen Stich sehen. Das Nachbild des Scheinwerfers und das Licht vom Eingang blendeten ihn.

»Du verdammter Idiot!«, dröhnte eine Stimme. Eine Frauenstimme, mit starkem Akzent – von den South Islands oder irgendwo in der Nähe. »Du hättest mich beinahe umgebracht.«

Der Scheinwerfer erlosch. Dom bemerkte, dass er den Rationsriegel fallen gelassen hatte. Er behielt den Lancer im Anschlag. »Ach ja? Mach ich vielleicht noch. Identifizier dich.«

»Ich bin’s, Bernie«, erwiderte sie.

»Ich kenn keine Bernie.« Seine Augen passten sich wieder den Lichtverhältnissen an, aber er konnte sie immer noch nicht sehen. »Alte, hör auf mit dem Scheiß und komm raus, damit ich dich sehen kann.«

»Nächstes Mal, wenn dir so ’ne verdammte Made den Kopf abreißt, schau ich einfach zu.«

Das war also sein Phantom-Scharfschütze. Sie musste ihnen die ganze Zeit über gefolgt sein. Der Gedanke beunruhigte ihn mehr als die Locust.

»Schon klar. Hey, ich weiß die Hilfe zu schätzen, aber ich will trotzdem, dass du da rauskommst.« Marcus und die anderen mussten die Schüsse gehört haben, aber er hatte ihnen bereits gesagt, sie zu ignorieren. »Beweg dich.«

Dom war schon einmal in die Falle gegangen, als er noch nicht wusste, wie der Hase lief. Es war das Spielchen der Gestrandeten: Eine Frau vorschicken, um den Kerl zu beschäftigen, dann kommt ein Mann hinterher, um ihn abzukochen. Die Bastarde hatten sogar versucht, Waffen, Treibstoff und Fahrzeugteile von den Gear-Patrouillen zu stehlen. Grund genug, sie krepieren zu lassen. Nicht, dass die Frauen weniger Ärger bedeutet hätten als die Männer, aber bei einer Spezies, die vom Aussterben bedroht war – und die Menschheit war so eine Spezies –, ging niemand ein Risiko ein, wenn es um die Weibchen ging. Sie stellten die Hoffnung dar, die Zukunft, das Überleben der Gesellschaft – nicht Kanonenfutter.

Dom wurde vom dumpfen Aufschlag schwerer Stiefel zu seiner Rechten unterbrochen, so als wäre jemand aus großer Höhe heruntergesprungen. Er wirbelte herum.

Das Gewehr stach im zuerst ins Auge, ein wirklich altes Longshot-Modell, ein Mark 2, mit einer Frau am anderen Ende.

»Scheiße«, sagte er.

Sie war größer und älter, als er erwartet hatte – allerdings war er sich auch gar nicht sicher, was er erwartet hatte –, und trug eine bunt zusammengewürfelte Mischung aus COG-Panzerkleidung. Keine Jugendliche, so viel war sicher. Ihr kurz geschnittenes dunkles Haar war größtenteils grau, aber sie sah nicht wie eine fürsorgliche Mutter aus. Eher wie eine Ohrfeige, die man sich jeden Augenblick einfängt. Sie hakte das Gewehr wieder an die Schlinge – Scheiße, einen Lancer hatte sie auch – und blieb wartend stehen. Dom starrte das Gewehr an.

»Ja, ich hab’s gefunden«, sagte sie. »Zu meiner Zeit gab’s die noch nicht.«

Sie kehrte Dom den Rücken zu, ging zum Eingang und steckte ihren Kopf hinaus. »Hey, Marcus! Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr an mich.«

Marcus erschien im Eingang, gefolgt von Cole und Baird. Sie wirkten argwöhnisch, folgten aber Marcus’ Führung und der hatte seine Waffen nicht erhoben.

»Ich weiß, wer du bist«, sagte Marcus. »Und ich dachte, du wärst tot.«

Dom schlug sich immer noch mit dem Namen herum. Bernie? Bernie … Bernie …

»Ich bin noch nicht am Ende. Hab eine ganze Menge nachzuholen.« Sie musterte jeden von ihnen, als wären sie bei einer Parade, bei der sie zu beanstanden hatte, wie gut sie sich herausgeputzt hatten. »Wer schmeißt den Laden jetzt? Immer noch Hoffman?«

»Wie zum Teufel bist du hierhergekommen?« Marcus überging ihre Frage einfach, aber das geschah eher aus Ungläubigkeit als aus schlechten Manieren heraus. Es war ihm nicht anzusehen – so wie selten etwas –, aber Dom wusste immer, wann ihn etwas verstört hatte, weil er dann häufiger blinzelte. Sie hatte es eindeutig geschafft. »Hast du ein Fahrzeug?«

»Bin gelaufen.«

»Vierzehn Jahre lang?«

»Genau. Versuch du mal, ein paar Kontinente hinter dich zu bringen, die so aussehen wie dieser Fleck hier. Und hast du von diesem nassen Zeug namens Ozean gehört?«

Dir Akzent ähnelte dem von Tai Kaliso, aber sie trug keine Tribal-Tattoos im Gesicht. Trotzdem war es für Dom Grund genug, einen weiten Bogen um sie zu machen. Die Typen von den South Islands waren allesamt verrückt und das nach Gear-Maßstäben, die sowieso schon reichlich Verrücktheit voraussetzten.

»Will uns niemand bekannt machen?« Cole streckte seine riesige Hand aus und sie nahm sie. »Private Augustus Cole, Ma’am. Und dieser richtig hässliche Bastard hier ist Corporal Damon Baird.«

»Bernadette Mataki.« Sie schüttelte seine Hand. »Bernie.« Baird nickte ihr bloß mürrisch zu und tat sein Bestes, unbeeindruckt zu wirken. »Marcus und Dom kennen mich schon.«

»Wow, Lady, Sie haben ’nen Händedruck wie ein Boomer. Das mag ich bei Frauen.«

»Du bist ein dreister Penner, aber das passt schon. Komm schon, Marcus, bring mich zu Hoffman.«

Marcus gab ein leichtes Knurren von sich und deutete mit einer Kopfbewegung in Richtung Boulevard. Draußen hatte der King Raven bereits aufgesetzt und der Mann an der Winde gab ihnen ein paar verärgerte Macht-mal-hin-Zeichen.

»Wenn ihr Mädels dann fertig seid – wir hätten hier einen Verwundeten an Bord«, sagte er sauer und schien Bernie zunächst gar nicht zu bemerken. »Nur weil es kaum – Scheiße, du bist ’ne Frau.«

»Hey, sprich nicht so über Baird«, warf Cole ein. »Der ist sensibel von wegen blond und so.«

Baird ignorierte den Witz. Bernie schwang sich in die Kabine des Helis und fixierte den Mann an der Winde mit einem Blick, der dafür sorgte, dass er kein weiteres Wort verlor. Der Raven hob ab und Dom bemerkte einen flüchtigen Blickaustausch zwischen Marcus und Bernie, der ihn für einen Moment beunruhigte. Es war diese Art Blick, hinter dem eine Frage oder eine Warnung oder vielleicht auch beides steckte.

Ich kenne den Kerl fast mein ganzes Leben. Schon als Kinder waren wir unzertrennlich. Gibt es da etwas, das ich nicht weiß?

»Ich bin keine Frau«, sagte Bernie bestimmt und legte sich den uralten Longshot auf die Knie. »Ich war einmal Sergeant Mataki. Und ich hab den Job immer noch drauf.«

»Genau«, sagte Marcus und starrte hinunter auf die Stadtlandschaft. »Das war sie und das hat sie.«

Mataki.

Dom versuchte fünf, zehn, fünfzehn Jahre aus ihrem Gesicht zu radieren, ohne dabei auszusehen, als ob er sie anstarrte. Sie ertappte ihn trotzdem, schien aber nicht beleidigt. Wenn überhaupt, wirkte sie … mitfühlend.

Trotzdem sah sie immer noch nicht aus wie eine grauhaarige Mama.

Mataki, Mataki, Mataki, Mataki. Ach du Scheiße, ja!

Jetzt wusste er, wer sie war. Plötzlich fiel ihm alles wieder ein, so als würde er aus einem tiefen Schlaf wachgerüttelt werden. Sie hatte in der Schlacht auf den Aspho Fields gekämpft.

Sie hatte an der Seite seines Bruders Carlos gekämpft.

Und genau wie Marcus war sie dabei gewesen, als er starb. Dom streckte seine Hand aus. »Danke«, sagte er endlich. »Guter Schuss.«

 

EHEMALIGES WRIGHTMAN-KRANKENHAUS, KASERNENBLOCK

Es war der erste halbwegs anständige Waschraum, den Bernie seit Jahren zu Gesicht bekam.

Die Tatsache, dass das Gebäude einmal eine Irrenanstalt für durchgedrehte Reiche gewesen war, störte sie nicht im Geringsten. Die Waschbecken zogen sich in einer langen Reihe bis zur gegenüberliegenden Wand und die Kacheln waren die gleichen, die sie von jeder COG-Basis kannte, die sie je betreten hatte. An den Luxus von fließendem Wasser würde sie sich erst wieder gewöhnen müssen. Sie ließ eines der Becken vollaufen, tauchte ihren Kopf hinein und genoss die einfache Freude des frischen Wassers, bevor sie sich wieder gerade aufrichtete und in den Spiegel blickte. Das Ganze gab ihr das bittersüße Gefühl, zu Hause zu sein.

Sie hatte die Gerüche vergessen; Rauch, Blut, Scheiße, Maschinenöl, abgefeuerte Waffen, vorschriftsmäßige Karbolseife. Der Umkleideraum war voll davon. Marcus putzte Locust-Gedärm von seiner Rüstung und sah leicht verärgert aus. Dann zog er das Kopftuch ab, das er immer trug, und spülte es in einem Becken aus. Ohne das Tuch sah er wie ein vollkommen anderer Mann aus.

»Gott, ist das immer noch dasselbe, das du getragen hast, als ich dich das letzte Mal gesehen hab?«, fragte Bernie.

»Nein.« Er wrang es aus und band es sich wieder um den Kopf, ohne dabei in den Spiegel zu sehen. »Hab ein neues gekriegt, als Dom mich aus dem Knast geholt hat.«

»Stimmt, das wollte ich dich noch fragen. Bist du gar nicht neugierig, warum ich euch gefolgt bin? Ich beschatte schon seit Tagen Patrouillen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Okay. Warum?«

»Um sicherzugehen, dass du nicht zu den Gestrandeten gehörst. Ich hab’ nen Haufen schräges Zeug über dich gehört, als ich hier angekommen bin, Marcus. Ist es wahr?«

»Kommt drauf an, was du gehört hast.«

»Dass du deinen Posten verlassen hast und ’ne Menge Leute draufgegangen sind. Dass sie dich vors Kriegsgericht gestellt haben.«

Wieder ein Schulterzucken. »Lässt sich nicht bestreiten.«

»Doch nicht du. Niemals.«

»Doch. Hab vierzig Jahre bekommen. Vier abgesessen. Eigentlich hätte es die Todesstrafe sein sollen, aber Dom hat für mich ausgesagt. Und mich vor ein paar Tagen rausgeholt.«

Typisch Dom. Wenn er an jemanden glaubte, wäre er für ihn im sprichwörtlichen Graben verreckt. Aber Bernie konnte sich nicht vorstellen, dass Marcus Fenix vor einer Schlacht davongelaufen wäre. Hinter der Sache musste mehr stecken – sehr viel mehr.

»Und willst du mir mal erzählen, was wirklich passiert ist?«

»Vielleicht. Willst du mir erzählen, weshalb du beschlossen hast, jetzt zurückzukommen?«

Dahinter versteckte sich noch eine weitere, unausgesprochene Frage. Sie hatte es vor so vielen Jahren aus ihrem Kopf verdrängt – absichtlich, gewissenhaft –, dass sie für einen Augenblick glaubte, sie habe tatsächlich vergessen, worum sich alles gedreht hatte. Aber ein Blick in Dom Santiagos Gesicht reichte aus, um sie daran zu erinnern. Er war ein guter Junger, treu wie ein Hund und beschämend mutig, das exakte Ebenbild seines Bruders, bis hin zu dem schwarzen Kinnbart. Es fiel ihr schwer, ihm in die Augen zu sehen.

»Keine Sorge, Marcus«, sagte sie. »Ich werd Aspho nicht wieder rauskramen.« Nein, Dom hatte damals nicht die Einzelheiten über Carlos erfahren müssen und er musste es jetzt auch nicht. »Wir waren einverstanden, oder? Ist sechzehn Jahre her.«

»Er hat seine beiden Kinder verloren. Und seine Frau wird seit zehn Jahren vermisst.«

Seit dem Tag A hatte jeder irgendjemanden verloren, aber das hörte sich trotzdem nach einem Tick zu viel an für einen Mann, der bereits seinen Bruder verloren hatte. »Ich wette, er sucht immer noch nach ihr.«

»Klar. Du kennst doch Dom.«

»Was ist mit seinen Alten?«

»Vermisst, wahrscheinlich tot.«

»Arme Sau. Ich hätte gedacht, er könnte sich besser an mich erinnern.« Vielleicht besser, wenn er es nicht tat. Er würde nur anfangen, Fragen zu stellen. »Gibt’s deinen Vater noch?«

»Nein.«

»Tut mir leid.«

»Bist schon lange nicht mehr auf dem Laufenden.«

»Aber hallo. Als sie mich aus der Armee ausgemustert haben, bin ich wieder nach Hause gegangen. Am Tag A war die Insel völlig abgeschnitten, deshalb hat’s acht Jahre gedauert, bis ich überhaupt von der Abberufung nach Ephyra erfahren habe.«

Marcus blickte einen Moment ausdruckslos vor sich hin, als ob er etwas berechnen würde. »Gibt es irgendwelche guten Neuigkeiten da draußen?«

Das globale Kommunikationsnetzwerk, mit dem sie alle groß geworden waren, war zusammengebrochen, der größte Teil innerhalb der ersten Tage nach der Ankunft der Locust.

»Ab und an bin ich ein paar Überlebenden begegnet, für gewöhnlich in Fischerdörfern. Wenn sie in See stechen, kommen die Locust schwerer an sie ran.«

»Ist ein Weg, ihnen zu entgehen.«

»War eine Schweinearbeit für mich, an ein Boot zu kommen, aber wenn man ein Gewehr hat, kann man die Leute zu ’ner Menge überreden.«

Marcus musterte Bernie mit skeptischem Blick. »Du meinst es also ernst?«

»Ich bin zu alt, um noch zu werfen, aber kämpfen kann ich noch. Erzähl mir nicht, ich könnte es nicht packen.«

»Würd mir im Traum nicht einfallen.«

Bernie wusste, dass sie eine Pflicht zu erfüllen hatte, solange sie ein Gewehr halten konnte. Jeder Zivilist, der sich ihr in den Weg stellen würde, wäre eine Gefahr für das Überleben aller. Es gab keinen Platz für Neutralität oder Alleingänge, keine Entscheidungsmöglichkeit, auf welcher Seite man stehen wollte, und sie hatte schon zu viele Leute verloren, die ihr etwas bedeuteten.

Aber jeder hat irgendwen verloren. Jeder Mensch, unsere gesamte Spezies, trauert. Was für einen Einfluss wird das auf uns haben? Was für eine Gesellschaft soll daraus erwachsen? Wer werden wir sein, nach all diesem Verlust?

So weit vorauszudenken war ein Luxus, den sich niemand außer vielleicht irgendwelche Politiker leisten konnte. Aber sie dachte trotzdem so.

Marcus machte weiter sauber und Bernie probierte die Duschen. Selbst bei kaltem Wasser waren sie der reinste Luxus. Nie wieder würde sie einen Fuß in ein verdammtes Boot setzen.

Die Haupttür öffnete sich und sie hörte Doms Stimme, als sie sich anzog.

»Hoffman ist auf dem Weg«, berichtete er. »Anya meint, er hätte sich benommen, als ob ihm jemand ’nen Kracher in den Hintern gesteckt hätte. Hat nur »Scheiße« gesagt und ist losgezogen.«

»Anya hat das gesagt, ja?«, rief Bernie. »Wusste gar nicht, dass sie solche Ausdrücke gelernt hat …«

»’tschuldigung, hab nicht bemerkt, dass Sie hier sind, Sergeant.«

»Solange Hoffman nichts anderes sagt, bin ich immer noch Zivilist.«

Bernie wartete noch ein paar Sekunden, bevor sie aus dem Duschraum kam. Als sie Dom Santiago das letzte Mal vor dem heutigen Tag gesehen hatte, weinte er ungeniert wegen seines toten Bruders und der Sieg bei den Aspho Fields hatte jede Bedeutung verloren. Sechs Monate später lag sie mit einem zertrümmerten Bein in einem Krankenhausbett und danach war sie endgültig aus der Armee raus. Man verlor die Leute viel zu leicht aus den Augen.

Und dann – fand man heraus, dass sie für immer fort waren.

Sie wollte die Maden umlegen, sie auslöschen, so wie sie ihre Welt ausgelöscht hatten, und als Gear saß sie dafür auf dem Logenplatz.

»Ich erinnere mich jetzt wieder an dich«, sagte Dom und wirkte etwas schuldbewusst. »Ist lange her.«

»Schon okay. War ja nicht so, als wären wir in derselben Kompanie gewesen.«

»Aber du warst in der von Carlos.«

Das war eine ganz normale Bemerkung. Verplappere dich jetzt bloß nicht. Was hast du denn erwartet, was er sagt?

»Ja«, erwiderte sie. »Guter Mann, dein Bruder. Verdammt ausgezeichneter Gear.«

Mehr brauchte es nicht; neutral, ehrlich, ohne Fragen heraufzubeschwören. Carlos war ein Bruder, auf den jedermann hätte stolz sein können. Dom lächelte für einen Moment ein wenig betrübt in sich hinein, dann fing er an vor sich hin zu singen, während er seine Rüstung ablegte. Gegen die Locust zu kämpfen, war ein dreckiges Geschäft. Bernie dachte an das Kettensägen-Bajonett und ihr wurde klar, dass das Auseinandernehmen und Reinigen einer Waffe heute eine ganz andere Sache war. Marcus nahm eine Zahnbürste für die Sägezähne. Er hatte die gesamte Führungsschiene auseinander genommen und popelte Bindegewebe ab, das sich um die Sägekette gewickelt hatte.

»Wie steht’s mit Hoffman, ist er lockerer geworden?«, fragte Bernie.

Marcus gab dieses leise Gnnh-Ächzen von sich, an das sich Bernie nur allzu gut erinnerte. Es war nicht direkt ein Seufzen, mehr der Ausstoß von Enttäuschung, Widerwillen und Desillusionierung, die er einfach nicht länger in sich behalten konnte. »Nein. Er ist immer noch das gleiche Arschloch. Allerdings ist er zum Ober-Arschloch aufgestiegen.«

Dom warf Bernie hinter Marcus’ Rücken einen bedeutungsvollen Blick zu. Lange Geschichte, nicht nachhaken. Allerdings konnte sie sich nicht erinnern, dass Marcus jemals viel erzählt hätte. Also nahm sie es als Hinweis darauf, wie viel böses Blut sich zwischen den beiden angestaut hatte.

»Na gut«, sagte sie vorsichtig. »Ich werd versuchen, einen Bogen um seine Offensivseite zu machen.«

Marcus fuhr fort, seine Ausrüstung zu säubern. Bernie sammelte ihre Sachen zusammen – eine Garnitur Ersatzwäsche, drei Ersatzwaffen – und trat in den Vorraum, um darauf zu warten, dass man sie rief. Die Dinge hatten sich sehr verändert, seit sie ihren Dienst quittiert hatte. Die Gears, die an ihr vorübergingen, waren ausnahmslos Männer. Und sie sahen auf eine Weise ausgelaugt aus, wie es die Jungs, mit denen sie gedient hatte, niemals getan hatten, ganz gleich, welche Strapazen sie hinter sich gebracht hatten. Die Pendelkriege waren irgendwie anders gewesen. Nach fast achtzig Jahren der Kämpfe setzte eine Art Sättigungszustand ein. Niemand hatte mehr wirklich geglaubt, dass das Ende der Welt bevorstand, auch wenn die globale Katastrophe gleich hinter der nächsten Ecke lauem konnte. Dieses Mal war es jedoch sehr wahrscheinlich und jeder wusste es.

Vielleicht hatte sie die zwölftausend Kilometer nur zurückgelegt, um an einem schlimmeren Ort als zu Hause zu sterben.

Na ja, wenigstens sterbe ich dann mit einer ordentlichen Mahlzeit im Bauch und einem Paar anständigen Stiefeln. Und ein paar mehr von diesen Drecksmaden nehm’ ich auch noch mit.

»Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich jeden annehme, der ein Gewehr halten kann, aber alles hat seine Grenzen, Mataki.«

Die Stimme ertönte hinter ihr. Vorüberziehende Gears blieben stehen und gafften für eine Sekunde, dann kümmerten sie sich klugerweise wieder um ihren eigenen Kram. Nein, Hoffman hatte sich kaum verändert, massig, ruppig, die Lippen zusammengekniffen. Sie nahm Haltung an und machte kehrt, als lägen die letzten sechzehn Jahre nur einen Tag zurück.

»Sir«, sagte sie, »Sie sehen beschissen aus.«

Hoffman war kurz davor, zu lächeln. Ihr war klar, dass es für ihn nicht infrage kam, zu grinsen und zu zeigen, dass er froh war, sie wieder zu sehen. »Ebenfalls erfreut, Sie zu sehen, Bernie. Sie sehen nicht gerade kampftauglich aus.«

»Ich weiß. Aber in voller Rüstung bring ich’s noch und treffe ein bewegliches Ziel auf achthundert Meter. Das hat mich hierher gebracht.«

»Legen Sie den Eid ab und melden Sie sich beim Quartiermeister.« Hoffman ließ sich zu einem leichten Lächeln hinreißen, nur ganz kurz und fast schon verlegen. »Willkommen zurück. Und denken Sie dran, Fenix nicht in den Arsch zu kriechen, denn wenn’s nach mir ginge, wäre er immer noch der Letzte, der im Block sitzt.«

»Hintern, Sir«, erwiderte Bernie. Sie verstand nicht den Wink auf das Gefängnis – den Block. »Wo ich herkomme, heißt es Hintern.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen, nur kriechen Sie nicht rein.«

Hoffman drehte sich um und ging davon. Es gab keinen Grund, Marcus zu erzählen, dass sie Hoffman schon immer gemocht hatte und dass er ein anständiger Soldat war und kein nutzloser Sesselfurzer, wie so viele andere, denen sie begegnet war. Und es gab auch keinen Grund, Hoffman zu erzählen, dass Marcus einfach nicht der Typ war, der seine Männer im Stich ließ, und dass es für alles, was er tat, einen selbstlosen Grund geben musste, ganz gleich, um welche Dummheit es sich handelte.

Sie war nicht hier, um die Schiedsrichterin in einem erbitterten Zweikampf zwischen den beiden zu spielen. Sie ermahnte sich, dass sie hier war, weil sie ein Mensch war und als Gear die besten Chancen hatte, ihre Welt zurückzugewinnen.

Dom kam auf sie zu. Er roch nach Karbolseife. Der Gestank der Locust war verflucht schwer abzuschrubben.

»Komm mit, ich bring dich zum Büro vom Adjutanten«, sagte er. »Falls du irgendwas brauchst, irgendein Problem hast – sag’s einfach mir. Carlos hat viel von dir gehalten.«

»Danke. Du bist ein guter Junge, Dom.«

»Du musst mir irgendwann mal ein paar Sachen von ihm erzählen, ja? Ich wette, ihr beiden habt zusammen jede Menge Scheiße erlebt, von der er mir nie was gesagt hat.«

Dom grinste. Bernie bemühte sich zurückzulächeln und folgte ihm den Flur hinunter. Sie würde ihm so viel berichten, wie sie nur konnte, aber im gleichen Augenblick wusste sie, dass er sie früher oder später bitten würde, ihm die Geschichte zu erzählen, von der sie geschworen hatte, kein Sterbenswörtchen zu verraten.

 

EINSATZZENTRALE, WRIGHTMAN-KRANKENHAUS, JACINTO

Normalerweise trafen die Berichte über die Locust-Überfälle immer Schlag auf Schlag ein, aber in den letzten paar Tagen reduzierten sie sich zu einem relativen Tröpfeln.

Das bedeutete nicht, dass sie aufgehört hatten.

»Sir, wir haben ein Problem.« Lieutenant Mathieson lenkte Hoffmans Aufmerksamkeit auf sich, indem er ihm einen Ausdruck vorlegte. Seid der Junge beide Beine verloren hatte, steckte er in der Kommandozentrale fest. »Werfen Sie einen Blick auf diese Karte. Sehen Sie sich die Bewegungen der neuen Überfälle an.«

Hoffmans Blick wanderte über die kleinen Pfeile, die eine Schleife in Form einer Vier bildeten und mit Zeitangaben versehen waren. Es war ein klares Vorrücken zu erkennen. Die Locust bewegten sich im Norden, in einer Gegend, die sie bisher noch nicht erreicht hatten, und stießen damit zwischen die entlegenen Siedlungen der Gestrandeten und das Gebiet, das beschönigend Ackerland genannt wurde. Auf den Karten war es immer noch in optimistischem Grün verzeichnet. In Wirklichkeit war es nicht annähernd ländlich – nur äußerst wenig Getreide wuchs hier im Freien, dafür standen überall hässliche Industriehallen für Hydrokulturen, Mykoprotein- und Geflügelfarmen. Auch eine einzige Stadt voller Menschen brauchte haufenweise Nahrung.

Die Überfälle waren jedoch nicht weit genug fortgeschritten, um ein erkennbares Muster zu bilden. Noch nicht.

Und wenn es erst einmal so weit ist … wird es zu spät sein.

»Und wie schätzen Sie das Ganze ein, Mathieson?«

»Es könnte nur ein Zufall sein, aber wenn man diese Linie weiterführt … na ja, Sie sehen ja, was sie ansteuern.«

»Wenn uns diese Viecher die Produktionsgebiete für Nahrungsmittel abschneiden, sind wir im Arsch«, sagte Hoffman. »Die Geologen waren sich hundertpro sicher, dass das Grundgestein aus massivem Granit besteht.«

»Es könnte an der Leichtmassenbombe liegen.«

»Wie, neu entstandene Risse?«

»Wenn man so viel Energie in engen Raum hineinpumpt, muss sie irgendwohin, Sir.«

In der Einsatzzentrale, dem traurigen Schatten der einst so großzügig bemannten Leitstelle, herrschte Schweigen. Nur die gelegentlichen Funkübertragungen der Gears im Feld und das rhythmische Rattern der Drucker, die neue Meldungen ausspuckten, erfüllten den Raum. Als Hoffman aufschaute, waren alle Blicke auf ihn gerichtet: Junge Männer, die aufgrund ihrer Verwundungen vom aktiven Dienst ausgeschlossen waren, Gear-Reservisten, die zu alt für Einsätze waren, und Frauen von achtzehn bis frag nicht wie alt. In diesem Moment waren es nicht die Uniformen, die sie gleich aussehen ließen. Es war die nackte Angst in ihren Augen.

Ich will einfach nur einen ehrlichen Kampf. Schießen, nicht schießen. Vorrücken, zurückfallen. Aber jedes Mal, wenn ich diese Scheiße hier machen muss … jedes Mal kommt’s mir so vor, als würde ich es voll versauen und die ganze Welt enttäuschen.

Ohne Nahrungsmittelversorgung würde die Stadt bestenfalls ein paar Monate aushalten. Die Trinkwasserleitungen zu sichern, war schon schwierig genug. Es sah so aus, als hätten die Locust die Gelegenheit ergriffen, um eine Belagerung voranzutreiben.

»Die werden versuchen, uns auszuhungern, nicht wahr, Sir?«, sagte einer der ausgeschiedenen alten Männer.

»Sie sind alt genug, um sich an Anvil Gate zu erinnern«, erwiderte Hoffman. »Also wissen Sie, wie ich mit Belagerungen umgehe.« Es war der prägende Zeitpunkt von Hoffmans Karriere gewesen. Er war sich nicht mehr sicher, ob es ihn im Guten oder im Schlechten geprägt hatte, er wusste nur, dass er es nicht noch einmal durchmachen wollte. »Holt mir den Vorsitzenden ans Rohr.«

Eines musste man Prescott lassen: Er war jederzeit verfügbar, wofür er bei Hoffman einen Extrastein im Brett hatte. Innerhalb einer Minute rief er zurück. Jeder Rücken in der Zentrale war Hoffman zugekehrt, während sich die Offiziere wieder ihren Aufgaben widmeten, aber er wusste, dass alle aufmerksam mithörten.

»Wo liegt das Problem, Colonel?«

Mathieson reichte Hoffman schweigend einen aktualisierten Ausdruck. Eine weitere vierfache Markierung zeigte, wo die Locust wie eine Speerspitze eingefallen waren.

»Sieht aus, als hätten die Maden eine neue Strategie. Sie schneiden uns von der Lebensmittelproduktionszone ab.«

»In welcher Anzahl?«

»Die Anzahl spielt keine Rolle, wenn sie sich darauf konzentrieren, ein Sperrgebiet zu errichten. Wir haben zwei Optionen – Gegenangriff oder den Sektor räumen.«

»Und was empfehlen Sie?«

Es war eine militärische Option, aber Hoffman konnte weder die Rettung des Gebietes noch der dortigen Lebensmittelvorräte garantieren. Sie hatten jahrelang Erfahrung darin gesammelt, die Bevölkerung zu evakuieren und in gesicherte Bereiche zu versetzen, während die Locust-Horden überall in Tyrus vorrückten.

»Das Gebiet räumen, Herr Vorsitzender. Bei dem Tempo, in dem sie vorrücken, bleiben uns drei Tage, um die Produktion herunterzufahren und alles abzutransportieren. Es gibt nicht viele Leute zu verlagern, aber dafür haufenweise Ausrüstung und Vorräte.«

Es hörte sich an, als würde Prescott leise rechnen. »Das bedeutet, wir müssen Männer für den Schwertransport hinschicken.«

»Wir werden einen Konvoi mit Geleitschutz losschicken und zurückbringen. Aber wir müssen schnell handeln.«

»In Ordnung. Ich werde den Notfallschutz unter oberster Priorität darauf ansetzen und die werden sich innerhalb einer Stunde mit den Einzelheiten bei Ihnen melden. Wie viele Gears können Sie entbehren?«

»Nicht so viele, wie mir lieb wäre«, antwortete Hoffman. »Aber je schneller wir das durchziehen, desto schneller kann ich sie wieder ins Gefecht schicken.«

»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Colonel«, sagte Prescott und die Verbindung brach ab.

»Okay, Leute.« Hoffman klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Nicht, dass es nötig gewesen wäre. In der Stille hätte man sogar einen Rattenfurz gehört. »Staubt den Notfallplan ab. Ihre kennt eure Aufgaben. Sobald wir wissen, wie viele Fahrzeuge uns zur Verfügung stehen, plant ihr mir eine Route hinein und wieder heraus, dazu Zeitangaben und Infos, wie viele Männer und Gerät wir für die Umverteilung brauchen. Mathieson, halten Sie drei Trupps in Bereitschaft.«

»Sehr wohl, Sir.«

Es klang ausgezeichnet. Manchmal konnte Hoffman neben sich stehen und seiner eigenen Vorstellung zuhören, denn Führung war fast ebenso Sache der Präsentation wie das Soldatentum. Gears – und Zivilisten – brauchten Entscheidungsstärke, wenn die Scheiße dabei war, Kochtemperatur zu erreichen. Nur konnte er sich selbst nicht halb so gut überzeugen wie seine Männer.

Ich habe mir diesen Posten nicht verdient. Ich hab’s nur nicht geschafft, gekillt zu werden.

Verdient oder nicht, er hielt diesen Posten inne und es war sonst niemand in der Nähe, der geeignet gewesen wäre, ihn zu übernehmen. Es war seine Pflicht. Er würde sie erfüllen.

Und er betete, dass er die letzte Chance der Menschheit nicht versauen würde.