KAPITEL 17

 

Ich konnte nicht einfach so dasitzen und zusehen, wie sie sterben.

 

(PRIVATE DOMINIC SANTIAGO, COMMANDO-ABTEILUNG, 26 RTI, AUS DEM OFFIZIELLEN BERICHT ZUR OPERATION LEVELER)

 

ASPHO FIELDS, ZWEI MINUTEN NACH DER ZERSTÖRUNG VON ASPHO POINT

Das Feuerwerk hätte das Ende der Operation und den Beginn des Rückzugs markieren sollen, aber Perasapha war nicht zerstört worden und es sah so aus, als wäre der Überfalltrupp auf Ärger gestoßen.

»Was zum Teufel ist das?« Draußen über dem Meer konnte Carlos einen Helikopter sehen, unter dem ein angriffslustiger Lichtstrahl tanzte. »Nach was suchen die?«

Dom. Dom ist da draußen.

»Da kannst du nichts machen«, sagte Marcus. »Wo bleibt unsere Luftunterstützung? Die müssen diesen Asp ausschalten.«

»Zentrale Kalona, erbitten Status zur Petrel-Unterstützung«, sagte Mataki. Ihr Tonfall war ungewöhnlich sanft. Anya leitete noch immer den Funkverkehr. Carlos staunte über die Tatsache, dass jemand so entspannt mit dringenden Anfragen umgehen konnte, nur weil Brüllen vielleicht einen trauernden Funkoffizier aus der Fassung gebracht hätte.

»Dieser Asp muss dringend aus dem Weg geräumt werden. Erbitten außerdem Angaben zum voraussichtlichen Eintreffen der Verwundetenevak …«

Wuummp.

Matakis Stimme brach abrupt ab. Die Mörser starteten eine frische Feuerwelle und die ging auf ihre Position runter. Es entstand eine Pause, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, dann sprach sie weiter.

»Wiederhole … Ich habe sechsundzwanzig Verwundete. Wir haben drei schwere Geschütze in Stellung, um den Landebereich zu verteidigen.«

»Longstop zwei, Merit hat ihre restlichen sechs Petrels gestartet. Sie sind vor der Küste auf eine Ostri-Schwadron gestoßen und greifen an.« Auch Anya hielt durch. Sie hörte sich abgelenkt an, aber sie kniete sich trotzdem voll rein. Würde ich es genauso gut auf die Reihe kriegen? Irgendeiner von uns? »Die Sea Ravens werden eine Landung versuchen – Eintreffen in fünf Minuten. Sie verstehen, dass mehr als zwei Landungen notwendig sind, ja?«

Das Deck eines Ravens bot nur begrenzten Raum und bei dem Platz und der Ausrüstung, die für die Verwundetenversorgung gebraucht wurde, bedeutete das für eine Menge Gears, am Strand auf die nächste Mitfluggelegenheit warten zu müssen.

»Sarge, sie rücken wieder vor«, sagte Jakovs plötzlich. »Der Asp bewegt sich wieder in Richtung Straße.«

Zu erwarten, dass er sich zurückzog, wäre zu viel des Guten gewesen. Carlos spähte durch seinen Sucher und folgte seiner Bewegung. Er fuhr zu der Betonstraße durch die Aspho Fields, die Aspho Point mit der restlichen Welt verband, eine vereinzelte Zubringerstraße, die wie ein Floß auf dem weichen Boden saß.

»Für die Anlage kommt die Unterstützung ein bisschen spät«, stellte Jakovs fest. »Ich würde sagen, er sucht sich einen besseren Winkel auf den Landebereich. Vielleicht liegt er an der Grenze seiner Reichweite.«

»Keine Ahnung, was die da am Strand abziehen, aber vielleicht haben sie ihn dafür als Verstärkung gerufen.« Damit hatte Carlos genug. »Hindern wir den Bastard daran, rüberzukommen. Komm schon, Jaks, seid ihr Jungs bereit dazu?«

»Aber hallo«, erwiderte Jakovs.

»Lauf nicht einfach drauflos wie ein Idiot.« Marcus packte Carlos so fest am Arm, dass es wehtat. »Denk doch drüber nach. Ich kann über die Brücke rüber und ihn ausschalten.«

»Meinst du, so wie Stroud?« Aber Carlos hatte sich bereits wieder abgewandt und bewegte sich in Richtung Brücke. »Wir haben nur noch Minuten. Jetzt oder nie.«

»Keine Heldentaten, Santiago«, bellte Mataki. Der Kanal wurde still. Es hörte sich an, als hätte sie die Direktverbindung zur Kalona blockiert. Sicherlich wollte sie, dass die Offiziere nicht mithörten. Das war typisch Bernie Mataki – alles schön unter sich ausmachen, damit das Lametta glaubte, alles würde nahtlos und perfekt ablaufen, selbst jetzt. »Hören Sie auf Corporal Fenix. Das ist ein Befehl. Und ich sage das nicht sehr oft. Was haben Sie noch übrig?«

Jakovs Kumpel Marasin stellte ein Sortiment an Munition und Sprengkörpern zusammen. »Stomper und ein paar Tiefschläger.« Die waren nicht so effektiv wie Raketen, aber auf kurze Distanz konnten sie ganz schön reinhauen. »Wenn wir nah genug rankommen, ist das unsere beste Chance.«

»Tun Sie’s«, sagte Mataki. »Aber halten Sie sich so fern wie möglich.« Ein rasch aufeinander folgendes Wuummp-wu-ummp-wuummp ließ die Luft erzittern – noch mehr Mörserfeuer auf ihre Position. Sie machte eine Pause und fuhr dann fort, als sei nichts gewesen. »Denn wir werden nicht in der Lage sein, Sie zurückzuholen. Benutzen Sie ihren Kopf. Hören Sie auf Fenix und tun Sie, was Sie im Drill gelernt haben.«

»Sarge, wir werden den Asp angreifen, bevor er an die Brücke kommt«, sagte Marcus. »Dreißig Meter, zwei Tiefschläge gleichzeitig von beiden Seiten. Wenn das den Besatzungsraum nicht knackt, könnte es ihn immer noch lahm legen.«

»Los«, sagte Mataki.

Der Asp bewegte sich nicht sonderlich schnell. Er erweckte eher den Eindruck, herumzustromern, um kein fest stehendes Ziel abzugeben, als irgendwohin zu wollen. Doch dann rumpelte er auf seinen Ketten über den unebenen Boden und schob sich auf den Straßendamm.

Den Gears blieb nichts anderes übrig, als in die Kanäle zu springen und zur Brücke zu waten. Ein beschwerlicher Weg, aber er ermöglichte ihnen, unentdeckt zu bleiben, wenn sie ihre Köpfe unten behielten. Als sie sich dann unter der Brücke befanden, kletterte Carlos hinauf in das Gras, das an beiden Seiten etwas Deckung bot, und rannte zusammen mit Jakovs und einem aus dessen Trupp, Human, geduckt nach links. Marcus verschwand mit Marasin rechts im Gras. Ihnen blieben ein paar Minuten, um alles vorzubereiten.

Tiefschläger konnten mit passenden Aufsätzen von Lancern abgeschossen werden und bei dieser Entfernung war es egal, ob sie kalibriert waren oder nicht. Die panzerbrechende Munition würde in die Seiten des Asps schlagen. Sie konnten gar nicht danebenschießen.

Die beiden Trupps befanden sich fünfzig Meter weit draußen in den Aspho Fields, ungefähr dreißig Meter vor der Straße.

»Da kommt er«, sagte Marcus. » Wartet. Auf mein Zeichen.«

Der Asp zeichnete sich jetzt klar und deutlich in Carlos’ Nachtsichtgerät ab. Jedes Detail stach aus dem grünen Schimmer hervor, von den Nieten in den Panzerplatten über den Briefkastenschlitz von einer Frontscheibe bis hin zu der Regimentsnummer auf seiner Schnauze. Er konnte sogar einen Kopf sehen, ein abgerundeter Helm, unter dem eine Schutzbrille saß, war ganz knapp über der halb geöffneten Oberluke zu erkennen. Er sah das Ungetüm jetzt schräg von vorn, die Zahnkränze der Räder, den klumpigen Matsch in den schweren Ketten darauf, die lange schwarze Delle in der Seite …

»Drei …«, sagte Marcus. »Zwei … Feuer!«

Sie drückten ab. Carlos sah eine Wolke aus Rauch und Licht. Der laute Knall hörte sich nicht nach einer Detonation an, aber die Tiefschläger taten, was auf ihrem Etikett stand. Ein gezacktes, nach innen gebogenes Loch hatte sich sauber in die Seitenwand gebohrt. Der Asp brach aus, die Oberluke klappte zu und schließlich lag er mit einer Kette neben der Straße.

Aber er bewegte sich immer noch und nahm wieder seinen Kurs in Richtung Brücke auf. Irgendein Bastard war da drin noch am Leben.

»Scheiße«, sagte Marcus.

Carlos sprang instinktiv auf und rannte zur Brücke. Ihm schoss der verrückte Gedanke durch den Kopf, er könne im Rennen nachladen, wieder in den Kanal hinunterspringen und einen Meter oder so unter der Brücke – knietief, einfach, so einfach – in Position gehen, um von der Seite noch einen Tiefschläger durch das Bodenblech zu jagen. Er hörte, wie Marcus ihm nachrief, er solle zurückkommen. Als er stehen blieb, um sich umzudrehen, sah er Jakovs und Human, die ihm nachliefen. Sie hatten einfach reagiert. Carlos hatte einen Plan; er sah aus, als hätte er einen Plan. Er war der Typ Soldat, dem die Leute folgten.

Aber ihm wurde klar, dass der Plan alles andere als clever war.

Im selben Moment, in dem er sich umdrehte, feuerten Schüsse von rechts. Sowohl Jakovs als auch Hurnan wurden wieder und wieder getroffen. Hurnan stürzte schwer auf den Beton. Jakovs stand noch und versuchte, sich zu bücken, um ihn zu packen, und wurde drei weitere Male getroffen. Dann spürte Carlos, wie ihn etwas mit solcher Wucht oben ins Bein traf, dass er das Gleichgewicht verlor.

Er war schon einmal getroffen worden, in den Handrücken, und wusste, wie sich eine Kugel anfühlte: Mehr wie ein heftiger Hammerschlag als wie ein Durchschlag. Aber diese Kugel ging tief und er wusste, dass es dieses Mal anders war. Sein erster Gedanke war, in Deckung zu rollen. Er stürzte über die Böschung und landete im flachen, matschigen Wasser.

»Drei Mann getroffen!« Marcus war plötzlich nicht mehr Marcus, nicht mehr der stille, verschlossene Marcus, sondern ein Fremder, der schrie: »Carlos! Carlos! Halte durch! Wo steckst du, Kumpel? Wo steckst du?«

»Wer wurde getroffen?«, wollte Matakis Stimme wissen.

Ich bin nicht tot. Ich bin nicht tot. Ich werde irgendwie hier herausspazieren.

Es tat gar nicht so weh. Es konnte nicht ernst sein. Im Gegenteil, Carlos war empfindungslos. Es war eine lausig kalte Nacht.

»Ich bin in Deckung gesprungen«, rief er. »Mir geht’s gut, Marcus. Runter mit dir!«

»Den schnapp ich mir«, sagte Marcus ohne Sinn und Verstand.

Mataki meldete sich erneut über Funk. »Wer wurde getroffen?«

Carlos hörte das Schaben von Metall und dann einzelne gedämpfte Schüsse. Marcus keuchte angestrengt.

»Ich hab den Asp«, sagte er dann. »Ich bin drin.«

»Wie meinst du das – drin?«

»Ich sitz in dem verdammten Asp und er ist fahrtüchtig.«

»Heilige Scheiße, Fenix«, rief Mataki. »Können Sie feuern?«

Der Motor lief immer noch. Carlos konnte ihn über das konstante Rattern des Feuers hören. Er schaffte es, sich an den Rand des Kanals zu schleppen, indem er sich an das Ried klammerte, und so kam er mit seinen Augen auf gleiche Höhe mit der flachen Betonplatte der Brücke. Sie hatte nicht einmal ein Geländer.

Der Asp setzte zurück und schwang herum, sodass er wieder in die Aspho Fields schaute. Aus irgendeinem Grund schien niemand darauf zu reagieren; vielleicht glaubten sie, jemand von der Besatzung hätte den Angriff überlebt und wolle sich nun zurückziehen. Vielleicht war ihr Funk gestört oder vielleicht waren sie auch nur genauso verwirrt wie alle anderen auch.

Scheiße, ich bin so müde.

Carlos konnte Jakovs und Hurnans Leichen auf der Straße liegen sehen. Marasin konnte er nicht sehen, aber der konnte offensichtlich nicht mehr bei Marcus sein. Schock, Schuld, Angst – wegen Marcus, Angst um Dom, um sich selbst. Carlos wusste nicht, was als Nächstes passieren würde. Seine Gedanken waren eine lästige Unterbrechung einer schreiend leisen Stimme in seinem Kopf, die ihm sagte: Hau verdammt noch mal ab, du bist getroffen, dir geht’s gar nicht gut, du musst schnell etwas unternehmen, du Narr

Der Asp wurde langsamer und hielt an. Verdammt, wurde das kalt hier draußen.

Carlos legte seine Arme verschränkt auf die Brücke, um sich abzustützen. Von der Hüfte bis zum Knie konnte er einen beißenden, seltsam fernen Schmerz spüren. Das war gut, oder? Wenn er wach war und Schmerzen hatte, war es nicht so schlimm. Er blickte hinunter, um zu sehen, wo es ihn erwischt hatte.

Erst jetzt bemerkte er, dass er Dinge sah, die er nicht erkannte. In dem grünen Nachtsichtbild sah seine Hose aus, als ob sie nass wäre, aber er wusste, wie Gedärme aussehen. Und jetzt konnte er seine eigenen sehen. Für einen Augenblick erschien es unwirklich und er dachte, es würde irgendein Fehler vorliegen, aber dann wurde ihm klar, dass es nicht so war.

Scheiße, Scheiße, Scheiße … Ich bekomm das hin. Werden doch andauernd Jungs so angeschossen. Cool bleiben. Einfach Verband draufpacken.

Irgendwie passierte es gar nicht ihm. Er beobachtete nur. Aber er musste sich bewegen. Er wollte sich gerade aus dem Kanal ziehen, als die Explosionen losgingen. Als er sich schließlich auf festen Boden gezogen hatte und feststellte, dass er seine Beine nicht bewegen konnte, befanden sich die Aspho Fields im Chaos, während ein Ostri-Asp seine panzerbrechenden Geschosse auf Panzerfahrzeuge und eigene Truppen abschoss. Marcus stach tief in die feindlichen Linien hinein – mit einem angeschossenen Kampffahrzeug und wahrscheinlich ohne Rückzugsmöglichkeit.

Du hast es versprochen. Du hast versprochen, es vernünftig anzugehen, Marcus.

Carlos lag jetzt keuchend auf der Brücke, unfähig, sich zu bewegen. Er kam nicht einmal an seine Gürteltasche, um Verbände herauszuziehen. Sein einziger Gedanke in diesem Moment war das Bild eines zehnjährigen Marcus, der ausholte und einem Schulhofschläger einen Hieb verpasste, den niemand erwartete.

»Sarge.« Carlos schaffte es, den Knopf seines Funkgerätes zu drücken. »Sarge, ich werde hier noch eine Weile in Stellung liegen und auf Marcus aufpassen …«

 

VOR DER KÜSTE, WENIGER ALS EINEN KILOMETER VON ASPHO POINT ENTFERNT

Der Khimera war scheißegal. War er wirklich.

Dom strampelte im Meer und versuchte, seinen Kopf über Wasser zu halten. Er wäre längst ertrunken, bevor der Bordschütze ihn erwischte. Aber alles, worauf er sich konzentrieren konnte, war der Marlin, der immer mehr Wasser aufnahm, Morgan, der mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb, Young, der schlaff über die Reling hing, Cho, der verzweifelt versuchte, Wasser auszuschöpfen. Zwei der Wissenschaftler wanden sich und schrien. Sie würden nicht schwimmen können, wenn der Marlin unterging, und das würde er mit Sicherheit tun. Sie waren immer noch gefesselt.

Eine der sechs Zivilisten, die sie im letzten Moment noch mit an Bord genommen hatten, versuchte ihre Kollegen zu befreien. Sie hatte ihnen das Klebeband vom Mund gerissen, aber die Kabelbinder um die Handgelenke waren unmöglich abzukriegen. Sie hatte kein Messer.

Ich hob eins. Ich habe ein Messer.

Dom bekam einen der Schalensitze zu fassen und zog sich in den Marlin. Er kam überhaupt nicht auf den Gedanken, etwas anderes zu tun als das, was er jetzt vorhatte – sein Kampfmesser ziehen und die Plastikfesseln durchschneiden. In der Dunkelheit hatten die Gefangenen keine Chance, zu sehen, was zur Hölle los war, aber Dom konnte es, trotz des Wassers, das hinter seine Nachtsichtlinsen sickerte. Manche der Zivilisten und Pesangas waren bereits tot, durchlöchert von Kugeln, die den Rumpf des Merlins durchschlagen hatten, und auf dem Boden, am tiefsten Punkt des Rumpfes, lag Bettrys mit dem Gesicht nach unten im Wasser, das immer weiter einströmte. Meurigs Tochter – Scheiße, er kannte nicht einmal ihren Vornamen – strampelte sich ab, um den Kopf über Wasser halten zu können. Er zerrte beide hoch in Sitzhaltung, aber für Bettrys schien es zu spät zu sein.

Man weiß es nie genau, nicht beim Ertrinken.

Aber wie zur Hölle sollte man hier jemanden wiederbeleben?

»Dom, schau!« Bai Tak hing im Wasser und gestikulierte wie wild, während er sich an das Boot klammerte. »Bring sie rüber!«

Dom sah sich um, gerade als Benjafield den anderen Martin längsseits brachte. Der Khimera musste auch irgendwo sein – er konnte ihn hören –, aber im Augenblick ließ er sie in Ruhe und das war alles, worauf es ankam. Hoffman beugte sich über die Reling und versuchte, eine Leine um Morgan zu bekommen, während Dom Young hochhob und ihn zum anderen Boot hinüberschob, damit Timiou ihn hineinziehen konnte. Aber ein Martin konnte nun mal nur eine begrenzte Zahl zusätzlicher Personen aufnehmen, bevor er zu tief im Wasser lag und instabil wurde. Dom stand jetzt vor der schrecklichen Entscheidung, wen er retten sollte und wen nicht.

Es gab keinen Raven, der sie an seiner Winde in Sicherheit ziehen würde. Sie waren auf sich allein gestellt.

»Fünf«, brüllte Hoffman. »Fünf an Bord. Der Rest muss sich an der Außenseite festhalten und auf das Beste hoffen. Pesangas zuerst. Meine Männer zuerst.«

Dom hatte keine Ahnung, was die nächsten fünf Minuten mit sich bringen würden. Er wusste nur, dass er in Bewegung bleiben musste, dass er jede Chance ergreifen musste, um die Leute vor dem Ertrinken zu bewahren, bevor der Khimera zurückkehrte und sie alle mit seinen Maschinengewehren niedermähte. »Wir okay«, rief Bai Tak. »Nehmt die Zivilisten.« Von denen gab es fünf. Irgendetwas in Dom arbeitete und traf ohne Diskussion und bewusste Überlegung Entscheidungen. Bettrys – zu spät. Er hatte keinen Zeit, um nach einem schwachen Puls zu fühlen, oder für Herzmassage oder irgendeinen anderen Scheiß. Meurig – lebte, konnte aber warten. Er riss das Klebeband ab und zerschnitt die Fesseln. Cho, Shim und En-Lau waren verwundet – nicht schwer, aber sie hatten Vorrang. Er hielt das Tau des anderen Marlins fest, während Hoffman und Timiou die Leute herüberzogen. Sie waren gefährlich nahe daran, selbst zu kentern. »Bai Tak, komm schon«, brüllte Hoffman. »Du nimmst andere. Dieses Ding sinkt schnell.« Zwei Minuten im Wasser, vielleicht fünf, bevor bei diesem Wetter Unterkühlung einsetzt.

Dom konnte niemanden zurücklassen. Ihm wurde klar, dass er verrückt sein musste und dass jeder halbwegs vernünftige Mensch die Chance genutzt hätte, den anderen Martin so schnell wie möglich wegzubekommen, aber Benjafield und Hoffman mussten genauso verrückt sein, denn auch sie versuchten weiter, Leute zu retten.

Der Martin lief jetzt so schnell voll Wasser, dass Dom nur noch an eines denken konnte: Er musste dafür sorgen, dass alle bei dem anderen Boot blieben. Während der Martin unter ihm versank und er sich mit Tretbewegungen über Wasser halten musste, zerrte er jeden, der noch an der Oberfläche trieb, zum anderen Boot und legte ihre Hände an den Rumpf. »Halt dich einfach fest«, rief er dabei. »Festhalten!« Er konnte jetzt kaum noch etwas sehen. Wassertropfen perlten über die Innenseite seines Nachtsichtgeräts, sodass er es sich auf die Stirn schieben musste. Hoffman streckte seinen Arm aus und packte ihn am Kragen.

»Genug, Santiago. Jetzt rein mit dir.«

Dom war sich nicht einmal sicher, wie viele Leute er eigentlich hätte rausfischen sollen. Er wusste, dass er ein paar verloren hatte, und das nahm ihn ziemlich mit. Er hatte nicht das Gefühl, den UIR-Wissenschaftlern auch nur einen Furz zu schulden, aber er stellte sich für einen Moment vor, wie es wäre, hilflos in der kalten Schwärze der See zu versinken, und der Gedanke erdrückte ihn.

»Ich kann nicht«, sagte er. Und er konnte Hoffmans ausgestreckten Arm wirklich nicht greifen, er hatte einfach nicht mehr die Kraft dazu. Er war noch nie ein besonders guter Schwimmer gewesen und jetzt begann er sich zu fragen, was zum Teufel er überhaupt im Wasser machte. »Ich bin okay, ich mach einfach toter Mann …«

»Du gehst rein«, sagte Bai Tak. Der Sergeant dümpelte neben ihm im Wasser. Er gab Dom einen Stoß. »Rein mit deine Hintern, Dom. Du hast Babys, um die du kümmern musst.«

Dom fiel mit dem Kopf voraus in den Marlin. Als er sich, die Hände taub vor Kälte, aufrappelte, erhob sich der Khimera aus seinem Schwebflug dicht über der Oberfläche und schwenkte herum. Er musste die Besatzung des anderen Helikopters inzwischen gerettet haben, aber vielleicht hatte er sie auch einfach aufgegeben.

Jedenfalls kam er jetzt wieder auf sie zu. Dom hob einen Lancer vom Boden auf. Es war das Dümmste und Verzweifeltste, was er an diesem Tag, der nur noch aus dummer Verzweiflung zu bestehen schien, unternahm, aber er wartete, bis der Khimera in Schussweite kam. Dieser behielt seine Höhe bei. Er würde nicht das Schicksal seines Kameraden teilen. Und dann eröffnete er das Feuer.

Malcolm Benjafield, der einen Meter von Dom entfernt am Steuer des Marlins stand, wurde ins Gesicht und die Brust getroffen und von Bord geschleudert. Dom spürte Kugeln durch den Rumpf schlagen. Falls die Salve noch jemand anderes getroffen hatte, so wusste er es nicht und ihm blieb nichts anderes übrig, als zu feuern. Er war nicht der Einzige, der das Feuer erwiderte, und war sich ziemlich sicher, dass auch Timiou und einer der Pesangas aus vollen Rohren schoss. Plötzlich stieg der Khimera auf und ging in Schräglage und für einen Augenblick glaubte Dom schon, sie hätten ihn vertrieben, aber es war nicht das Feuer ihrer Lancer, das der Besatzung den Arsch auf Grundeis gehen ließ. Der Khimera war ungefähr hundert Meter entfernt, als etwas mit einem lauten Wuuschhh über ihre Köpfe hinwegzischte und mit einem kleinen Schweif aus Rauch und Flammen in den hinteren Teil des Helikopters einschlug.

»Scheiße!«, rief Timiou. Dom duckte sich, als der anschließende Feuerball über sie hinwegzurollen drohte. Aber das geschah nicht und die Trümmer fielen in einiger Entfernung vom Marlin ins Meer. Sofort herrschte wieder Dunkelheit. Sie befanden sich weit von der Küste entfernt und Dom spürte Wasser über seine Knöchel steigen. Jetzt sank dieser Marlin auch noch.

Der ganze Scheiß umsonst. Nein, ich gebe nicht auf. Nicht jetzt. Bastarde. Nicht nach der ganzen Scheiße.

»Bai Tak?« Hoffman beugte sich über die Reling und rief in die Dunkelheit. »Bai Tak? Bai!«

Er kniete sich mit seinem Lancer in den Bug und suchte durch das Visier das Wasser ab. Schließlich senkte er das Gewehr wieder und fing an, in aller Stille wie verrückt auf den Marlin einzuschlagen. Timiou nahm das Funkgerät und rief die Pomeroy zur Rettung.

»Die Zentrale der Pomeroy sagt, die Bots wären eingeholt«, sagte er.

»Darauf ein verficktes Hurra«, sagte Dom.

»Wir sind noch nicht fertig«, meinte Hoffman. »Bai? Bai!«

Timiou ging wieder ans Funkgerät. Sie würden sinken, bevor sie jemand erreichen konnte. Sie würden sinken, bevor sie auch nur ein paar hundert Meter weit kämen. Dom schaltete wieder auf Autopilot und sah nach, wer alles Schwimmwesten trug. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, als Gruppe im Wasser zu treiben, in der Hoffnung, die Pom würde sie aufspüren, bevor noch ein Khimera vorbeikam, um ihnen den Rest zu geben.

»Wo ist diese Rakete überhaupt hergekommen?«, fragte Dom. Er schaltete nicht mehr sonderlich schnell. Die Kälte machte ihn träge. »Sind doch keine verdammten Ravens hier draußen.«

Timiou fragte über Funk bei der Pomeroy nach. »Von der Küste. Die Zentrale der Kalona meldet, dass Fenix sich ein UIR-Fahrzeug gekrallt und auf alles geschossen hat, was ihm vor die Nase kam.«

Es fiel Dom schwer, das zu verdauen. Er hatte größere Probleme, die ihn davon abhielten, über diese außergewöhnliche Tatsache nachzudenken, oder darüber, dass er einen Bruder hatte, der an Land kämpfte, oder dass ihm eine Tochter geschenkt worden war, die er noch nie gesehen hatte und jetzt wahrscheinlich auch nie mehr zu Gesicht bekommen würde.

Der letzte Gedanke war es, der ihn umgehend wieder wachrüttelte. Er konnte Hoffman sehen, der immer noch im Bug kniete und gerade seine Hand für einen Moment an den Kopf legte.

»Sir, alles in Ordnung?«

Hoffman antwortete nicht.

»Sir?«

»Bai Tak ist tot«, sagte Hoffman schließlich. »Bastarde. Was soll seine Frau jetzt tun? Seine Kinder?«

Es gab nichts, was Dom hätte sagen können. Bai Tak hätte jetzt an Bord sein können, wenn er Dom nicht mit aller Kraft in die Sicherheit des Bootes gestoßen hätte. Ein böser Gedanke, der schwer zu ertragen war, und Dom wusste, dass es mit den Jahren nur schlimmer werden würde.

»Young ist tot.« Timiou schöpfte jetzt zusammen mit Hoffman den Marlin aus. »Scheiße, wir haben die Hälfte von uns verloren. Shim geht’s miserabel. Wo bleibt der verfickte Raven?«

Dom schloss sich ihrer Arbeit an und ebenso die Zivilisten. Er wusste nicht, wie lange sie schon Wasser geschöpft hatten, als er endlich den nahenden Raven hörte. Er saß einfach nur zusammengesackt da, versuchte, das Meer dahin zurückzuschaufeln, wo es hingehörte, und hörte zu, wie die Zivilisten mit gedämpften Stimmen in einer Sprache redeten, die er nicht verstand, bis der Helikopter so nahe war, dass er den Bordschützen sehen konnte, der aus einem Nebel aus Gischt auf sie hinunterblickte. Das Wasser um sie herum schäumte im Abwind. Hoffman sprach mit dem Piloten über Funk, aber Dom konnte nur Hoffmans Sätze hören. Sein eigenes Funkgerät streikte.

»Es wird zu lange dauern, uns alle einen nach dem anderen mit der Winde hochzuziehen«, erklärte Hoffman. »Er sagt, sie haben weitere Khimeras auf dem Radar. Der verrückte Bastard will, dass wir den Marlin in seinem Frachtraum andocken.«

»Ich mach das«, sagte Dom, ohne weiter nachzudenken.

»Sind Sie sicher, dass Sie das schaffen?«

»Entweder so, oder die kommen zurück und ballern uns in Stücke.« Dom war kein geeigneter Steuermann wie Benjafield, aber er wusste, wie man das Ding fuhr. Er war so furchtbar müde, dass er das alles einfach nur hinter sich bringen wollte, ganz gleich, wie. »Die werden ihre Leute nicht retten. Die werden sie einfach nur abknallen und uns mit ihnen.«

Wie schwer konnte es sein?

Dom fand es heraus, als er am Steuer stand und zusah, wie der Raven auf dem Wasser landete – ja, er landete, er setzte wirklich aufs Wasser auf – und seine Frachtluke öffnete. Ein Marlin, der tief im Wasser lag und dazu noch voller Wasser stand, das hin und her schlug, war ein Albtraum zum Steuern. Dom schaffte es, das Boot auf eine Linie mit dem Frachtraum zu bringen, und versuchte, durch salzverschmierte Linsen die Breite der Frachtluke abzuschätzen. Hoffman reichte ihm sein Funk-Headset.

»Einfach auf Linie halten und geradeaus steuern«, sagte ihm die Stimme des Bordschützen. »Und nicht vergessen, im letzten Moment den Außenborder hochzuklappen.«

Doms kälteumnebeltes Gehirn sagte ihm, der Gummi-Bug würde den Aufprall dämpfen, falls er im Inneren ein Schott rammte. Der Raven schien auf ihn zuzurasen. »Wie sieht das aus?«

»Gut. Weiter so. Kurs halten. Und ordentlich aufdrehen.«

»Du machst Witze.«

»Nein. Du brauchst Schwung, um die Rampe hochzukommen. Komm schon. Vertrau mir.«

Dom sah, wie Hoffman die Schultern etwas hochzog und sich offenbar auf einen Aufprall gefasst machte. Und dann drehte er auf. Dom betete. Das tat er nicht oft. Der offene Schlund des Frachtraums kam auf ihn zu wie das Maul eines gefräßigen Tieres und er konnte nur noch daran denken, dass das Letzte, was er sehen würde, falls etwas schief ging, der harte Nackenpanzer von Hoffmans Rüstung wäre, der ihm wahrscheinlich die Nase brach.

»Gas weg, Gas weg, Gas weg!«, rief der Bordschütze.

Der Marlin krachte mit voller Wucht gegen irgendetwas und schlug mit einem dumpfen Knall auf den Boden des Frachtraums. Das Heck schwang herum und gelb glänzende Gestalten – Besatzungsmitglieder, die Dom gar nicht im Frachtraum hatte warten sehen – schienen sich wie Fliegen an die Schotten zu klammern. Dann kam das Boot zur Ruhe und Dom wäre beinahe über das Steuer auf Hoffmans Rücken gekippt.

»Scheiße«, sagte er.

Die Rampe schlug scheppernd hinter ihnen zu, während der Raven aufstieg und Seewasser über den Boden abfloss. Dom sackte einfach nur nach vorn auf das Steuer und legte zitternd vor Kälte den Kopf in seine verschränkten Arme.

Geschafft. Endlich geschafft. Wo ist Carlos jetzt? Wo ist Marcus?

»Santiago«, rief Hoffman und klopfte ihm auf den Rücken. »Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was Sie heute Nacht vollbracht haben?«

Doms Verstand kreiste in diesem Moment nur noch um eine Sache. Aspho Point und Bots und abgeschossene Khimeras rückten in abgestumpfte Ferne.

»Ja, Sir«, sagte er. »Ich habe eine Tochter.«

 

ASPHO FIELDS

Der Asp kam hundert Meter vor Bernie Matakis Stellung zum Stehen und rollte mit der Schnauze voraus langsam in den Kanal.

Er war drei Mal von leichtem UIR-Feuer getroffen worden und sein zehnminütiger Amoklauf hatte fürs Erste nichts auf dem Schlachtfeld übrig gelassen, was einen Raven vom Himmel hätte holen können. Bernie wusste, die vergleichsweise ruhige Pause würde nicht von langer Dauer sein. Die Petrels von der Merk hatten Perasapha getroffen und kamen für einen zweiten Ansturm zurück. Der Horizont strahlte orange durch die Flammen. Ein falscher Sonnenaufgang. Es war Zeit für den Rückzug.

»Corporal, kommen Sie da raus. Es ist vorbei. Sie haben sogar einen beschissenen Khimera runtergeholt.«

»Ist Carlos bei Ihnen?«

Sie hatte ihn nicht gesehen. Er war unten bei der Brücke und sie hatte ein paar Mal gehört, wie er Feuer erwidert hatte, aber von ihrer Position aus konnte sie nichts sehen.

»Nein«, antwortete sie. »Er schießt immer noch aufs Geratewohl unten bei der Brücke rum.«

»Blödes Arschloch«, murmelte Marcus. »Glaubt nicht mal, dass ich es allein schaffe, ein paar Kav-Einheiten abzuschießen.«

Die Luke ging auf und Marcus zog sich hinaus. Statt sich auf den Weg zurück zum Sammelpunkt zu machen – zum Strand, zu dem Landebereich, wo die Sea Ravens jetzt für wenige kostbare Minuten Gelegenheit hatten, zu landen –, begann er, in die andere Richtung zu schauen.

Bernie fluchte vor sich hin. Scheiße noch mal, sie würde ihn niemals hierher zurückbekommen, wenn sie nicht persönlich rausgehen und ihn zurückschleifen würde.

»Tai, bringen Sie die Nachzügler runter zum Landebereich, ja?«, sagte sie zu Kaliso. »Fenix und Santiago spielen noch ’ne Runde dumme Penner. Wenn wir in zehn Minuten nicht zurück sind, stellen Sie sicher, dass der Pilot weiß, dass wir noch leben und nach Hause wollen. Ich hab keinen Bock, eine Flucht quer durchs Gelände anzutreten.«

»Ja, Sarge. Sind Sie sicher, dass Santiago noch da draußen ist?«

»Sicher.«

»Ich habe seit ein paar Minuten keine Schüsse mehr von seiner Position gehört und er hat sich nicht über Funk gemeldet.«

»Ich wette, ihm ist die Muni ausgegangen.« Aber warum sollte Carlos keine Unterstützung rufen? Passte er wirklich auf Carlos auf?

»Ich jag ihm meinen Stiefel bis zum fünften Schnürloch in den Arsch, wenn ich ihn in die Finger kriege.«

Aber noch bevor sie den Satz beendet hatte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Und kaum hatte sie den ersten Schritt gemacht, ging auch schon wieder das Feuer aus den Stellungen der Unabhängigen los.

Sie saßen noch immer da draußen, jede Menge von ihnen. Sie besaßen nur keine Luftabwehrkapazitäten mehr.

Marcus würde hören, was sie als Nächstes über Funk sagte, aber das konnte sie nicht vermeiden. Sie rannte in die nächstmögliche Deckung, einen dichten Grashügel, und sofort riss automatisches Feuer ein paar Meter neben ihr den Boden auf.

»Carlos«, sagte sie. »Carlos, schaffst du’s allein zurück zum Sammelplatz?«

Sie wartete. Irgendwie hatte sie das Gefühl, sie wüsste die Antwort bereits.

»Negativ.« Carlos hörte sich nicht gut an. »Ich kann mich nicht bewegen. Ich bin getroffen worden.«

Wie zu erwarten, mischte sich Marcus sofort ein. »Ich hole dich«, sagte er. »Wo bist du? Was zur Hölle ist passiert? Warum hast du keinen Sani gerufen? Warum nicht mich?«

»Weil ich wusste, dass du das tun würdest. Tu’s nicht, Marcus.«

»Halt die Klappe. Ich komme.«

Marcus war näher bei der Brücke als Bernie. Sie sah ihn die Böschung entlangkrabbeln, aber kaum brach er aus seiner Deckung hervor, hagelte es wieder feindliches Feuer. Leuchtspurgeschosse gaben ihn preis. Er warf sich wieder auf den Boden und kroch weiter.

Scheiße, er hört nicht auf mich

Bernie schaltete auf den Trupp-Kanal. Marcus hatte eine Zukunft vor sich und das Letzte, was Bernie wollte, war, dass jeder und sein Hund mitbekam, wie er Befehle missachtete und überhaupt einen Vollarsch aus sich machte. Er war der perfekte Gear – außer es ging um Carlos. Diese Freundschaft war ihm wichtiger, als am Leben zu bleiben oder Standardvorgehensweisen zu beachten, und auch wenn es bisher keinen von beiden in Schwierigkeiten gebracht hatte, würde es noch geschehen. Wenn er das nicht in den Griff bekam, würde er eines Tages noch vorm Kriegsgericht enden.

»Fenix, bleiben Sie zurück. Das ist ein Befehl. Rollen Sie in den Kanal und dann ab mit Ihnen zum Sammelpunkt.«

»Nein, Sergeant. Ich muss zurück zu ihm.«

Okay, dann helf ich wohl besser. »Ich häng Ihnen ’ne Scheiß-Klage an.«

»Warum laufen Sie dann in meine Richtung?«

Bernie lief im Zickzack am Rand des Kanals entlang und warf sich alle paar Meter flach auf den Boden. Marcus bewegte sich am gegenüberliegenden Ufer entlang. Sie war sicher, er würde jeden Moment niedergemäht werden, aber er kam auf hundert Meter an die Brücke heran, bevor das Feuer ihn festnagelte. Das war der Augenblick, in dem sie beschloss, ein, zwei Sekunden anzuhalten, um nachzusehen, wo Carlos steckte. Die Szene, die sich ihr eingerahmt vom Sucher ihres Lancers bot, drehte ihr den Magen um.

Marcus musste es ebenfalls sehen können, falls er seinen Kopf hochbekam. Carlos hatte es zerlegt. Er lag an der Seite der Brücke, einen Arm ausgestreckt, als wolle er versuchen, aufzustehen, während er mit der anderen Hand seine Eingeweide umklammerte. Ein Teich aus Blut hatte sich um ihn herum ausgebreitet. Sie war überrascht, dass er noch bei Bewusstsein war. Nein, sie war entsetzt.

»Alles okay, Carlos«, sagte sie, so sanft sie konnte. »Wir kommen, Süßer. Halt schön durch. Wir lassen dich nicht zurück.«

»Geht zurück. Seid nicht so verdammt blöd. Lasst mich.«

»Halt einfach durch.«

Bernie rannte zwanzig Meter weiter. Als sie sich hinwarf und aufblickte, befand sich Marcus am gegenüberliegenden Kanalufer ungefähr auf gleicher Höhe. Schüsse schmetterten um ihn herum nassen Boden in die Luft. Sie dachte, er wäre getroffen worden.

»Gehen Sie einfach, Sarge.« Carlos hörte sich an, als würde er schluchzen. Er bemühte sich, seinen freien Arm zu bewegen. »Bitte. Ihr geht noch drauf. Jaks und seine Kumpel sind wegen mir schon tot. Marcus … lass es sein, ja? Es tut mir leid. Es tut mir leid. Ich hab’s versaut. Ich hab nicht nachgedacht. Ich hab euch hängen lassen.«

»Du hast mich noch nie hängen lassen. Noch nie. Sag so etwas nie wieder.« Marcus erhob sich kurz, aber die Schüsse ließen nicht nach. »Sarge, können Sie mir ein bisschen Feuerschutz geben?«

Marcus war jünger und ein verdammt guter Sprinter. Bernie war der bessere Schütze. An der Logik konnte sie nicht rütteln.

»Okay. Auf mein Zeichen …«

Aber das Feuer richtete sich jetzt auf die Brücke. Jemand musste Carlos gehört haben. Er kreischte auf, als wäre er noch einmal getroffen worden. Bernie hörte Marcus reagieren – keine verständlichen Worte, nur schreckliche, animalische Laute – und sie dachte, sie müsse sich übergeben. Nichts, absolut nichts war schlimmer, als einen verwundeten Kameraden sehen und hören zu können, ohne in der Lage zu sein, zu ihm zu gelangen.

»Pass lieber auf Dom auf«, keuchte Carlos. »Hörst du mich, Marcus? Kümmere du dich um Dom. Er ist auch dein Bruder. Versprich mir das.«

»Hör auf«, sagte Marcus. »Halt einfach die Klappe. Du kannst dich um ihn kümmern, wenn du wieder zurück bist.«

Es war das erste Mal, dass Bernie Marcus kurz vor dem Zusammenbruch erlebte. Er war immer so abgeklärt, aber er war auch nur ein Mensch und hier war sein Schwachpunkt: Sein Kumpel. Sein Bruder. Sie gab ein paar unbestimmte Schüsse in Richtung Feind ab und erntete damit etwas Ruhe. Als sie zu Carlos zurückschaute, hatte sich sein Arm bewegt und er schaffte es, an seinen Gürtel zu kommen. Er war jetzt in die Brust getroffen worden, oben rechts, wo der Brustmuskel an der Schulter ansetzt. Die Wunde war frisch, hinderte ihn aber nicht daran, in seinen Taschen zu wühlen. Seine Bewegungen waren langsam und schwerfällig, aber sie konnte sich gut vorstellen, was er vorhatte, und dann sah sie die Granate in seiner Hand.

Oh Scheiße. Ich kenne euch beide zu gut.

Du und Marcus. Dass ihr füreinander sterben würdet, bedeutet doch nicht, dass ihr es tun müsst.

»Carlos, warte!«, rief sie. »Halte noch etwas durch!«

Marcus schien die Granate nicht gesehen zu haben. Carlos kämpfte sich schon mit dem Splint ab. »Wir kommen, Kumpel!«

Die Blutlache breitete sich weiter aus. Es war einfach nicht fair, dass Carlos noch bei Bewusstsein war. Er hätte allein vom Blutverlust ohnmächtig werden müssen. Bernie fluchte.

»Verfielet noch mal, erschieß mich, Marcus«, schrie Carlos. »Ich schaff’s nicht mehr. Ich krieg den Splint nicht raus. Erschieß mich! Ich will nicht, dass du wegen mir draufgehst.«

Marcus erstarrte. Bernie glaubte, er würde sich nie wieder bewegen.

Scheiße, sieh nur, in welchem Zustand er ist. Der arme Bastard. Er wird’s nicht schaffen, selbst wenn wir ihn erreichen. Wenn Carlos es nicht selbst tun kann, wenn Marcus es nicht kann … dann tue ich es.

Carlos’ Stimme wurde schwächer. »Du gehst noch drauf. Geh zurück. Bitte. Ich kann das nicht zulassen. Verschwinde von hier.«

Bernie war der Scharfschütze ihrer Abteilung. Es war ihr Job. Und Marcus würde sich nie davon erholen, seinen besten Freund zu erschießen. Sie wusste es.

Besser, er hasst mich als sich selbst …

Sie legte an und ließ das Fadenkreuz ihres Suchers auf Carlos’ Stirn wandern. Sie sah ihn direkt von vom und wünschte sich, er würde sich zur Seite drehen. Nicht nur, weil sie es kaum ertrug, ihm in die Augen zu sehen. Sie wollte einen sauberen Schädelschuss. Im Geiste stellte sie sich eine Linie vor, die auf Augenhöhe um seinen Kopf verlief. Ein einziger Schuss in die Schädelseite oder den Hinterkopf hätte ihn augenblicklich erlöst. Jetzt musste sie es von vom versuchen.

Scheiße.

»Carlos, Süßer … mach einfach die Augen zu. Es ist gut.«

Nach ein paar quälend langen Sekunden regte sich Marcus wieder und sprach mit gewohnt nüchterner Stimme.

»Hör auf mit dem Mist, Carlos, wir holen dich hier raus.«

Er zögerte keine weitere Sekunde und bat sie auch nicht um Feuerschutz. Er erhob sich einfach aus der Hocke und wartete geduckt auf den richtigen Augenblick.

Das war Marcus, wie er leibte und lebte. Er ging ran.

»Du blöder Bastard«, keuchte Carlos. »Du bist der Beste. I … ich kann nicht zulassen, dass du ein totes Arschloch aus dir machst.«

Und damit – endlich – zog Carlos den Splint.

Bernie hatte falsch eingeschätzt, wie nahe sie waren. Trümmer trafen sie – Beton und Schlamm – und die Brücke stürzte ein. Marcus brüllte nur. Kein richtiges Wort, nur ein Laut aus purer Wut und Leid. Aber er rannte weiter. Er wollte zu der Leiche. Als Bernie sich hinkniete und so weitläufig, wie sie nur konnte, Feuer verteilte, merkte sie, dass ihre Gedanken nicht um die Kugel kreisten, die sie umbringen würde, sondern um das, was Marcus zurückbringen könnte. Sie wollte nicht hinsehen. Sie feuerte einfach weiter und das Nächste, was sie wahrnahm, war Marcus, der durch den Kanal hechtete und sich dann neben ihr in Deckung warf.

»Wir gehen nach Hause«, sagte er. »Ich bringe Carlos heim.«

 

SAMMELPUNKT, KÜSTENSTREIFEN, DREI KILOMETER NORDÖSTLICH DER ASPHO FIELDS

Bernie Mataki war seit ihrem achtzehnten Lebensjahr ein Gear – einundzwanzig Jahre in Rüstung, in denen sie Männer und Frauen auf vielerlei Arten hatte umkommen sehen.

Manchmal ging es schnell und manchmal auch nicht. Und manchmal – so wie Marcus Fenix – starben sie nur ein Stück und machten noch jahrelang weiter. Der Marcus, der jetzt am Küstenstreifen auf die Extraktion wartete und dabei die Überreste seines besten Freundes in einem Biwaksack in den Armen hielt, war nicht mehr der Junge, mit dem sie eingeschifft hatte. Und er würde es auch nie wieder sein.

Ihr Funkgerät knisterte. »Zentrale Pomeroy an Mataki, Ravens im Anflug auf Ihre Position, voraussichtliches Eintreffen in vierzehn Minuten. Wir überstellen Sie zur Pom. Die Ärztin der Kalona hat alle Hände voll damit zu tun, den Rest der C-Kompanie zusammenzuflicken.«

»Verstanden, Pom.« Scheiße. Die Pomeroy besaß zwar bessere Einrichtungen als die Kalona, aber sie hatte auch Adam Fenix an Bord. Sie blickte zu Marcus, um zu sehen, ob er es gehört oder bemerkt hatte. Er zeigte keinerlei Reaktion. »Hier ist nur ein Schwerverletzter übrig. Unterschenkel zerfetzt, hat beim Rückzug eine Menge Blut verloren, ist im Augenblick aber stabil.«

»Wir geben dem Chirurgen Bescheid. Gute Arbeit, Tyrans. Die Bots sind im Trockenen und die meisten Jungs der Spezialeinheit haben es geschafft.«

Sie musste nachfragen. Sie ertrug die Vorstellung nicht, wie Marcus auf noch mehr schlechte Nachrichten reagieren würde. Sie alle hatten in dieser Nacht enge Freunde verloren und es würde schwer werden, sich dem zu stellen, aber Marcus’ Lage war die schlimmste, die sie sich vorstellen konnte.

Es stimmt, ich hätte Carlos umgelegt. Aber ich habe es nicht getan. Und Marcus hatte recht, es zu versuchen. Und niemand sonst hat es gehört, also … Fall erledigt.

»Dom Santiago?«, fragte sie. »Hat er es geschafft?«

»Ein gottverdammter Held. Hat eine Menge Kameraden aus dem Wasser gerettet, einen Khimera runtergeholt und einen Marlin in den Frachtraum eines Ravens gesetzt. Der bekommt einen Orden.«

Bernie hätte am liebsten geweint vor Erleichterung. »Noch hat niemand mit ihm über seinen Bruder gesprochen, oder?«

»Gehört er zu den Verlusten?«

»Leider ja. Ich möchte nicht, dass Dom es von irgendjemand anderem erfährt. Nicht ein Sterbenswort, okay? Wir übernehmen das. Er muss es von uns hören. Wir sind ein eng verbundenes Regiment.« Ja, sie würde es Dom persönlich beibringen. Marcus war dazu nicht in der Verfassung. »Und Major Hoffman?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht, der reinigt im Augenblick seinen Lancer. Verrückter Bastard. Pomeroy Ende.«

Verrückt. Nein, traurig. Armer alter Vic.

Bernie machte es zu ihrer Angelegenheit, um das Schicksal der Gears unter sich zu wissen. Marcus würde nicht gerade in den Schoß einer fürsorglichen, liebenden Familie zurückkehren. Er hockte da, ein Knie angezogen und einen Arm darum gelegt, immer noch in der gleichen Position erstarrt, den Kopf gesenkt und eine Hand um das gelegt, was sie in Gedanken nur das Päckchen nannte. Sie ging vorsichtig zu ihm und legte ihm die Hand auf den Rücken. Sie brachte gute Neuigkeiten, aber sie würden ihm noch mehr zusetzen.

»Marcus«, sagte sie. »Ich hab grade gehört, dass Dom heil rausgekommen ist. Hat sogar einen Super-Job hingelegt.«

Marcus sagte eine Weile gar nichts und bewegte keinen Muskel. Die übrig gebliebenen zehn Frauen und Männer der C-Kompanie hielten sich in der Deckung einer bröckelnden Klippe und warteten darauf, dass der Raven landete.

»Ja, Dom ist der geborene Gear«, sagte er schließlich.

»Ich werde es ihm sagen. Das geht in Ordnung.«

»Nein, das ist mein Job. Ich bin ein Santiago. Ehren-Santiago, so haben sie mich immer genannt.«

»Bist du sicher?« Marcus war ein großer, starker Bursche, der Inbegriff eines Gears, aber ganz gleich, wie hart er wirkte, er kam Bernie immer angeschlagen vor. Er schien immerzu auf der Suche nach etwas zu sein, das er dringend brauchte – Anerkennung, Entgegenkommen, Zuneigung –, aber was immer es auch sein mochte, von Carlos und Dom hatte er es bekommen. Jetzt, da es Carlos nicht mehr gab, schien er auf halbe Größe geschrumpft zu sein.

»Wir waren Freunde, seit wir Kinder waren«, sagte er. »Er, ich und Dom. Ich habe mehr Zeit bei ihnen zu Hause verbracht als bei uns.«

Schon klar, du warst ein einsames Kind. Es steht dir ins Gesicht geschrieben. »Tut mir leid, Süßer.« Sie konnte mit ihm nicht länger wie mit einem Gear reden. Im Augenblick war er nur ein weiteres gebranntes Kind. »Tut mir wirklich leid.«

Marcus legte den Kopf wieder auf sein Knie und Bernie wartete. Sie nahm an, er würde so verharren, bis der Raven landete, isoliert in seinem eigenen Kopf, und dann wieder aufstehen und weitermachen, so wie er es immer tat. Er gehörte nicht zu den Leuten, die alles herauskehrten. Aber seine Schultern fingen an zu zittern und dann sein ganzer Körper. Trotzdem gab er keinen Ton von sich.

Ihr war klar, dass er sich die Seele aus dem Leib weinte.

Irgendwie schaffte er es, völlig still zu bleiben. Sie fragte sich, wie jemand so etwas erlernen konnte, und vor allem, aus welchen Grund. Dann schließlich brach der Damm.

»Er war mein verdammter Bruder.« Es war nur ein Flüstern, Tränen sah sie noch immer nicht. »Und er ist tot. Er ist ein für alle Mal tot. Was soll ich nur ohne ihn tun?«

»Du wirst für Dom da sein«, sagte Bernie. »Und er wird für dich da sein. So wird es sein. Dieses Regiment ist eine Familie, Marcus. Wir sind es gewohnt, diese Scheiße durchzumachen, und du und Dom, ihr werdet nicht allein sein.«

Seine linke Hand auf den Überresten von Carlos machte es umso schwerer, ihn anzusehen. Er war nicht der erste Gear, der seinen Kumpel in Stücken zurückbrachte, aber es war unmöglich, dass ein menschliches Wesen jemals auf so etwas vorbereitet sein oder spielend damit fertig werden konnte. Nicht einmal für die Ärzte war es leicht, mit den Fremden umzugehen. Es war ein Albtraum.

Und wir haben Stroud nicht zurückgebracht. Scheiße. Das sind immer die Dinge, an die man nicht denkt, bis sie passieren. Arme Anya. Noch ein Kind, das jetzt durch die Hölle gehen muss.

»Hättest du geschossen?«, fragte Marcus schließlich.

»Zur Hölle, ja. Ich hatte schon angelegt, aber er war schneller.« Bernie war sich nicht sicher, ob Marcus sich dadurch besser oder schlechter fühlen würde. Vielleicht würde er darin den Vorwurf sehen, dass er Carlos dazu gebracht hatte, den Splint zu ziehen, damit er nicht weiter versuchte, zu ihm zu kommen. »Und ich erwarte von jedem anderen, das Gleiche für mich zu tun.«

»Ich habe ihn sterben lassen.«

»Nein, zur Hölle noch mal, das hast du nicht.« Bernie suchte sich sorgfältig ihren Weg durch ein Minenfeld aus falschen Dingen, die sie sagen könnte, und entschied sich schließlich für die ungefährlichste Äußerung, die der Wahrheit entsprach. »Carlos war ein guter Kerl, ein verdammt guter Kerl, aber er hat sich selbst in diese Scheiße geritten. Er hätte bleiben sollen, wo er war, anstatt zu versuchen, das Fahrzeug ein zweites Mal zu treffen. Und die anderen waren auch noch so verrückt, ihm zu folgen. Du wirst dich dadurch nicht besser fühlen, aber niemand kann dich dafür verantwortlich machen, dass auch nur einer von ihnen gestorben ist. Das war er selber.«

»Er war ein beschissener Held.«

»Ihr beide wart Helden. Er hat sich in Stücke gerissen, damit du nicht erschossen wirst. Du warst bereit zu sterben, um ihn zu retten. Was könnte wichtiger sein als das?«

»Aber ich hätte ihn aufhalten müssen. Ich hätte rausgehen und ihn zurückzerren müssen, bevor Jakovs getroffen wurde. Ich hätte zuerst bei ihm sein sollen, bevor ich mit dem Asp losgefahren bin. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich bin dazu da, es besser zu wissen, oder?«

»Marcus, du warst schon auf dem Weg, ihn in Sicherheit zu bringen, als er den verfluchten Splint gezogen hat. Du wärst draufgegangen, bevor du überhaupt bei ihm gewesen wärst. Selbstmörderische Rettungsaktionen sind was für Filme.«

»Ich habe gezögert. Und er starb.«

»Nur lausige Sekunden. Und es war Carlos, der nicht wollte, dass du wegen ihm stirbst.« Scheiße, es wurde mit jeder Sekunde schwerer.

Marcus wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Es wird Dom kaputtmachen.«

»Vielleicht sollte doch besser ich es ihm sagen.«

»Und was genau erzählen wir ihm?«

Und schon hatten sie das nächste Problem, mit dem sie fertig werden mussten.

Bernie wusste, wie Familien auf die Nachricht reagierten, dass ihre Angehörigen gefallen waren. Wenn sie sagten, sie würden wissen wollen, ob ihre Lieben gelitten oder einen raschen Tod gehabt hatten, wussten sie nicht, wie schwer die Antwort sie treffen würde. Manche ertrugen es, andere nicht. Aber so sicher, wie Scheiße stinkt, musste man ihnen nicht erzählen, dass ihr Sohn oder Bruder oder Vater draufgegangen war, weil er etwas Idiotisches getan und damit auch noch Kameraden mit in den Tod gerissen hatte. Verschlossenheit konnte heilen, aber nichts konnte die Toten je wieder zurückbringen. Harte Fakten waren bei Historikern besser aufgehoben, um erst enthüllt zu werden, wenn sie keinen Lebenden mehr verletzen konnten.

Dom musste nicht die ganze Geschichte erfahren. Und auch nicht die Familien der anderen, nicht dieses Mal.

»Sag ihm, sein Bruder war ein verdammter Held«, sagte sie schließlich. »Denn das war er. Er hat dein Leben an erste Stelle gesetzt und diese Brücke gesprengt. Und Dom muss weiterleben, die arme Sau.«

»Ja«, sagte Marcus und starrte dabei immer noch auf seine Hand. »Genau so ist es passiert.«

Niemand würde je etwas anderes behaupten. Niemand sonst hatte etwas davon mitbekommen. Sie würden nur den offiziellen Bericht sehen, die Wahrheit, abzüglich dem Scheiß, der niemanden etwas anging, außer sie und Marcus. Bernie wartete schweigend mit ihrer Hand auf Marcus’ Rücken, bis der Sea Raven auf den Strand aufsetzte, seine Türen öffnete und sie dafür sorgten, dass eines der Opfer zuerst an Bord ging: Carlos Santiago.