KAPITEL 16

 

Du musst mit deinem alten Herrn wieder ins Reine kommen, Marcus, denn wir alle sind schon längst tot. Vergib ihm. Vergib dir selbst. Wenn er erst fort ist, wirst du alles für einen einzigen Augenblick mit ihm geben wollen.

 

(CARLOS SANTIAGO, IMMER NOCH IN DER HOFFNUNG, FRIEDEN ZWISCHEN DEN FENIX’ STIFTEN ZU KÖNNEN)

 

ASPHO FIELDS; FRONT DER COG, 0145

Carlos’ Funkgerät sprang an. »Zentrale Kalona, Petrels im Anflug aus Nordwesten. Zieht schon mal die Köpfe ein, Leute.«

Er konnte die beiden Petrels der Merit hören, lange bevor er sie sah. Sie donnerten aus Nordwesten auf Aspho und Perasapha zu, ein herrlicher, lang gezogener Sturm von einem Geräusch, das ihm sagte, alles würde wieder gut werden.

Die Unabhängigen würden ordentlich die Hucke voll bekommen.

»Los, gebt ihnen Saures«, sagte Carlos und versuchte mit eingezogenem Kopf einen Blick über seine Schulter zu werfen. »Los. Los.«

»Und da sagen sie immer, ein Jäger lässt sich nicht mit einem Bomber kreuzen«, murmelte Marcus. »Scheiße, sieh dir das an …«

Seine Stimme wurde von einem Feuersturm erstickt. Ohne Nachtsicht war das Schlachtfeld eine chaotische, ohrenbetäubend laute Landschaft aus grellen Lichtern, die aus der pechschwarzen Dunkelheit aufblitzten. Eine gewaltige Detonation erhellte rechts von Carlos den Himmel. Er holte tief Luft, um einen lauten Jubelschrei von sich zu geben, bevor er erkannte, dass es sich nicht um Feuer der Koalition handelte, sondern um eine Explosion in der Luft. Für einen Augenblick war auf allen Kanälen ein erschrecktes Japsen zu hören, bei dem sich seine Kopfhaut zusammenzog und sein Magen verkrampfte.

»Er ist getroffen«, keuchte jemand. »Scheiße, die haben den Petrel erwischt.«

»Asps«, sagte Marcus.

»Wir müssen diese Bastarde ausschalten, Fenix«, sagte Stroud. »Sonst sind wir alle in den Arsch gekniffen.«

Das Donnern des anderen Petrels war weiterhin zu hören. Anscheinend zog er aus der Reichweite von Asps und Flak nach oben. Ein weiteres Wuu-Usch zündenden Treibstoffes ertönte und eine Rakete zischte in den Nachthimmel hinauf. Wenige schreckliche, atemlose Sekunden später zerrissen eine Explosion und ein nachfolgender Feuerball die Schwärze der Nacht.

»Scheiße, womit feuern die?« Es war Matakis Stimme. »Wie bekommen die die Quelle angepeilt?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Stroud. Sie stand jetzt nur wenige Meter von Carlos und Marcus entfernt. »Fenix, schalten sie den ersten Asp aus, den linken. Jakovs, wie viele Longspears hat Ihre Abteilung noch?«

»Zwei, Ma’am.«

»Dann sorgen Sie dafür, dass die sitzen. Zweiter Asp und die Flak, die am nächsten zu Ihnen steht.«

Longspear-Raketenwerfer ließen sich von einem Mann bedienen, aber Carlos stützte trotzdem mit einem Knie Marcus’ Rücken, als er anlegte und feuerte. Der Asp hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, bevor er den Abzog betätigte, aber Marcus war ein guter Schütze und -

»Kacke!«, fauchte er. Der Asp befand sich gerade noch in der Reichweite des Longspears, drehte wieder nach rechts und die Rakete zischte einen halben Meter an ihm vorbei. Sie verwandelte irgendetwas in einen Feuerball – einen Baum, oder vielleicht auch nur Boden – und Carlos griff nach der letzten Rakete, um sie für Marcus zu laden. »Er ist gleich außer Reichweite.«

Im anderen Lager hatte Jakovs genauso wenig Glück. Die Asps kannten die Reichweite der Longspears. Eines der Panzerfahrzeuge war jedoch nicht so schlau und bekam einen Longspear in den Auspuff gedrückt.

Carlos konnte weitere gepanzerte Fahrzeuge sehen, die zu den Asps aufschlossen. Als Marcus feuerte, schob sich gerade ein APC in die Schusslinie und steckte eine volle Breitseite ein. Carlos sah die Panzerung in alle Richtungen davonfliegen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte der Abschuss Jubel ausgelöst, aber jetzt verkörperte er nur Marcus’ letzten verschwendeten Longspear.

»Scheiße. Scheiße, ’tschuldigung, Ma’am. Entschuldigung.«

»Schon in Ordnung, Fenix, Sie haben nichts falsch gemacht. Eine Bedrohung weniger auf dem Feld.«

»Dann können wir ja locker bleiben …«, meinte Jakovs ironisch. Der allerletzte Longspear zischte davon und Carlos konnte nur noch dem Düsenstrahl hinterher schauen. Aber der Asp war zurückgefallen und bewegte sich zu einem Pulk anderer Fahrzeuge. Die Rakete explodierte und eine Maschinengewehrstellung verschwand.

Der Unterschied zwischen der entscheidenden Wendung einer Schlacht und einer Niederlage war oft nur eine Frage von wenigen Zentimetern. Marcus fluchte weiter vor sich hin, wobei er mit einer Hand das Mikro seines Funkgeräts abdeckte. Carlos konnte es ihm nachfühlen. Aber er hatte nicht versagt. Es war einfach nicht im Handumdrehen zu schaffen. Ihm blieb nur, Marcus auf die Schulter zu klopfen und zu versuchen, ihm das Gefühl zu geben, die Schlacht läge nicht einzig und allein in seiner Verantwortung.

Und die ganze Zeit hörte Carlos dabei die Helikopter. Er stützte sich auf einen Ellbogen, lehnte sich zurück und blickte hinauf in den Himmel, aber er konnte keinerlei Navigationslichter erkennen. Die Khimeras zogen ein Stück weiter draußen über dem Meer ihre Kreise und warteten.

»Zentrale Kalona an Longstop«, meldete sich Anya Strouds Stimme. »Die Merit macht den Rest ihrer Petrels klar, aber es wird noch zehn bis zwölf Minuten dauern. Cleaner ist jetzt bereit, abzuziehen. Bereithalten zum Rückzug.«

»Was ist mit der Verwundetenevakuierung?«, fragte Major Stroud. »Die Asps werden sie abschießen, bevor sie auch nur in die Nähe des Landebereichs kommen. Wir haben keine Boden-Luft-Raketen mehr übrig, nur noch Panzerfäuste. Das Asp-Feuer abzustellen, wird verdammt schwierig werden.«

Für einen Moment hörte sich Anya genauso schuldbewusst an wie Marcus. »Wir arbeiten daran, Ma’am.«

Stroud schwieg kurz und dann änderte sich ihre Stimme vollkommen. Für einen Moment war sie eine ganz andere Frau.

»Du machst das toll, Kleines. Wirklich toll. Ich bin stolz auf dich.«

Für ein paar endlose Sekunden brachten ihre Worte alle zum Schweigen. Carlos konnte es immer hören, wenn jeder auf Empfang angestrengt lauschte. Alle Hintergrundgeräusche brachen abrupt ab. Stroud verstieß niemals mit privatem Gerede gegen die Funkdisziplin und schon gar nicht mitten in einem Gefecht. Es verschlug Carlos den Atem, denn es lag eine deutliche Endgültigkeit darin. Er konnte sich denken, was sie dachte: Sie war sich nicht sicher, ob sie lebend aus dieser Sache herauskam.

Anya schien ewig zu zögern. »Und ich auf dich … Major«, sagte sie.

Carlos hielt es nicht mehr aus. Er unterbrach eine Silbe vor Marcus. »Ma’am, lassen Sie mich näher an die Asps ran. Ich kann einen ausschalten, wenn ich dicht drankomme.«

»Ich mach das«, sagte Marcus und wollte schon aufstehen.

Stroud packte ihn am Hosenbein und zog ihn wieder hinunter. Sie war näher bei ihnen, als Carlos gedacht hatte. »Ich hab mehr Übung darin, Corporal. Sie und Santiago – nach rechts und Sperrfeuer geben. Haltet sie so beschäftigt wie möglich.« Sie ging auf einen anderen Kanal. »Angriffstrupps Alpha, Bravo und Echo – zu Mataki aufschließen. Mataki, ich will die Hälfte Ihrer Truppen zur Sicherung des Landebereichs am Strand haben, die andere Hälfte soll den Unabhängigen alles geben, was sie hat, und zwar so weit wie möglich von mir entfernt. Wir ziehen uns zurück.«

»Ma’am«, sagte Mataki. »Wenn Sie vorhaben, das Gelände allein zu überqueren und das anzustellen, was ich denke, dann werden die Sie augenblicklich ausknipsen.«

»Wie gut Sie mich doch kennen, Sergeant«, antwortete Stroud. »Dann werden Sie sie eben sehr, sehr beschäftigt halten müssen.«

»Worauf warten die Helis?«, fragte Marcus. Die Khimeras befanden sich immer noch nicht über Land. Wenn sie es wären, hätten sie die C-Kompanie ziemlich schnell aufmischen können. »Die haben’s nicht auf uns abgesehen. Die sind wegen etwas anderem hier.«

»Tja, ich kann hier nicht rumfurzen und darauf warten, bis sie sich was von der Speisekarte ausgesucht haben.« Stroud klang, als wären die Kampfhubschrauber nur ein geringfügiges Ärgernis, und lud noch mehr Granaten in ihr Kampfgeschirr. »Die Verwundetenevakuierung wird landen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Behaltet den Asp links von uns im Auge. Gebt mir ein paar Minuten.«

Sie sprang aus der Deckung der Gräser heraus und Carlos hörte sie in einen Kanal platschen. Sie war fort, noch ehe Marcus dagegen protestieren konnte.

»Sie spinnt«, meinte Carlos.

»Sie hat nicht unrecht.«

»Wenn’s so ist, gilt das Gleiche für mich.«

Carlos hatte zwei Jahre an der Seite von Frauen gedient. Sie mussten körperlich genauso viel draufhaben wie Männer. Aber in diesem Moment erschien es ihm einfach nicht richtig, dass eine Frau von der Generation seiner Mutter unter Beschuss durch Schlamm und Scheiße waten musste. Die Tatsache, dass sie ein Offizier war, tat dabei nichts zur Sache. Alle seine Instinkte sagten ihm, sie zu schützen und zu achten.

»Komm schon.« Marcus zerrte an seinem Ärmel und fing an, geduckt durch das Ried zu laufen. »Du hast die Lady gehört.«

»Ganz genau«, ermahnte ihn auch Strouds Stimme. Sie hatte ihren Funk immer noch auf den gemeinsamen Kanal eingestellt. »Und ich kann euch immer noch verdammt gut hören.«

Und deine Tochter kann dich hören.

Seinen eigenen Arsch konnte Carlos’ ohne allzu viel nachzudenken, jederzeit aufs Spiel setzen, aber zuzusehen – schlimmer noch, zuzuhören –, wie jemand anderes das Gleiche tat, war unerträglich. Er ging nicht davon aus, dass sie es schaffen würde. Vielmehr erwartete er, sie schreien und würgen zu hören, während irgendein Unabhängiger sie kommen sah und ihr mehrere großkalibrige Kugeln verpasste. Alles, was er über Funk hören konnte, war gelegentliches Platschen und schwerer Atem. In diesem Gelände war es ziemlich schwierig, herauszufinden, wo sich eine Person aufhielt, ohne dass man dabei für einen schnellen Blick aus dem Gras auftauchte und einen Kopfschuss riskierte. Marcus hielt neben Jakovs und dessen Angriffstrupp an und Carlos wäre beinahe über ihn gestolpert.

»Also, was ist jetzt mit dem anderen Asp?«, fragte Marcus.

Jakovs lud nach und stöberte in seinen Taschen nach einem weiteren Magazin. »Was ist mit dem Rest der Kavallerie da oben?«

»Es ist der Asp, der die Ravens davon abhalten wird, zu landen.«

»Ich bin bereit.« Carlos kämpfte gegen ein Gefühl an, das ihm die Kehle hochstieg. Eine Unruhe in der Magengegend, die ihn daran erinnerte, dass er ein Mann war und sich im Gras zu verstecken, in der gegebenen Situation vielleicht die korrekte Vorgehensweise sein mochte, aber es war, einfach nicht richtig. »Ich kann hinkommen, wenn Stroud es kann.«

Eine plötzliche Walze aus Licht und Gas flammte weiter hinten auf dem Schlachtfeld auf, eine rasche Salve von ein paar Panzerfahrzeugen in Matakis Richtung. Sie hatte definitiv ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt.

»Longstop an alle Rufzeichen«, sagte Stroud. »Ich bin zehn Meter vor dem Asp. Im Moment tut er gar nichts und der Typ in der Geschützluke schaut nicht in meine Richtung.«

Carlos spähte durch seinen Sucher. Er konnte eine schwach grün leuchtende Gestalt auf Bodenhöhe sehen. »Ma’am, Sie sind …«

»Bereithalten.«

Carlos hörte sie atmen. Er hörte sogar das Sok-sok-sok von Stiefeln, die über feuchten Boden stampften. Eine Männerstimme sagte ein Wort, das Carlos nicht verstand, und dann sah er, wie Stroud einen Satz auf den Rumpf des Asps machte und etwas – eins, zwei, drei – durch die Oberluke warf. Der Kerl in der Geschützluke schlüpfte wieder hinein, anstatt zu versuchen hinauszuklettern. Sie schaffte es nicht, die Luke zuzuschlagen und versuchte hinunterzuspringen, aber ihr Kampfgeschirr verhakte sich. Mit beiden Beinen in der Luft hing sie an der Seite des Asps. Sein Geschützturm schwang herum. Er hatte nur noch Sekunden zu leben.

Genau wie Helena Stroud.

Für einen Augenblick versuchte sie verzweifelt, an ihr Messer zu kommen, um das Gurtzeug zu kappen.

»Scheiße«, sagte sie noch.

Die Explosion war größer, als Carlos erwartet hatte. Sie zerriss den Asp und Flammen schossen in den Nachthimmel. Sie hatte ihnen einen ganzen Arschvoll Sprengstoff in den Schoß geworfen.

»Ma’am? Ma’am!« Die Funkdisziplin ging wieder einmal zum Teufel. »Longstop, alles in Ordnung? Ma ’am!«

Es war das Dümmste, was er je gesagt hatte. Er wusste es im selben Moment, in dem ihm die Worte über die Lippen kamen. Aber man behielt immer Hoffnung, wusste immer, dass Gears überlebten, obwohl es eigentlich nicht möglich war. Er hatte gesehen, wie Männer Kugeln überlebten, die ihr Hirn durchschossen hatten. Er hatte Wunder gesehen.

Nur Stroud konnte er nicht mehr sehen. Der Asp lag in Trümmern. Als er schließlich seinen Sucher etwas weiter vom Ziel weg – ungefähr dreißig Meter – wandern ließ und realisierte, was er da sah, wusste er, dass für Major Stroud jede Hilfe zu spät kam.

»Oh Scheiße … Scheiße …« Carlos horchte immer noch auf ein Atmen, egal, wie irrsinnig das nach dem, was er eben gesehen hatte, auch war. Aber er hörte nicht einmal statisches Rauschen über ihren Kanal. Marcus packte ihn am Gürtel, als er versuchte sich aufzurichten, um einen besseren Blick zu bekommen. UIR hin oder her, Carlos war bereit, über das Feld zu rennen und zurückzubringen, was er konnte. »Scheiße, wir können sie nicht zurücklassen.«

»Runter«, zischte Marcus. »Ich weiß. Ich weiß.« Dieses Mal legte er beide Hände über die Ohren, als er gefasst über Funk sprach. »Mataki, das ist jetzt deine Vorstellung.«

»Hab’s gehört«, antwortete sie. »Santiago, ist das bestätigt? Ist sie T-vier?«

Tango-vier: Tot, keine Überlebenschance. Es war der klinische, neutrale Triage-Begriff zur Einteilung Verwundeter, von Schwerverletzten, die sofortige Therapie benötigten -Tl – bis zu den weniger dringlichen Fällen, die noch gehen konnten bei T3. Aber bei T4 brauchte es keinen Arzt mehr.

Und Anya hörte über Funk mit.

Carlos konnte sich nur mit Mühe zusammenreißen. Um nichts in der Welt würde er über Funk durchgeben, dass es Stroud zerrissen hatte. Es begann ihm zu dämmern, dass ihre Tochter alles mitgehört hatte, und etwas Schlimmeres konnte er sich nicht vorstellen. Er dachte an Dom. Es war zu viel.

»Bestätige, Tango-vier«, sagte er. »Aber das Gleiche gilt für den Asp. Sie hat es geschafft.«

Mataki schwieg einen Herzschlag lang. »Zentrale Kalona, Longspear getroffen. T-vier.«

Diese Distanz und Deutlichkeit war notwendig. Carlos wusste das.

»Noch ein Asp übrig«, sagte Marcus. Er sprach mit Mataki. Sie waren die letzten Unteroffiziere – die letzte Befehlsgewalt überhaupt – auf dem Schlachtfeld. »Der ist unser größtes Problem. Er kann die Ravens runterholen.«

»Du bewegst deinen Arsch nicht von der Stelle, Fenix«, sagte Mataki. »Warte kurz.«

Carlos konnte die Khimeras immer noch kreisen hören.

Sie mussten darauf warten, dass Hoffmanns Trupp abzog. Aspho Point würden sie nicht mehr plattmachen.

»Scheiße, die arme Anya«, murmelte Marcus vor sich hin. Er schluckte so schwer, dass Carlos es hören konnte. Er schien sich vor Carlos’ Augen zu verwandeln – mit jedem Tod ein Stückchen mehr. »Jakovs, hör dir die Bastarde an. Ich glaube nicht, dass es ausreichen wird, nur den anderen Asp auszuschalten.«

Anya Stroud hatte ihre Mutter also stolz gemacht. Wenigstens war es noch rechtzeitig ausgesprochen worden. Die meisten Leute bekamen keine Gelegenheit mehr, zu sagen, was sie zu sagen hatten, bevor es zu spät war. Aber es war eine Schande, dass das alte Mädchen sie jetzt nicht hören konnte. Anyas Stimme zitterte, sodass es klang, als würde das Signal verloren gehen, aber sie tat, was sie tun musste, und Carlos konnte es kaum ertragen, zuzuhören.

»Zentrale Kalona an Pomeroy«, sagte sie. »Longstop wurde getroffen, Tango-vier.« Eine kurze Pause trat ein und sie schluckte wohl, aber sie behielt die Kontrolle. »Ich wiederhole: Longstop getroffen. Tango-vier.«

 

ASPHO POINT, SECHZEHN JAHRE ZUVOR; EINE STUNDE UND ZEHN MINUTEN NACH DER LANDUNG

Der Boden bebte, während Hoffman die Aspho-Belegschaft durch das sumpfige Gelände trieb. Sie waren jetzt auf sich gestellt.

Und da draußen warteten die Khimeras und zogen die Küste auf und ab, ohne anzugreifen. Eigentlich taten sie gar nichts.

Aber Khimeras hingen nicht einfach nachts auf Besichtigungstour am Himmel. Sie waren hier, um ihnen den Rückzug zu versauen. Die Boote würden keine zweihundert Meter weit kommen, bevor sie sie beharken würden.

Das Letzte, was Hoffman jetzt also gebrauchen konnte, waren Zivilisten, die seine Probleme verstärkten.

»Macht schon!«, brüllte er. »Los doch, lauft. Lauft! Haut einfach so weit wie möglich von dem Laden ab, bevor er hochgeht.« Er musste den Männern kräftig in den Rücken stoßen. Timiou stieß eine der Frauen. »Da draußen seid ihr sicherer. Lauft!«

Die Wissenschaftler, immer noch in Nachtwäsche, waren zu verängstigt, um hinaus ins Freie zu laufen, wo sie keine Deckung hatten. Wo Gears die Chance sahen, einer Mausefalle zu entkommen, aus der sie den Feind nicht sehen konnten, sahen die Zivilisten nur Lärm, Explosionen und den drohenden Tod.

Ironisch. Wie scheiß-ironisch. Das ist nun mal das, was Waffen anrichten. Das kommt bei eurer Arbeit raus.

Eine Frau wollte sich partout nicht bewegen. Sie war um die dreißig und stand in gestreiftem Sport-Top und Shorts wie festgewurzelt da, gelähmt von der Angst, die trügerische Sicherheit zu verlassen, die ihr das todgeweihte Gebäude bot. Morgan und Young kamen aus dem Eingang gerannt.

»Acht Minuten, Sir!« Young packte die Frau am Arm und zerrte sie brutal über das Gelände. Sie schrie, aber er lief einfach weiter, auch nachdem sie den Boden unter den Füßen verlor. »Der Zeitzünder läuft. Du gehst noch drauf, Süße, also beweg dich … lauf!«

Hoffman rannte zu den Booten. Sie würden ein Schweineglück brauchen, um an den Khimeras vorbeizukommen. Jetzt wäre die schwere See hilfreich gewesen, hätte sie zu einem schwieriger zu erfassenden Ziel gemacht, aber der Sturm hatte sich den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, um abzuflauen.

Prioritäten setzen, Prioritäten …

Wir haben eigene Wissenschaftler, also haben die Daten Vorrang.

»Cleaner an Pomeroy, wie groß ist die maximale Reichweite eines Bots mit sechzig Prozent Energie?«

Eine Pause entstand, eine längere, als Hoffman bei einem tickenden Zeitzünder für zumutbar hielt. »Drei Kilometer sind auf jeden Fall drin«, antwortete Michaelson. »Wieso?«

»Und Ravens können sie orten, richtig? Könnt ihr die Steuerung übernehmen und sie führen?«

»Ja, wenn ihr dem Piloten einen Suchbereich vorgebt, damit er in Reichweite ihrer Empfänger kommen kann.«

»Dann schicke ich sie alleine, raus, um an einem Punkt zwei Klicks vor der Küste zu kreisen, Planquadrat Fünf-Neun-Null-Null-Sechs-Acht. Schickt einen Raven, um sie zu holen.«

»Cleaner, nur weil Stroud nicht …«

»Ich höre eine Bande Khimeras, die da draußen lauert, Quentin. Angriffshelikopter und Festrumpfschlauchboote kommen nicht besonders gut miteinander aus. Also halt mich einfach bei Laune, bereite den Bots ein warmes Plätzchen, und falls das Schlimmste eintritt, haben wir immer noch den Großteil des Materials, für das wir gekommen sind.«

Bots stellten winzige Ziele dar. Sie konnten draußen vor der Küste schweben und der Aufmerksamkeit eines Khimeras entgehen, wie es nicht einmal kleine Boote vermochten. Operation Leveler würde nicht als GESCHEITERT eingetragen werden, nicht unter Hoffmans Wache.

»Verstanden, Cleaner. Zieh nur bitte nicht wieder die komplette Frontschwein-Nummer ab, ja?«

Hoffman nahm das als Michaelsons Art, ihm viel Glück zu wünschen. »Ich werd’s versuchen«, antwortete er. »Timiou? Stellen Sie die Bots auf Freiflug und anschließende Wartestellung an diesem Punkt.« Er kritzelte die Koordinaten auf den Rücken von Timious Handschuh. »Jetzt gleich.«

»Spitzentiming, Sir.«

»Tun Sie’s einfach.« Er vertraute Timiou. Trotzdem blieb er bis zu den Knien in der Brandung stehen und sah zu, wie die Bots ihre Arme und Sonden in ihr Gehäuse einfuhren und auf Dunstwölkchen herummanövrierten, bevor sie hinaus in die Dunkelheit flitzten. »Sechs Minuten.«

Ivo saß gefesselt und geknebelt in Benjafields Marlin und Bettrys und Meurigs Tochter in dem von Cho, nur für den Fall, dass nur ein Boot es schaffte. Vorsorgliche Frachtverteilung war immer vernünftig. Zusammen mit Dom schob Hoffman Benjafields Boot in die Brandung.

Hoffman konnte wieder die Helikopter hören. Ihm war klar, dass er nicht mit einer gut gezielten rettenden Salve vonseiten der C-Kompanie rechnen konnte. Die hatte selbst schon genug Ärger. Doms Bruder ist da draußen. Er muss verrückt vor Sorge sein. »Alle rein jetzt«, rief Benjafield. »Sir, jetzt, wo der Sprengstoff weg ist, haben wir in jedem Boot noch Platz für ein paar Zivilisten.«

»Negativ, Private, das ist keine Rettungsaktion.« Hoffman zog sich in den Marlin. Er konnte jetzt den Großteil der Aspho-Belegschaft sehen. Sie watschelten am Strand hin und her und blickten zurück zur Anlage, als könnten sie nicht glauben, dass sie jeden Augenblick hochgehen würde, aber jedes Mal, wenn sich in der Ferne eine Explosion ereignete, warfen sie sich auf den Boden, statt wegzulaufen. »Bai Tak? Bewegen Sie Ihren Hintern ins Boot!«

Benjafield saß mit einer Hand am Steuer im Heck des Martins und warf Hoffman diesen Blick zu, diesen Blick, der sagte, dass es nicht so laufen musste und dass es schmerzte.

»Scheiß drauf, Benjafield, wen wollen Sie denn mitnehmen? Wollen Sie entscheiden? Wir können sie nicht alle mitnehmen. Das sind Kriegsförderer. Wollen Sie die Schlauesten mitnehmen? Die Hübschesten oder die Verzweifeltsten?«

»Sie überlassen es mir, Sir?« Er drehte sich um. »Dom? Dom! Schnapp dir ein paar Zivilisten. Die ersten sechs, die jetzt gleich mit uns kommen wollen.« Er wandte sich wieder zu Hoffman. »Wenn es keine Rolle spielt, Sir, nehmen wir die, die wollen.«

Bai Tak watete zu Chos Boot hinaus. »Ich gehe mit Cho«, rief er Hoffman zu. Morgan und Timiou trugen verwundete Pesangas auf dem Rücken. »Shim und En-Lau brauchen erst Hilfe. Ich mache.«

»Okay, Sergeant. Heute hört eh kein Schwanz auf mich. Timiou, sind die Bots unterwegs?«

»Sind sie, Sir.«

Dom schien keinerlei Probleme damit zu haben, sechs Passagiere zu finden. Zwei Frauen und vier Männer bewegten sich zur Brandung. Offensichtlich fürchteten sie sich vor dem Wasser, aber Dom und einer der Pesangas verloren die Geduld und sie packten sie wie Gepäck und warfen sie geradezu in die Boote.

Fünf Minuten.

Hoffman streckte den Arm aus, um Dom an Bord zu ziehen, und klopfte dann Benjafield auf die Schulter. »Also los!«

Der Marlin zog röhrend vom Strand weg. Hoffman blickte zurück zu dem anderen Boot, das jetzt zu ihnen aufschloss. Sie waren hundert Meter draußen.

»Cleaner an Pomeroy, Bots sind unterwegs und wir sind aus dem Explosionsradius raus.«

Arme Stroud. Aber es war schon immer klar, dass sie so abtreten würde. Genau wie wir.

»Pomeroy an Cleaner – verstanden.«

Das Rotorengeräusch näherte sich. Hoffman zog sein Nachtsichtgerät hinunter und stützte seinen Lancer auf die Reling. Er schaute in die Gesichter der Männer in seinem Boot, und abgesehen von ein paar der Pesangas, waren es alle solche Kinderkleine Jungs, faltenlose Gesichter, Leben, die noch nicht einmal richtig begonnen hatten, und es ging ihm so nahe wie nie zuvor. Dom fing an, seine Rüstung abzulegen.

»Private, was zum Teufel glauben Sie, machen Sie da?«

Dom blickte hinaus auf die See. »Versuchen, in dieser Scheiße nicht unterzugehen, Sir.«

»Das wird ihr kleinstes Problem sein, wenn Sie getroffen werden.«

»Khimera-Kanonen schlagen da sowieso locker durch.«

Keiner von den anderen folgte seinem Beispiel, aber sich die beste Art zu sterben auszusuchen, war auch eine sehr persönliche Angelegenheit. Hoffman schaute jetzt wieder zur Küste und auf seine Uhr.

Und auf die Sekunde genau ging Aspho Point hoch.

Es war keine prächtige Riesenexplosion wie in einem Film. Stattdessen eine ordentliche Folge abgehackter Einzeldetonationen, von rechts nach links, wie eine gewaltige Feuersalve den Strand entlang. Die Flammen erhellten bis weit nach draußen die Wellen – Hoffman sah niemanden am Strand und hörte auf, darüber nachzudenken, ob er richtig oder falsch gehandelt hatte – und brannten dann recht schnell wieder herunter, sodass es aus der Feme nur noch wie ein schwelender Fabrikbrand aussah.

»Reklamiert das mal bei eurer Versicherung, ihr UIR-Pfeifen«, rief Timiou.

Damit erntete er Gelächter, aber es war nur von kurzer Dauer. Der Rotorenlärm war plötzlich viel lauter und nah genug, um sie wissen zu lassen, dass sich die Helikopter vor ihrem Bug nach Backbord bewegten. Sie sahen, wie die See vom Abwind aufgepeitscht wurde, noch bevor sie die Umrisse des Khimeras ausmachen konnten. Dann war er fast genau über ihnen und verdeckte grün leuchtend den Himmel. Benjafield drehte das Gas bis zum Anschlag auf und versuchte davonzuziehen.

»Schon okay«, sagte Dom ohne einen ersichtlichen Grund. »Das wird schon gut gehen.«

Ein greller Scheinwerferstrahl stach durch die Dunkelheit und kreiste suchend über das Wasser.

Genau, unsere Bots sind schon weg, ihr Arschlöcher.

Hoffman fragte sich, was sie mit den Sekunden anfangen würden, die sie sich erkauft hatten. »Cho? Cho, hau ab, mach schon!«

Es sind mehr als ein Khimera. Reines Getue. Aber immer noch besser, als einfach nur dazusitzen und es ihnen leicht zu machen.

Der Strahl fiel direkt auf den Marlin. Gischt erfüllte die Luft. Außer den wummernden Motoren, die über ihm bebten, konnte Hoffman nichts mehr hören. Trotzdem lehnte er sich zurück und zielte mit seinem Lancer, denn bei dieser Nähe besaß auch ein Khimera seine Schwachstellen.

Tut mir leid, Dom, wegen des neuen Babys und allem.

Über die Wellen hinweg, näher als Hoffman angenommen hatte, sah er, wie auch der andere Marlin ins Visier des Scheinwerfers geriet. Der Pilot musste nach etwas ganz Bestimmtem suchen, denn zum Zielen hätte er keinen Suchscheinwerfer gebraucht. Dann zerriss Kanonenfeuer die See und schnitt durch die Wellen zwischen den beiden Marlins. Chos Boot war getroffen. Hoffman sah die Explosion zersplitterter Verbundstoffe, aber der Marlin ging nicht unter.

»Ihr Bastarde!«, brüllte Dom. Er eröffnete das Feuer und zielte auf den Bauch des nächsten Khimeras. »Ihr Bastarde, das sind eure eigenen Scheiß-Zivilisten!«

Aber genau darum ging es. Hoffman erkannte das jetzt.

Und ich hab mir den Kopf darüber zerbrochen, ob es unmoralisch ist, feindliche Wissenschaftler zu erschießen oder nicht.

Stirb, Moral! Was ein Trost …

Dom schoss sein Magazin leer und lud nach. Hoffman und Timiou taten es ihm gleich. Der Suchscheinwerfer drehte scharf herum. Hoffman hörte den Motor stottern und dann roch er plötzlich Treibstoff. Er spürte etwas Schmieriges und Stinkendes auf sein Gesicht spritzen.

Treibstoff. Getriebeöl. Sonst was. Brennbar.

»Scheiße, wir werden auf dem bekackten Meer verbrennen«, sagte Dom.

Timiou feuerte weiter Salve um Salve. »Wir haben das Arschloch getroffen!«

Hoffman sah, wie sich der Khimera drehte, tiefer sank und dann ungefähr hundert Meter entfernt mit einem lehrbuchmäßigen Bauchklatscher notwasserte. Er konnte an nichts anderes denken, als zu feuern, nachzuladen und wieder zu feuern. Die Seitenluke stand offen. Wenn seine Jungs schon ertrinken sollten, dann bitte auch die Khimera-Besatzung und die Mitgliedschaft im Club der Überlebenden konnte sich getrost im nächsten Klo runterspülen.

Er konnte nicht einmal an Chos Boot denken. Er wusste, dass er das sollte. Der andere Khimera brach den Angriff ab und schwebte über seinem angeschlagenen Kameraden.

Es war erstaunlich, wie selbstmörderisch diese Helipiloten anscheinend allesamt waren.

Ich werde sterben. Scheiße.

»Cho!«, schrie Dom. Er ließ seinen Lancer fallen, streifte seine Stiefel ab und das Letzte, was Hoffman sah, war sein Schatten, der über die Reling in den tintenschwarzen Ozean sprang.