ZWANZIG

Das Gefühl, in völliger Dunkelheit zu schwimmen und währenddessen in meinem Inneren von Lass verflucht zu werden, machte das Liegen im Bett zu einer sehr unbequemen Erfahrung. Ich mochte das Bett nicht. Es hatte zu viele Kissen und roch zu stark nach Bleichmittel und Metall.
Eine unangenehme Trägheit hatte sowohl mich als auch Lass befallen. Ich glaubte, nie mehr aus dem Halbschlaf, in dem ich lag, aufwachen zu können. Doch als meine Finger zu kribbeln begannen, öffnete ich die Augen.
Das Zimmer war in einem hellen Minzgrün gestrichen. Mein Herz verkrampfte sich vor Angst. Ich erinnerte mich an diesen Raum. Das letzte Mal, als ich mich an einem solchen Ort befunden hatte, war ich gerade wieder von den Toten erwacht. Ich versuchte aufzuspringen. Doch mein linker Arm verdrehte sich nur schmerzhaft. Ich stieß einen leisen Schrei aus. Jemand legte die Hand auf meine rechte Schulter.
»Psst … Beweg dich nicht so schnell. Du tust dir sonst nur weh.«
Es war Quintons Stimme. Ich blinzelte, und klebrige Tränen stiegen mir in die Augen. Langsam wandte ich ihm den Kopf zu. Ohne Hut oder Mantel und mit seinem langen Haar bis zu den Schultern sah er gar nicht wie er selbst aus. Ein ziemlich mitgenommen wirkender Palmtop stand auf einem Nachttisch zwischen uns. Er legte einen Plastikstift beiseite, den er in der Hand hielt, und beugte sich zu mir.
»Hi«, begrüßte er mich mit einem etwas unsicheren Lächeln.
Ich versuchte, meine Hände zusammenzuführen, um meine kribbelnden Finger zu reiben. Doch die linke ließ sich nicht mehr als ein paar Zentimeter bewegen. Die rechte hatte eine Injektionsnadel auf dem Handrücken und ein Stück Klebeband, um den Schlauch festzuhalten, der davon wegführte. Ich versuchte erneut, meine andere Hand zu bewegen. Es war alles so seltsam. War ich nicht in Harborview? In einem Krankenbett? Weshalb konnte ich mich dann nicht bewegen? Ich hatte mir doch nichts gebrochen …
»Sie haben dich ans Bett gefesselt«, erklärte Quinton. »Die Cops sind etwas aufgebracht wegen Ben und … dem anderen Typen. Fish war wohl nicht sehr überzeugend. Detective Solis hielt es für das Beste, dich als Zeugin – oder auch als Tatverdächtige – festzuhalten, bis er weiß, was genau vorgefallen ist.«
»Was …« Das merkwürdige Geräusch, das ich von mir gab, klang seltsam fremd und war kaum als Wort zu erkennen. Ich musste schlucken und versuchte es dann noch einmal. »Was … was machst du hier?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich auf dich aufpasse. Deshalb bin ich hier. Ehrlich gesagt, hast du dich ziemlich erschreckend verhalten, bevor du in Ohnmacht gefallen bist. Aber sobald du das Bewusstsein verloren hattest, hast du wieder normal ausgesehen. Die Sanitäter fanden das also alles ganz natürlich. Allerdings waren sie nicht allzu glücklich darüber, wie heftig du dich trotz deiner Ohnmacht gewehrt hast. Wie es Ben geht, weiß ich leider auch noch nicht. Er wurde vor kurzem operiert, und ich bin …«
Die Tür öffnete sich, und Solis trat ein. Er war in eine Wolke aus grellem Rot und Orange gehüllt. Finster musterte er uns und ging dann um mein Bett herum auf die andere Seite. Quinton warf er einen scharfen Blick zu.
»Sie können jetzt gehen, Mr. Lassiter«, erklärte er knapp.
Quinton sah mich stirnrunzelnd an. Ich schaute zu Solis. »Mir wäre es lieber, wenn er bleibt«, erwiderte ich und versuchte gegen das Grau anzukämpfen, in das ich erneut zu gleiten drohte.
Die Lippen des Detective pressten sich fest aufeinander. Für einen Moment dachte er nach, dann zuckte er unhöflich mit den Schultern. »Wie Sie meinen. Schmauchspuren an Ihren Fingern haben uns gezeigt, dass Sie vor kurzem eine Waffe abgefeuert haben, Miss Blaine. Sogar mehrmals. Auf wen haben Sie geschossen?«
»Was denken Sie?«, fragte ich. Ich wollte nicht allzu lässig wirken, aber die Medikamente, die mir im Krankenhaus offenbar verabreicht worden waren, brachten mich dazu, anders zu antworten, als ich wollte. Die Wirklichkeit schien schrecklich weit weg zu sein, vor allem mit Lass, der weiterhin in meinem Kopf tobte. »Ist jemand angeschossen worden?«
Solis sah mich finster an. »Nein. Aber es wurden Schüsse abgegeben, und ein Mann ist tot, während ein weiterer schwer verletzt ist. Wir haben bereits vorher Leichen im Zentrum um den Pioneer Square gefunden, die ähnliche Wunden hatten wie der Tote. Sie haben sich jeweils in der Nähe der letzten drei Tatorte aufgehalten. Dachten Sie etwa, ich hätte Sie nicht bemerkt? Es geht nicht darum, dass niemand erschossen wurde, sondern dass Ihre Anwesenheit in allen Fällen kein Zufall sein kann. Es gibt eine Verbindung zwischen den Todesfällen, die Sie kennen. Da bin ich mir absolut sicher.«
»Was … was hat Ihnen Reuben Fishkiller erzählt?«, fragte ich und kämpfte innerlich gegen Lass an, der begonnen hatte, in meinem Kopf etwas über Hunde, Schlangen und Monster zu brüllen. »Ich erinnere mich nur noch an etwas Großes … Es kam aus dem Nebel auf uns zu … Und ich habe versucht, es zu vertreiben.«
»Mr. Fishkiller behauptet«, erklärte Solis und schnaubte verächtlich, »dass Sie von einem Monster angegriffen worden seien. Immer wieder höre ich in letzter Zeit diese phantastische Geschichte über ein Monster, das angeblich aus dem Untergrund kommt. Jetzt soll auch noch ein Monster aus dem Nebel gekommen sein.«
Ich zuckte mit einer Schulter und legte dann erschöpft den Kopf auf das Kissen zurück. »Das ist es auch!«, brüllte Lass laut in mir. Schweiß trat mir auf die Stirn. »Vielleicht war es ja auch ein … Hund?«, überlegte ich. »Oder ein Bär? Letztes Jahr ist doch im Universitätsviertel ein Bär Amok gelaufen …«
Solis schnaubte erneut. »Und wo soll dann die Leiche sein, falls Sie auf diesen mysteriösen Bären geschossen haben? Warum ist jedes Mal die Hölle los und nichts mehr logisch zu erklären, wenn Sie irgendetwas mit meinen Fällen zu tun haben?«
Ich zuckte erneut mit der Achsel und drängte innerlich Lass’ entsetzte Schreie zurück.
»Vielleicht ist es schlechtes Karma«, schlug Quinton lächelnd vor.
Solis richtete seinen bohrenden Blick auf Quinton. »Soll das Ihrer Meinung nach eine plausible Erklärung sein, Mr. Lassiter?«
Jetzt zuckte auch Quinton mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht zieht Ms. Blaine einfach nur Seltsames und Unerklärliches an.«
Solis nickte schlecht gelaunt. »Ja, so wird es wohl sein. Sie waren doch auch dabei. Haben Sie auch das Monster im Nebel gesehen?«
Quinton schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Wie lautet dann Ihre Version? Sie waren da, als die Sanitäter eintrafen.«
»Ich habe überhaupt nichts gesehen. Weil es nichts zu sehen gab.«
Solis schüttelte ungeduldig und missmutig den Kopf. »Warum waren Sie eigentlich alle in dieser Gegend?«
»Das war meine Schuld«, krächzte ich. »Ich bin …« Ich warf Quinton einen raschen Blick zu und hoffte, dass ich das Richtige tat und Lass so lange wie möglich ruhig halten konnte. »Ich bin Purlis gefolgt.«
»Und wer soll dieser Purlis bitteschön sein?«, fragte Solis gereizt.
»Der Tote … glaube ich«, fügte ich hinzu. »Seine Identität war nicht eindeutig auszumachen. Die Verbindung, nach der Sie suchen, könnte er gewesen sein.«
Solis beruhigte sich ein wenig, und das Feuer im Grau, das um ihn herum gelodert hatte, verwandelte sich in ein heißes Glühen. »Nicht eindeutig, sagen Sie? Meinen Sie damit, dass Sie auf ihn angesetzt waren?«
»Es ist reiner Zufall, dass sich unsere Wege dadurch gekreuzt und ich Ihnen in die Quere gekommen bin, Detective. Tut mir wirklich leid …«
»Was wissen Sie von ihm? Wie steht er mit den Vorfällen in Verbindung?«
Meine Schmerzen und der Geist in meinem Inneren erschöpften mich. Auch der Versuch, in der normalen Welt zu bleiben, war auf Dauer sehr anstrengend. »Er war bei allen Verbrechen zugegen. Ist davongelaufen, als ich ihn dazu befragt habe. Nichts weiter.«
»Gibt es keine Akte über ihn?«
Ich schüttelte den Kopf, während mir der Schweiß in die Augen lief. »Nein, das ist alles etwas dubios … Akten, die von der Regierung unter Verschluss gehalten werden. Deshalb wollte ich mit ihm reden.«
Solis murmelte etwas Unverständliches. Die Farben um ihn herum wurden immer gelber und verloren allmählich ihr wütendes Rot. »Ich werde diesen Fall dem FBI übergeben«, sagte er mehr zu sich selbst. »Verschlossene Akten … Das geht die Mordkommission nichts an.«
Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sich dann ja endlich verziehen könne. Aber ich riss mich zusammen und schwieg.
»Ich wünschte, ich wüsste …«, murmelte er und unterbrach sich dann.
»Stehe ich eigentlich unter Arrest?«, fragte ich schließlich.
Er wirkte zwar nachdenklich, wurde allerdings sofort wieder gereizt, als er mir antwortete. »Noch nicht.« Er beugte sich vor und schloss die Handschellen auf, mit denen ich an das Bett gefesselt war. Dann sah er mich misstrauisch an. »Aber falls Benjamin Danziger sterben sollte, sind Sie die Erste, die auf meiner Liste der Tatverdächtigen steht … ob nun das FBI eingeschaltet wurde oder nicht.« Er sah uns beide aus schmalen Augen scharf an. Irgendetwas an unserem Anblick schien ihn zufriedenzustellen, denn er verließ das Zimmer ohne ein weiteres Wort. Die Handschellen steckte er in die Manteltasche.
Ich schloss die Augen und spürte, wie Lass seinen Kampf für den Moment aufgab. Es hatte keinen Sinn mehr, zu schreien, denn nun war niemand mehr da, den er auf sich aufmerksam machen konnte. Das Grau war dichter und stärker präsent als sonst. Ich hoffte inbrünstig, dass Lass genauso erschöpft war wie ich. Nach einem Moment öffnete ich die Augen wieder und sah Quinton an.
»Du hast also die Akten ausgetauscht?«, flüsterte ich so leise wie möglich.
Quinton sah nach, ob Solis die Tür tatsächlich geschlossen hatte. »Ja. Jetzt ist J. J. Purlis offiziell tot. Hoffentlich lässt mich Fern nun endlich in Ruhe und versucht nicht, jemanden davon zu überzeugen, dass ich noch immer irgendwo da draußen bin. Für sie ist das schließlich auch eine gute Lösung. Sobald sie in Pension ist, dürfte es ihr sowieso egal sein, was mit mir passiert ist, solange ich niemals zurückkehre, um sie in eine peinliche Situation zu bringen. Und das habe ich nicht vor.«
Er musterte mich und runzelte die Stirn. »Du siehst schrecklich aus.«
»Vielen Dank. Lassiter … kämpft«, brachte ich mühsam hervor.
»Schlimm?«
Ich nickte. »Je schneller ich ihn los werde, desto besser.«
»Wir müssen hier raus. Sie wissen sowieso nicht, was mit dir los ist, und halten es für eine Schockreaktion. Nachdem Solis jetzt die Handschellen abgenommen hat, kannst du auf deiner Entlassung bestehen.«
Quinton half mir, aufzustehen und mich anzuziehen. Zärtlich drückte er einen Kuss auf meine Schläfe, während ich mich an ihn lehnte. Ich war müde, und meine Knie fühlten sich so weich an wie Wachs, als wir in die Intensivstation hinunterfuhren, um zu sehen, wie es Ben ging. Es war mir egal, ob Solis mich tatsächlich des Mordes bezichtigen würde. Falls Ben starb, würde es meine Schuld sein. Dann würde auch ich nicht weiterleben wollen.
Wir traten aus dem Lift und gingen auf die Intensivstation zu. Abrupt blieb ich stehen, als ich eine Gestalt in einem schwarzen Mantel bemerkte, die vor uns die Intensivstation betrat. Hastig packte ich Quinton am Arm und zog ihn hinter eine Säule, damit wir unbemerkt zuhören konnten, was gesprochen wurde.
»Hallo«, begrüßte die Frau die Krankenschwester, die ihr entgegenkam. »Ist Detective Solis schon hier gewesen, um nach Mr. Danziger zu schauen?«
»Natürlich muss es Fern Laguire sein, die Solis auf die Zehen tritt«, murmelte ich. Die Antwort der Krankenschwester konnte ich nicht hören, aber die Fragende hatte ich an ihrem Mantel sofort erkannt. Quintons Gesicht wurde starr und bleich, als er Laguires Stimme hörte.
»Wirklich? Herzlichen Dank für die Auskunft, gute Frau. Ich werde dann am besten oben nach ihm suchen. Die Leichenhalle befindet sich doch auch in diesem Gebäude, nicht wahr?«
»Reizend wie immer«, brummte Quinton missmutig. »Als der Gerichtsmediziner vorhin die Fingerabdrücke überprüft hat, reagierte er ziemlich misstrauisch. Keine Ahnung, warum ich angenommen habe, Fern Laguire so leicht hinters Licht führen zu können.«
»Sie will offensichtlich deine Leiche sehen«, zischte ich.
»Fern hat mich seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Also wird sie auch nicht wissen, wer da unten im Leichenschauhaus liegt. Ich weiß – das Ganze ist keine endgültige Lösung, aber für den Moment wird der Austausch der Akten sie mir erst einmal vom Leib halten. Vielleicht überzeugt es sogar ihre Bosse, dass ich wirklich tot bin. Sie werden Fern nach Fort Meade zurückholen, ob ihr das passt oder nicht. Auch wenn sie nicht an meinen Tod glaubt, kann sie bestimmt nicht beweisen, dass die Leiche nicht mit der Akte zusammenpasst. Lass war mir gar nicht so unähnlich, wenn erst einmal der Schmutz runter ist. Sie ist bestimmt nicht in der Lage, uns auseinanderzuhalten – selbst wenn ich jetzt zur ihr hingehen und ihr einen Kuss geben würde.«
»Wenn du diesen Eiszapfen küsst, hast du mich die längste Zeit gesehen.«
Der Geist in meinem Inneren begann erneut zu rumoren und zwang mich fast in die Knie. Offenbar gefiel es Lass nicht, für ein Täuschungsmanöver herhalten zu müssen. Ich merkte, wie er versuchte, mich zu öffnen und zu fliehen. Schmerzerfüllt zuckte ich zusammen und sah Quinton mit verkniffener Miene an. »Los, verschwinden wir von hier. Ich muss endlich Lass loswerden.«