ACHTZEHN
Wir entdeckten Lass, als er gerade die
Brücke verließ und die Treppe zu der Grünanlage hinunterrannte, die
sich am Kanal entlang zum McCurdy Park erstreckte. Sisiutl sprang
aus dem Wasser und wand sich wie eine riesige Klapperschlange über
den Boden. Ich machte eine scharfe Kehrtwendung und rammte den
Wagen gegen Sisiutls Seite. Das Monster wirbelte herum, um mich mit
allen seinen Augen böse anzufunkeln. Mit einem Kopf schnappte es
nach den Scheinwerfern des Rover und schlug seine Zähne in das
Metall. Immer wieder biss und schnappte die Riesenschlange nach dem
Auto. Stücke der Karosserie wurden herausgerissen, während Sisiutl
wie zuvor in Dutzenden von Sprachen wütete. Lass rannte
weiter.
Als der Zeqwa merkte, dass seine Beute zu entkommen
drohte, prallte er ein letztes Mal mit dem Körper gegen den Wagen,
wodurch er die Heckklappe eindrückte und das ganze Auto ins
Schleudern kam. Dann stürzte er sich erneut ins Wasser. Ich drehte
um, trat aufs Gas und raste über den Rasen zum Parkplatz des MOHAI,
des Geschichts- und Industriemuseums der Stadt. Er lag direkt neben
dem Park und den schmalen Brücken, die durch das Marschland
führten. Sie verbanden Marsh Island und Foster Island mit dem
dahinter liegenden Baumgarten.
In der Nähe der Fußgängerbrücke bremste ich scharf.
Wir sprangen aus dem Auto und rannten auf die Brücke zu, in der
Hoffnung, Lass noch zu erwischen, bevor er das Marschland betrat.
Doch seine Angst trieb ihn an und brachte ihn schneller voran. Im
dichten Nebel konnten wir zwar nicht sehen, wie er vor uns über die
Brücke lief, doch wir hörten sein Keuchen und seine Schritte auf
den feuchten Brettern. Dann verschwand er im Marschland, und im
Grau war bloß noch ein schwacher roter Nebel zu sehen, der schnell
wie die Sonne im Winter hinter dem Horizont verschwand.
Wir rannten über die schaukelnde Brücke auf Marsh
Island. Dort stürzten wir uns in den Nebel. Der Boden fühlte sich
uneben und feucht an, und im seltsamen Licht der untergehenden
Sonne war kaum etwas erkennen.
Kalter, nasser Schlamm schmatzte unter meinen
Stiefeln und schien mich bei jedem Schritt festhalten zu wollen.
Das Geräusch von Lass, der durch das Marschland hastete und immer
wieder Tiere im Schilf vor uns aufschreckte, gab uns die Richtung
vor. Rohrkolben und messerscharfe Gräser klapperten wie
aufeinanderschlagende Knochen und streiften uns im Vorbeilaufen. Im
Nebel murmelten die Stimmen des Wassers und verlorener
Seelen.
Hinter mir vernahm ich auf einmal ein lautes
Spritzen und dann einen Schrei.
Ich wirbelte herum. Quinton und Fish, die sich nur
wenige Zentimeter hinter mir befanden, wurden fast vom Nebel
verschluckt. Ohne es zu merken, waren wir bis ans Ufer der Insel
gerannt. Ben befand sich bereits im Wasser. Er war ausgerutscht und
versuchte nun wieder an Land zu kommen. Der schlammige Untergrund
hinderte ihn jedoch daran.
»Helft mir«, keuchte er. Seine Zähne klapperten vor
Kälte.
Quinton warf sich auf den Boden und fasste nach
Bens Händen. Fish und ich hielten Quinton fest, und so gelang es
uns, Ben herauszuziehen. Nicht eine Sekunde zu früh. Denn in diesem
Moment baute sich eine riesige Welle vor uns auf, und die
Wassermassen stürzten an Land.
Ein Schwarm unsichtbarer Vögel stob auf, als sich
Sisiutl mit einem fürchterlichen Schrei aus dem Wasser erhob. Er
tauchte mit einer solchen Geschwindigkeit auf, dass der Nebel
zerriss und den Blick auf eine Lichtung freigab, wo ein Weg zu
einem Aussichtspunkt führte. Lass befand sich am anderen Ende der
Lichtung. In Sekundenschnelle hatte Sisiutl sie überquert. Seine
Mäuler schnappten nach dem Mann, der ihn bis vor kurzem noch
beherrscht hatte. Panisch griff Lass nach einem Ast und begann
damit um sich zu schlagen.
In diesem Moment kam ich wieder zur Besinnung. Ich
stürzte mich auf das Monster, zückte die Pistole und richtete den
Lauf auf den Zeqwa. Bemüht, Lass nicht zu treffen, feuerte ich die
erste Kugel auf einen der Schlangenköpfe.
Sisiutl kreischte und wandte mir einen seiner Köpfe
zu, um nach mir zu schnappen. Ich duckte mich und wich in das
schlammige Wasser aus, das mir bis zu den Knien reichte.
Ben hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt und
raste nun an mir vorbei. Er fuchtelte wie ein Irrer mit den Armen
und rief: »Nein, nein!« Dann begann er in einem unverständlichen
Mischmasch aus Sprachen zu reden, was im Grau wie ein Gesang klang,
in der normalen Welt jedoch an das Kreischen von Raben erinnerte.
Geister kreisten um die Lichtung und führten einen makaberen
Todestanz
auf, während sich die Nebelwand wieder schloss. Quinton, Fish und
ich traten näher zu Ben, hielten uns aber vorsichtshalber weiterhin
im Hintergrund.
Ein gigantischer Schlangenkopf durchschnitt mit
weit aufgerissenem Maul den Nebel. Er schnappte, und für einen
Moment hörten wir nur einen Schrei von Lass und das
Aufeinanderschlagen der Zähne. Ein weiterer Kopf erschien, diesmal
zornig zischend. Bens dunkle Haare erschienen auf einmal vor dem
nebligen Hintergrund, und der Schlangenkopf schnappte nun nach
ihm.
»Ben, runter!«, brüllte ich und hörte, wie Quinton
und Fish dasselbe riefen.
Die kraftvolle Stimme von Sisiutl ließ den
Marschboden erzittern. Der Atem des Monsters blies erneut den Nebel
beiseite, während Ben in Deckung ging. Zähne schnappten zu, ohne
etwas zu fassen. Ich feuerte auf Sisiutls grinsendes
Menschengesicht, während Quinton auf ihn zustürzte und ihn mit dem
Elektroschocker traktierte.
Sisiutl schrie erneut auf und zischte. Er zuckte
zur Seite und warf Ben mit einem einzigen Schlag seines Kopfs in
den Schlamm, wo er regungslos liegen blieb. Ich feuerte noch
einmal.
Fish brüllte den Zeqwa auf Lushootseed an, während
er aus Angst und Verzweiflung immer wieder auf ihn zulief, um dann
wieder zurückzuweichen.
»Lass ihn los! Fish, er soll den Mann loslassen!«,
schrie ich. »Er muss sich vor den Göttern verantworten!«
Fish übersetzte brüllend die Worte in Lushootseed.
Der von uns am weitesten entfernte Schlangenkopf hielt Lass wie
eine nasse Ratte in die Höhe, während das schreckliche Gesicht in
der Mitte, von dessen Fischschnurrbart Blut und Wasser tropften,
wütend antwortete.
Fish brüllte erneut und trommelte mit den Fäusten
auf den Boden. Er kochte vor Wut. Aufgeschreckt durch sein Toben
erhoben sich die Geister der Insel und stießen silbern klingende
Klagelaute aus.
Ich feuerte meinen letzten Schuss ab, nachdem
Quinton die Schlange ein weiteres Mal geschockt hatte, indem er
ihren Schlangenkopf, der über uns hing, mit dem Gerät berührte.
Sisiutl kreischte und schleuderte Lass beiseite. Dann stürzte er
sich in das Brackwasser. Eine Sekunde später war nur noch eine Spur
aus Luftblasen zu sehen, die zum Kanal führte. Wir blieben mit den
Geistern allein zurück.
Fish rannte fluchend zu Ben, der noch immer
regungslos dalag. Er fühlte seinen Puls und untersuchte die offene
hellrote Wunde, die Seite und Schulter bedeckte. »Verdammt«,
murmelte er und begann, Bens Hemd in Streifen zu reißen. »Kümmert
euch um den anderen«, befahl er. »Ich kümmere mich um Ben. Und ruft
den Notarzt!«
Mit schmerzendem Knie stolperte ich zu Lass, den
ich jedoch nicht mehr berühren musste. Seine Augen waren bereits
verschleiert, und er stieß einen letzten langen Seufzer aus.
Sisiutl hatte sich tief in sein Fleisch gebohrt. Deutlich konnte
man seine Knochen und Muskeln in den blut überströmten Wunden
sehen. Im Grau beobachtete ich, wie sich sein Geist von seinem
misshandelten Körper zu lösen begann. Ich konnte nichts mehr
tun.
Die Schatten, die uns und die Insel im Nebel
umkreisten, flüsterten und weinten. Sie brachten die Fäden des
soeben Verstorbenen dazu, zu reißen und sich mit dem pulsierenden
Wirbel des Grau zu vereinen. »Oh, nein. Kommt gar nicht in Frage
…«, murmelte ich leise.
Quinton fasste mich am Arm, als ich mich nach vorne
lehnte und nach dem Energiebündel griff, das langsam aus der
menschlichen Hülle aufstieg. »Was tust du da?«, wollte er
wissen.
»Ich muss ihn festhalten. Er hat sich zu
verantworten. Du weißt doch, was Fish über die Hölle gesagt hat,
die losbrechen wird, wenn er es nicht tut. Lass hat einen Termin
mit ein paar Göttern, und ich werde nicht zulassen, dass er den
versäumt, nur weil er tot ist. Ruf für Ben den Notarzt. Für Lass
können wir auf dieser Welt nichts weiter tun.«
Meine Hände hielten die kalte und doch brennende
Seele von Lass so fest, wie sie nur konnten.