NEUNZEHN
Ich hatte noch nie zuvor einen Knoten aus
grauer Energie festgehalten. Bisher hatte ich die Fäden immer
losgelassen und beiseitegeschoben, da ich interessierter da ran
war, sie zu lösen als sie zusammenzuhalten.
Bis jetzt.
Meine Finger gruben sich in den Knoten aus
leuchtend gelbem Feuer, der sich von Lass’ Körper löste. Mich
durchfuhren heftige Schläge, und ich stöhnte vor Schmerz auf,
während ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Der Schatten seines früheren Körpers formte sich
nun um seine Seele im Grau. Lass sah mich wütend an und versuchte,
sich zu entwinden. Doch ich hielt ihn entschlossen fest. Sein Mund
begann sich zu bewegen …
Ein Geräusch wie ein bremsender Zug ließ alle
anderen Laute um uns herum verstummen. Ich zuckte zurück. Sisiutls
wütender Schrei stieg aus der schwarzen Rauchwolke, die sich an
jener Stelle befand, wo zuvor mein Rover gestanden hatte. Das
zornige Monster hatte ihn völlig zerstört. Quinton, der ein mir
unbekanntes Handy in der Hand hielt, warf einen Blick auf den
Parkplatz. Dann sah er mich an.
»Harper?«
Ich zitterte vor Anstrengung und zwang mich,
aufrecht stehen zu bleiben, ohne Lass’ Geist loszulassen.
»Wird ein ziemlich langer Heimweg mit diesem
Mistkerl«, meinte ich.
Quinton betrachtete das, was in seinen Augen
vermutlich wie Nebel in meinen Händen aussah. »Was …«
»Ich habe hier Lass … zumindest den körperlosen
Teil«, knurrte ich, während abwechselnd Hitze und Kälte durch meine
Knochen fuhren. »Ich wünschte, ich hätte eine Flasche für ihn, um
ihn hineinzustecken.«
In der Nähe war Fish noch immer mit Ben
beschäftigt. Er wickelte Stofffetzen um die Wunden. Die hörten
jedoch nicht auf zu bluten. »Ruft endlich den Notarzt, verdammt
nochmal! Ich will vermeiden, dass er morgen auf meinem Tisch
liegt!«
»Schon geschehen«, antwortete Quinton. »Aber wir
haben Lass verloren.«
Ich sah ihn an, ehe mir klar wurde, dass er mit
Fish sprach.
In der Dämmerung näherten sich Sirenen. Ich
stolperte zu Fish, der ohne Hemd in der Kälte sein Bestes gab, um
Ben zu retten. »Wie schlimm ist es?«, fragte ich.
»Schlimm«, erwiderte er knapp und riss ein weiteres
Stück Stoff von seinem Hemd ab. »Aber vielleicht haben wir Glück.
Seine Körpertemperatur ist stark abgesunken. Er hat sich wohl im
Wasser unterkühlt. Aber das bedeutet auch, dass er nicht so schnell
verblutet wie normalerweise. Er steht unter Schock, und sein Herz
macht das nicht mehr lange mit. Ich hoffe nur, dass ich noch weiß,
wie man ein Leben rettet anstatt nur Tote zu sezieren.«
Ich wich ein paar Schritte zurück und betrachtete
den
sich noch immer heftig wehrenden Geist in meinen Händen. Wenn
Albert dazu in der Lage war …
»Tu es nicht«, sagte Quinton und legte mir die Hand
auf die Schulter.
»Was?«
»Ich weiß, woran du denkst. Versuche nicht, Ben zu
retten, indem du Lass in seinen Körper steckst. Es wäre nicht
richtig, selbst wenn es funktionieren würde. So etwas darf man
nicht tun.«
Carlos’ Worte hallten in meinen Ohren wider. Er
hatte etwas Ähnliches gesagt, was mir in diesem Moment ziemlich
ironisch vorkam.
»Ich kann ihn nicht mehr lange halten«, sagte ich.
»Er ist … Er ist so glitschig.«
»Du könntest ihn loslassen«, schlug Quinton
vor.
»Nein, kommt nicht in Frage. Etwas ist hier noch
nicht geklärt, und Lass ist der Einzige, der tun kann, was getan
werden muss.« Mir lief es kalt den Rücken herunter, als mir auf
einmal klar wurde, was mir bevorstand. »Ich muss ihn in mich
aufnehmen.«
Die Sirenen kamen näher. Man konnte bereits das
Blaulicht im Nebel erkennen. Die Zeit wurde knapp.
»Quinton«, sagte ich und sah ihn scharf an. »Ich
muss kurz verschwinden. Ich will nämlich nicht, dass mich die
Sanitäter sehen, wenn ich das mache.«
Quinton wirkte verwirrt. »Wenn du was machst?«,
fragte er.
»Wenn ich das hier in mich aufnehme«, sagte ich und
schüttelte den heftig protestierenden Geist von Lass.
»Nein! Harper …«
»Mir bleibt keine andere Wahl. Pass bitte auf«,
fügte ich hinzu, holte die nasse Fasanenfeder aus meiner Tasche und
glitt ins Grau, meine Finger noch immer um den Energieknoten von
Lass geklammert.
Die Gestalt des Toten wurde immer sichtbarer, je
tiefer ich ins Grau tauchte. Endlich löste sich der silbrige Nebel
und zeigte das leuchtende Schwarz und die bunten Farben des
Netzwerks. Lass zeigte sich nun als funkelnd goldene Gestalt, die
sich heftig wand, um mir zu entkommen. Quinton und Fish hingegen
leuchteten im Grau nicht so hell, und Ben war kaum mehr zu
erkennen. Wygan hatte einmal ein Stück Grau in mich
hineingepflanzt. Nun musste ich herausfinden, ob ich auch selbst
dazu in der Lage war. Ich konnte nur hoffen, dass es diesmal nicht
für immer war.
Vorsichtig zog ich das lebendige Feuer des Geistes
an mich heran und formte es zu einer kleinen Kugel. Lass wehrte
sich wie ein gefangenes Tier und versuchte erneut zu entkommen. Ich
strich mit der Feder über mein Gesicht und meine Brust und spürte,
wie sich meine Form lockerte, während das Netzwerk wütend surrte
und auf einmal geisterhafte Schreie von sich gab.
Die Zeit kippte und breitete sich in einem Becken
aus Quecksilber und Rost aus. In der langsamen Zeitschleife, in der
ich mich nun befand, wurde auch ich langsamer. Ich presste das
grelle Licht von Lass gegen meine Brust und schob es mit Hilfe der
Feder tief in mich hinein. Etwas gab nach. Wir schwebten für einen
Moment halb verbunden und halb getrennt voneinander im Grau. Das
Leben und der Tod des Mannes, den ich in mir aufnahm, blitzten in
mir auf. Ich wimmerte vor Schmerzen, und für kurze Zeit war das
Gefühl so unerträglich, dass ich glaubte, ohnmächtig werden zu
müssen. Endlich umschloss meine Gestalt das Energiebündel des
Toten.
Daraufhin kehrte ich in die Normalität zurück.
Keuchend sah ich mich um. Mir liefen Tränen über die Wangen, so
sehr tobte Lass in mir. Quinton berührte mich an der Schulter, als
ich wieder auftauchte. Ich atmete tief durch und biss die Zähne
zusammen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Er sah mich
angsterfüllt an, und im Grau leuchteten die grünen und
orangefarbenen Wirbel um ihn herum grell auf.
Ich schüttelte den Kopf, da ich befürchtete, nicht
ruhig antworten zu können, sondern einen Schrei auszustoßen. Das
Blaulicht des Notarztes erhellte den Nebel. Ein Krankenwagen stand
neben dem rauchenden Wrack meines Autos. Die Sirenen waren
ausgeschaltet. Ich war kaum in der Lage, die Schritte der Sanitäter
auf der feuchten Straße zu hören, so laut kreischte das Grau in
meinem Kopf. Die Männer eilten auf uns zu. Ich wankte zu Ben und
Fish. Fish kniete noch immer neben dem Verletzten. Er schüttelte
verzweifelt den Kopf.
»Was haben wir getan? Was soll ich denen sagen? Ich
weiß nicht, was ich sagen soll. ›Ein Monster kam aus dem Marschland
und hat sie umgebracht‹, oder was?«
»Ben … Ben ist tot?«, brachte ich mühsam hervor.
Vor meinen Augen drehte sich auf einmal alles, während sich mir der
Magen verkrampfte. Meine beiden Welten prallten scharf aufeinander,
und ich fühlte mich wie eine Fahne in einem heftigen Sturm.
Fish schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber
Sisiutl … und dieser Mann. Mein Gott … Was haben wir getan?« Dann
starrte er mich an. »Was haben Sie getan? Das ist alles
wegen Ihnen passiert.«
Nun war es an mir, den Kopf zu schütteln. »Nein,
das stimmt nicht. Sistu …«
»Das ist doch alles nur eine Legende! Es ist eine
Geschichte wie die, dass Qamaits und Tsonoqua Alpträume bringen und
Kinder fressen. Das gibt es nicht!« Er schlug die Hände vor das
Gesicht, als ob er befürchtete, sonst völlig die Fassung zu
verlieren. Es fiel ihm offensichtlich nicht leicht, nicht völlig
durchzudrehen. »Es kann nicht sein! Mein Gott, es kann nicht sein!
Das darf nicht wahr sein!«
Lass tobte in mir. Seine Schreie hallten in meinem
Kopf wider. Ich wankte und versuchte für einen Moment, stehen zu
bleiben. Doch dann fiel ich neben Fish auf die Knie. Verzweifelt
packte ich den noch immer vor sich hin murmelnden Mann an den
Schultern. Ich schüttelte ihn, ohne auf die Schreie von Lass oder
auf meine Schmerzen zu achten. »Dann«, brachte ich mühsam hervor.
»Dann geben Sie mir die Schuld.«
Fishs Augen weiteten sich, als er mich ansah – ganz
so, als ob auch ich eine Gestalt aus einem seiner Albträume
geworden wäre. Seine Lippen zitterten, um etwas zu sagen, doch er
brachte kein Wort heraus.
»Los. Es ist … es ist alles meine Schuld«, befahl
ich ihm, und Fish nickte zitternd.
Ich versuchte aufzustehen. Doch meine Beine machten
nicht mehr mit. Der eingeschlossene Lass tobte in meinem Kopf und
in meinem Körper. Rote Nebel der Qual blendeten mich für einen
Moment, sodass ich nicht mehr wusste, wo ich mich überhaupt
befand.
»Du musst weg«, keuchte ich in der Hoffnung, dass
sich Quinton in meiner Nähe aufhielt. »Sie dürfen dich nicht
erwischen.«
Ich sah ihn weder neben mir noch fühlte ich seine
Berührung. Lass schien mich in meinem Inneren völlig auszuhöhlen.
Aber zumindest hörte ich, wie Quinton laut erklärte: »Du spinnst
wohl.«
»Ja«, erwiderte ich. Dann wurde der Schmerz so
unerträglich, dass ich schrie und in eine blutende Schwärze
stürzte, bevor ich das Bewusstsein verlor.