VIERZEHN

Die Sonne war schon lange untergegangen, als wir Seattle erreichten. Der Asphalt wirkte glatter als zuvor. Keiner sprach mehr ein Wort, bis wir den Rand des Universitätsgeländes erreichten. Im kalten Licht der Straßenlaternen erschien die Straße wie ein Tunnel durch ein geheimnisvolles Land.
Als ich Fish vor seiner Haustür absetzte, schien er sich wieder etwas beruhigt zu haben. Aber er war offensichtlich noch immer damit beschäftigt, die Schläge zu verdauen, die sein bisheriges Weltbild an diesem Tag abbekommen hatte. Eine weitere Sicht auf die Realität, die ich aus dem Gleichgewicht gebracht hatte … Ich konnte nur hoffen, dass Fish besser damit umgehen konnte als Will. Wieder einmal dachte ich wehmütig an meine zerbrochene Beziehung, während ich schweigend weiterfuhr.
Quinton hatte sich neben mich auf den Beifahrersitz gesetzt, schien aber auch in Gedanken versunken zu sein.
»Was meinst du?«, fragte ich nach einer Weile.
»In welcher Hinsicht?«
»Was dieses Monster betrifft.«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Verstehe. Und was ist mit den Besuchern, die mich heute Morgen beehrt haben? Glaubst du, wir sind noch immer nicht auf ihrem Radarschirm?«
»Der Rover jedenfalls nicht. Was dein Büro und deine Wohnung betrifft, weiß ich das nicht. Das hängt davon ab, ob sie glauben, dass du etwas vor ihnen verheimlichst, und ob sie die Möglichkeit haben, etwas dagegen zu unternehmen. Ich glaube aber, sowohl ihre Zeit als auch ihre Ressourcen dürften ziemlich beschränkt sein.«
»Woher willst du das wissen? Fern Laguire hat eher den Eindruck vermittelt, als ob sie alles daransetzen würde, dich zu finden.«
»Vielleicht will sie das«, stimmte Quinton ernst zu. »Aber ich glaube kaum, dass die NSA bereit ist, sonderlich viel Geld in den Fall zu stecken. Du kannst mir glauben – es sind vor allem Fern Laguire und ihre wenigen Helfershelfer, die hinter uns her sind. Sie hat offenbar das Bedürfnis, als Siegerin aus diesem Kampf hervorzugehen. Bisher hat sie jedenfalls kläglich versagt. Man will ihr wohl noch eine Chance geben, aber das war es dann auch.«
»Was ist eigentlich zwischen dir und Fern Laguire vorgefallen … J. J.?«
Er drehte sich zu mir um und sah mich an. »Ich möchte gerade nicht darüber sprechen.«
»Das ist ja mal eine Abwechslung. Normalerweise bin immer ich diejenige, die man beschuldigt, so verschlossen zu sein. Von dir kenne …«
»Ich bin nicht dein verdammter Idiot von einem Freund!«, unterbrach mich Quinton gereizt.
Ich fuhr den Wagen schnurstracks in die nächste Lücke, die sich zufälligerweise auf dem Parkplatz des Group-Health-Krankenhauses befand. Ohne nachzudenken bremste ich, zog die Handbremse an und drehte mich zu Quinton, um ihn anzubrüllen. Man kann nicht behaupten, dass ich zurückhaltend bin, wenn mich die Wut einmal gepackt hat.
»Es geht dich zwar überhaupt nichts an«, schrie ich, »aber er ist nicht mehr mein Freund!«
»Gut!«, brüllte Quinton zurück, riss die Tür auf und sprang aus dem Wagen.
Ich schaltete den Motor aus und folgte ihm.
»Was soll das heißen?«, verlangte ich zu wissen, nachdem ich ihn am Haupteingang zum Krankenhaus eingeholt hatte.
Er zuckte so heftig mit den Schultern, als ob er irgendetwas abschütteln müsste. Dann drehte er sich zu mir um. Sein Strahlenkranz im Grau flackerte für einen Moment auf, ehe er sich zu einer schwachen Linie aus rasch wandelnden Farben zusammenzog. »Ich will damit nur sagen«, erklärte er mit betont ruhiger Stimme, »dass du mit niemandem zusammen sein solltest, den du anlügen musst.«
»Bin ich auch nicht.«
»Nein. Sieht so aus. Zumindest nicht mehr.« Er wirkte ziemlich nervös. »Und warum nicht?«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, der in der kalten Luft eine weiße Wolke entstehen ließ. »Ich habe dir doch von dem Zombie erzählt, der mir gebracht wurde.«
»Ja«, erwiderte Quinton und hüpfte von einem Fuß auf den anderen, um nicht allzu sehr zu frieren.
»Na ja …« Es fiel mir wieder schwer, darüber zu sprechen, wenn auch auf andere Weise als über das Energienetz im Grau. »Will war dabei und ist ziemlich ausgerastet.«
»Kann ich eigentlich verstehen. Das wären wohl die meisten.«
»Ja, wahrscheinlich. Ich musste den Zombie … Ich musste ihn auseinandernehmen … Und diesen Anblick fand er wohl ziemlich verstörend.«
Quinton sah mich an und zitterte, wobei ich mir nicht sicher war, ob vor Kälte oder weil er sich vorstellte, was ich gemacht hatte. »Aha … Das war sicher auch nicht angenehm. Hat er … Äh …«
»Mich wie eine heiße Kartoffel fallen lassen? Ja, hat er«, ergänzte ich den Satz und nickte. »Ich kann ihn sogar irgendwie verstehen, aber es tut trotzdem weh. Wir haben es zwar noch einmal versucht, aber … na ja. Du hast recht. Ich kann mit niemandem zusammen sein, der es nicht aushält, wie ich bin, oder nicht damit zurechtkommt, was ich mache. Ich will niemanden mehr anlügen oder ihn vor der Wahrheit beschützen.«
»Es tut mir …«, stammelte Quinton und biss sich auf die Unterlippe.
»Du musst nicht sagen, dass es dir leidtut. Es tut dir doch gar nicht leid. Manchmal funktioniert eine Beziehung eben nicht.« Ich konnte ihn nicht ansehen und blickte deshalb an ihm vorbei ins Grau. Etwas Helles flammte dort auf. Doch als ich den Kopf drehte, war es verschwunden. Quinton stand noch immer vor mir und wirkte ein wenig zu strahlend und zu pink, um wirkliches Bedauern zu empfinden.
Die Energie um ihn herum wurde noch pinkfarbener. »Stimmt. Es tut mir nicht leid, dass es nicht funktioniert hat.« Das Pink wurde schwächer. »Aber es wäre mir lieber gewesen, wenn es nicht auf diese Weise passiert wäre. Mit Zombies und haarigen Wesen und so …«
»Die sind noch immer da draußen unterwegs«, erinnerte ich ihn, da ich dringend das Thema wechseln wollte. Ich hatte keine Lust, noch länger über meine kaputte Beziehung zu reden. »Selbst wenn wir annehmen, dass wir jetzt wissen, was dieses Monster ist, haben wir noch immer keine Ahnung, wie wir es aufhalten können oder warum es mordet.«
Eine kleine Gruppe grimmig dreinblickender Leute trat durch die Krankenhaustür. Sie redeten gerade über eine gestellte Diagnose und die Risiken einer Operation. Es war bereits so dunkel, dass es schon wesentlich später zu sein schien als fünf Uhr.
Quinton sah mich von der Seite an. »Hättest du Lust, etwas essen zu gehen? Wir könnten uns dabei überlegen, wo wir weitermachen wollen.«
Ich lächelte ihn ein wenig schief an. »Gerne.«
Unser gemeinsames Abendessen war so unromantisch wie nur irgend möglich: Hamburger im Kidd Valley, einem Lokal gegenüber vom Krankenhaus. Aber das Essen war warm, und die Fenster des Lokals hatten sich beschlagen, sodass man uns von draußen kaum sehen konnte. Wir verzogen uns in die hinterste Ecke des Diners.
»Meinst du wirklich, dass wir nach diesem Sisiutl suchen sollten?«, fragte Quinton.
»Ja.« Ich seufzte. »Auch wenn ich mir etwas blöd dabei vorkomme.«
»Verstehe. Am besten nennen wir ihn vorerst allerdings wirklich Sistu. Selbst wenn er uns nicht hören kann, ist es nie schlecht, einen falschen Namen zu benutzen.«
Ich stimmte ihm zu. »Wir müssen jedenfalls herausfinden, wo er sich versteckt und was er vor hat. Ist er einfach nur hungrig, oder geht es da noch um etwas anderes?«
»Am besten setzen wir an dem Punkt an, woher er kommt«, schlug Quinton vor. »Ella Graham hat doch etwas über eine Müllhalde gesagt. Stand in den Zeitungen, die du in der Bibliothek durchgesehen hast, nicht auch irgendetwas über eine Müllhalde?«
»Stimmt. Da ging es um eine Müllhalde südlich des Zentrums.«
»Gut. Also etwa in der Gegend, wo sich jetzt die Stadien befinden.«
»Und das Hotel errichtet wird. Glaubst du, das ist derselbe Ort?«
»Könnte sein. Falls die Bauarbeiter aus Versehen zu dem Ort vorgedrungen sind, wo Sistu wieder eingesperrt war, hätte er leicht entkommen können. Dann hat er wahrscheinlich das erste Lebewesen verschlungen, das ihm über den Weg gelaufen ist.«
»Und das war wahrscheinlich einer der verschwundenen Obdachlosen.«
Quinton nickte. »Die Frage ist nur, ob er etwas Bestimmtes im Schilde führt oder einfach nur auf gut Glück auf Jagd geht. Momentan scheint es nur die Obdachlosen zu erwischen, die sich unten im Ziegelbruch oder dort in der Nähe aufhalten. Der Ziegelbruch ist nicht weit von dem Durchbruch entfernt. Aber Jenny wurde wesentlich weiter nördlich gefunden. Er scheint also sein Territorium in Richtung Pioneer Square auszuweiten, denn südlich von den Stadien ist es meiner Meinung nach zu keinem Vorfall gekommen.«
»Vielleicht hat es ja eine besondere Bewandtnis mit dem Pioneer Square. Sistu scheint auch die nördliche Grenze an der Cherry Street nicht zu überqueren. Oder vielleicht versteckt er sich dort ja auch irgendwo.«
»Die meisten Todesfälle haben sich zwischen dem Pioneer Square und dem Ziegelbruch ereignet. Der Occidental Park bildet also sozusagen das Zentrum. Ich finde, wir sollten dort beginnen.«
»Und was ist mit der Riesin, von der Grandma Ella gesprochen hat? Sie ist sein Wächter, muss sich also auch in der Nähe aufhalten. Ella meinte, dass Sistu zu … wie hieß sie noch mal?«
»Zeqwa?«
»Nein … Das bedeutet Monster.« Ich dachte einen Moment nach. »Kammits?«
Quintons Augen leuchteten auf. »Qamaits! Stimmt. Ella meinte, dass Sistu 1949 zur Riesin zurückgebracht worden ist. Sie ist seine Wächterin und wird ihn wohl so lange in seinem Tümpel bewachen, bis sie einen Grund hat, ihn wieder freizulassen.«
»Zum Beispiel, wenn sie jemanden dafür bestrafen will, dass er die Götter verärgert hat. So etwas Ähnliches hat doch Grandma Ella erzählt, nicht wahr? Oder vielleicht auch, um jemandem einen Gefallen zu erweisen.«
»Und die Bewohner des Untergrunds würden bestimmt niemandem aus dem Weg gehen, nur weil er vielleicht etwas unheimlich aussieht. Die meisten von ihnen sehen schließlich selbst ziemlich unheimlich aus. Vermutlich würden sie auch einem Gott keinen Drink verweigern«, sagte Quinton.
»Vermutlich nicht … Was meinst du? Hat jemand Qamaits und Sistu aus der Baugrube geholfen und das Erste, was Sistu getan hat, war es, denjenigen zu fressen, dessen Bein dort gefunden wurde?«
»Klingt plausibel.«
»Aber selbst für eine menschenfressende Riesin erscheint es mir doch ziemlich undankbar, seinem Haustier zu erlauben, den eigenen Retter zu fressen.«
»Vielleicht konnte sie ihn ja auch nicht davon abhalten. Ella Graham hat doch gemeint, dass Sistu ein geborener Jäger ist …«
»Dann sieht es aber ganz so aus, als ob er sich inzwischen nicht mehr mit Robben aufhalten würde. Er scheint sich auf Menschen spezialisiert zu haben. Falls er allerdings aus einem bestimmten Grund jagt, gibt es vielleicht ein Muster, dem er folgt und das uns zeigen könnte, wen er umbringt. Wir müssen zum Anfang dieser Serie von Todesfällen zurückkehren. Als Erstes sollten wir herausfinden, wer in der Nacht bevor das Bein gefunden wurde auf der Baustelle war. Falls die noch am Leben sind, sollten wir mit ihnen sprechen.«
»Und mit Qamaits.«
Ich nickte. »Ja. Ich glaube, sie sollte recht einfach zu finden sein. Schließlich ist auch sie ein sagenumwobenes Monster und sieht deshalb wahrscheinlich wie Sistu für die einen so und für die anderen ganz anders aus.«
»Für dich vermutlich ganz anders als für die meisten«, fügte Quinton hinzu.
Ich schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich. Aber leider weiß ich auch nicht, wie sie aussieht, und im Grau werfen viele Menschen und Dinge seltsame Schatten. Sie könnte überall sein und sich hinter jedem verbergen. Wir müssen sie finden und zudem versuchen, mit jemandem zu sprechen, der beobachtet hat, wie Sistu aus dem Loch gekrochen kam. Vielleicht finden wir ja jemanden, der weiß, was das Monster vorhat, wen es jagt und warum.«
»Wir sollten lieber zum Pioneer Square, ehe es zu spät wird und alle schon schlafen.«
»Es ist sowieso wahrscheinlicher, dass wir die Informationen, nach denen wir suchen, von Leuten bekommen, die nicht jede Nacht in einem der Heime unterkommen – solchen Leuten wie zum Beispiel Tanker und Lass.«
»Oder auch Sandy. Sie ist sehr wachsam und verrückt genug, öfter als die meisten anderen Frauen im Freien zu schlafen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Dann muss sie wirklich verrückt sein, um so etwas freiwillig zu machen.«
»Mehr als die Hälfte der Obdachlosen sind irgendwie gestört. Das ist vermutlich ihre Art von Schutz.« Er leerte sein Glas. »Gehen wir.«
Ich betrachtete den halben Burger, den ich nicht hatte essen können, da er so groß war. Doch nach unserem Gespräch über die Obdachlosen quälte mich das schlechte Gewissen, ihn einfach wegzuwerfen.
Quinton sah mich an. »Wickle ihn doch ein«, schlug er vor. »Du könntest ihn zumindest Bella mitbringen. Die würde sich bestimmt freuen.«
Für einen Moment wusste ich nicht, wen er meinte, doch dann fiel mir Tankers Hund wieder ein. Als ich zögerte, griff Quinton nach dem Burger, wickelte ihn in sein Papier und steckte ihn in eine seiner vielen tiefen Taschen.
Wir kehrten zum Rover zurück und fuhren zum Pioneer Square. Dort parkte ich vorsichtshalber nicht wie sonst in meinem Parkhaus, falls die NSA doch ihre Hausaufgaben gemacht haben sollte. Stattdessen stellte ich den Wagen unter das Viadukt am Alaskan Way, und wir betraten das historische Zentrum von seinem westlichen Ende her. Als wir an Marcus’ Martini Heaven vorbeigingen, gab mir Quinton einen kleinen Stoß und zeigte in die dunkle Gasse auf der anderen Seite.
»Sieht wie Tanker aus«, meinte er.
Ich erkannte den Umriss des gedrungenen Hundes. Wir überquerten die Straße, und Quinton schob mir den halben Burger in die Hand. »Ich rede, du fütterst.«
Tanker drehte sich ruckartig um, als wir näher kamen. Auch Bella spannte sich für einen Moment an, ehe sie Quinton erkannte. Dann begann sie begeistert mit Schwanz und Hinterteil zu wackeln. »Hi, Tanker«, begrüßte Quinton den Mann, während er in die Hocke ging, um Bella ausführlich zu streicheln.
»Hi, Q. Hallo, Miss Dings.« Ich vermutete, dass er diesmal etwas umgänglicher gestimmt war als das letzte Mal, mir aber immer noch nicht verzeihen konnte, dass ich ihn einer Lüge bezichtigt hatte.
»Hi, Tanker«, begrüßte auch ich ihn und streckte ihm das Papier mit meinen Burgerresten hin. »Hast du etwas dagegen, wenn ich das hier Bella gebe?«
Er betrachtete das Papier misstrauisch. »Was soll das sein?«
Ich machte es auf. »Es ist ein … ein Sandwich … mit Fleisch.« Ich hatte ganz vergessen, dass Quinton sein Mittagessen nicht aufgegessen hatte. Offenbar hatte er mir das jetzt in die Hand gedrückt.
Tanker lachte. »Mann, Lady! Willst du meinen Hund verwöhnen?«
»Bella ist ein guter Hund. Es wird sie nicht verwöhnen. Kann sie es haben?«
Er winkte lässig Richtung Hund, der eifrig damit beschäftigt war, uns alle genau im Auge zu behalten. Offensichtlich versuchte er herauszufinden, wem er im Moment die meiste Aufmerksamkeit zollen sollte. »Klar. Gib es ihr. Sie frisst aber nicht gerne aus der Hand. Du musst es vor ihr auf den Boden legen.«
»Okay«, sagte ich und ließ mich vor dem Hund nieder, wobei mein Knie schmerzhaft protestierte. Quinton stand auf und trat näher zu Tanker. Er holte meinen halben Burger heraus und bot diesen dem Mann an.
»Hallo, Bella«, murmelte ich. »Ich habe hier etwas Leckeres für dich … Hoffe ich jedenfalls.« Als Kind hatte ich nie einen Hund gehabt, und als Erwachsene war mein Leben nie so geregelt gewesen, als dass ich mir einen Hund hätte anschaffen können. Manchmal führte ich den Pitbull-Terrier meines Nachbarn aus, aber sehr viel weiter reichte mein Kontakt zu Hunden nicht. Bellas kräftige Kiefer machten mich ein wenig nervös, als ich das Papier auf den Steinboden legte und es öffnete. Der Hund leckte sich die Lefzen und wedelte mit dem Schwanz. Er betrachtete das Fressen, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Ist schon in Ordnung, Bella. Friss«, sagte Tanker und begutachtete dann zufrieden seine eigenen Reste.
Bella bellte begeistert und stürzte sich auf das Fressen. Ich kraulte ihr die Ohren, während sie mit Kauen beschäftigt war, und lauschte dabei Tanker und Quinton.
»Tanker – ich mache mir echt Sorgen, Mann. Weißt du noch, als Tandy verschwunden ist?«
»Warum machst du dir wegen dieses Saufkopfs Sorgen?«, fragte Tanker und biss in seinen Burger.
»Ich mache mir eben so meine Gedanken. Ich meine, in letzter Zeit sind hier echt viele schlimme Dinge passiert, und ich habe Tandy nicht mehr gesehen, bevor das Ganze anfing.«
»Tandy ist doch gerade mal in der Lage, eine Flasche zu heben. Um den ist es doch nicht schade!«
»So etwas sollte man nicht sagen. Hast du ihn gesehen? Oder Bear? Und Jolene?«
Tanker schluckte einen Bissen Burger herunter. »Hm. Ich glaube, ich habe Bear kurz vor Weihnachten gesehen. An Jolene kann ich mich nicht erinnern. Sie fällt irgendwie nie auf. Und was Tandy betrifft, der interessiert mich null. Er und Lass trinken doch oft miteinander. Du solltest besser den Idioten fragen, wo sein Freund steckt. Ich weiß es jedenfalls nicht, und es ist mir auch egal. Von mir aus kann er in eine Kloake gefallen sein. Wäre mir auch recht …«
Quinton nickte bedächtig, während Bella mit einem zufriedenen Schmatzen den Rest ihres Fleischsandwiches hinunterschlang.
»Also«, setzte Quinton erneut an. »Ich frage mich nur, ob ihnen etwas zugestoßen sein könnte. Glaubst du, dass jemand etwas gegen sie gehabt hat?«
»Alle mögen Bear und Jolene, das weißt du doch. Und Tandy ist den meisten egal. Wieso sollten sie ihm also etwas antun? Aber ich begreife nicht, wer die arme alte Jenny um die Ecke gebracht hat. Sie war zwar nicht sehr helle, aber gemein war sie auch nicht – es sei denn, sie brauchte dringend einen Fix.« Er kaute am letzten Stück Burger und schluckte es dann genüsslich runter.
Bella meinte plötzlich, mir mit ihrer Zunge aus Dankbarkeit das Gesicht abschlecken zu müssen.
»Bella, aus!«, rief Tanker. »Hör auf, die Lady zu belästigen.«
Offenbar hatte das Essen sowohl den Hund als auch sein Herrchen milde gestimmt.
Bella hörte sogleich auf, mich abzulecken, und warf mir stattdessen einen entschuldigenden Blick zu. Ihre Zunge hing ihr noch immer aus dem Maul.
»Schon in Ordnung«, sagte ich und stand auf, nachdem ich den Hund ein letztes Mal hinter den Ohren gekrault hatte. »Sie ist wirklich ein freundlicher Hund.«
»Ich habe sie selbst erzogen«, erklärte Tanker mit einem gewissen Stolz in der Stimme.
»Das hast du gut hinbekommen.«
»Hunde müssen wissen, wer das Sagen hat. Sonst geht es ihnen schlecht. Wenn du ein guter Boss bist, tun sie alles für dich. Ich schwöre dir – alles. Ich werde ihr erlauben, diesen verdammten Lass zu fressen, wenn wir ihn das nächste Mal sehen. Hätte ich schon lange tun sollen. Dieser verdammte Kerl hat ihr etwas angetan, und ich will nur nicht, dass sie Müll wie den verdauen muss. Sonst hätte ich ihr schon lange erlaubt, ihm die Beine auszureißen. Man kann niemandem über den Weg trauen, der einem Hund absichtlich weh tut.« Tanker starrte finster vor sich hin. Die Aura um ihn herum leuchtete auf einmal glutrot.
Quinton klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Bella würde von Lass bestimmt Bauchweh bekommen. Du solltest ihr wirklich nicht erlauben, ihn anzugreifen.«
Tanker schnaubte. »Ich werde bestimmt nicht in seine Nähe kommen.«
Quinton nickte. »Hast du heute eigentlich schon Sandy gesehen?«
Der Obdachlose kratzte sich den Kopf unter seiner Kapuze. »Ja … Drüben auf der Second, in der Nähe des Quick Mart. Vielleicht ist sie inzwischen auch wieder in den Park zurückgekehrt. Es ist ziemlich kalt geworden, und ich glaube, dass sie jemanden beobachtet hat.«
»Wir finden sie. Danke, Tanker.«
»Klar, euch auch.« Tanker nickte uns etwas verlegen zu und schnalzte dann mit der Zunge. »Komm, Mädchen.«
Wir drehten der Gasse den Rücken zu, während er tiefer in ihr verschwand.
Vorsichtig schlichen wir durch die Seitenstraßen zum Occidental Park, denn wir wollten uns auf keinen Fall in der Nähe meines Büros zeigen. Quinton zeigte auf den Bärentotempfahl. »John Bear hat gerne darunter geschlafen. Das hat Blue Jay gemeint, als er sagte, dass Bear oft bei den Bären schläft. Aber jetzt liegt niemand darunter.«
Hinter dem Totempfahl brannte wieder ein Feuer in einer Mülltonne. Ein kleiner Kreis von Obdachlosen hatte sich darum versammelt und wärmte sich die Hände. Eine dicke Frau saß am Fuß eines anderen Totempfahls und sah uns misstrauisch an, als wir an ihr vorübergingen. Sie verbarg sich noch mehr in der Dunkelheit. Weder im Grau noch in der normalen Welt konnte ich viel von ihr erkennen, denn sie gab sich die größte Mühe, sich im schwarzen Schatten des Totempfahls zu verstecken. Es war kein schöner Totempfahl, es handelte sich um die Albtraumbringerin. Es wunderte mich eigentlich nicht, dass dieser Pfahl einen besonders dunklen Schatten warf. Ich hätte in seiner Nähe bestimmt nicht schlafen wollen. Die Frau jedoch zog sich eine schwarze Decke über den Kopf, sodass sie aus der Ferne nur noch eine formlose Gestalt war.
Wir gingen zu der brennenden Mülltonne, wo wir Zip, Sandy und den Mann fanden, den ich schon des Öfteren dabei beobachtet hatte, wie er unruhig auf und ab ging und mit sich selbst redete. Zip bot uns Zigaretten und einen Schluck aus einer Flasche in einer braunen Papiertüte an. Sandy nickte uns zu, während uns der Mann erklärte, dass man die Stimme der Schildkröte überall im Land hören könne.
»Mann, Twitcher. Hier gibt es keine Schildkröten«, beschwerte sich Zip ungeduldig. »Die werden also auch nicht reden.«
»Selbst das Ende aller Tage muss ein Ende haben«, erwiderte Twitcher.
»Ich glaube, damit meint er das Jüngste Gericht«, erklärte uns Sandy. »Aber das haben wir zum Glück noch nicht ganz erreicht.«
»Sollen am Jüngsten Tag nicht die Toten auferstehen und gezählt werden, oder so?«, wollte Twitcher wissen.
»Ja, das sollen sie«, erwiderte Sandy und warf ihm einen Seitenblick zu.
»Aha … Dann ist es vermutlich wirklich noch nicht Zeit, denn sonst wären die Straßen ja voll von Toten!« Twitcher nickte nachdenklich und begann dann von einem Fuß auf den anderen zu hüpfen und mit den Armen zu rudern.
»Vielleicht«, meinte Sandy.
»Hi, Harper«, begrüßte Zip mich plötzlich. Eine Fahne aus Bier und verfaulten Zähnen schlug mir entgegen. Ich gab mir die größte Mühe, nicht angewidert zurückzuweichen.
»Hallo, Zip.« Ich stellte mich in die Nähe von Sandy, um seinem Gestank nicht so stark ausgesetzt zu sein.
»Wie läuft der Fall?«, erkundigte sich Sandy.
»Könnte besser laufen. Und deiner?«
»Ich glaube, der Kerl ist für eine Weile untergetaucht. Ich habe ihn heute verloren. Aber ich hoffe, ihn entweder heute Nacht oder spätestens morgen früh wieder zu erwischen. Was führt euch hierher?«
»Ich möchte in Erfahrung bringen, wer sich in den letzten Monaten dort unten auf der Hotelbaustelle aufgehalten hat«, erklärte ich.
»Wir sind alle dort unten gewesen«, meinte Sandy, sah mich aber nachdenklich an.
»Genau«, stimmte auch Zip zu. »Manchmal gibt es da Holz, das wir uns nehmen können. Aber seitdem das Bein gefunden wurde, ist alles abgesperrt.«
Quinton gab Twitcher einen sanften Stoß. »Du, Twitcher – kennst du jemanden dort unten in der Baustelle? Oder jemanden, der auf die Leute, die verschwunden sind, wütend war?«
»Du meinst wohl alle«, erwiderte Twitcher. Mir fiel auf, dass er nicht so stark zappelte, wenn er mit jemandem sprach oder etwas tat. Doch sobald er nichts sagte, fing er an zu zucken. Seine Zuckungen waren stärker, wenn er versuchte, ruhig stehen zu bleiben. Auf einmal wurde mir klar, dass er deshalb wohl auch so viel umherging und mit sich selbst sprach. Er wollte seinen Körper auf diese Weise besser unter Kontrolle halten.
»Verstehe ich dich richtig?«, meinte Quinton. »Willst du damit sagen, dass jeder der Verschwundenen auf der schwarzen Liste eines anderen gestanden hat?«
Twitcher schüttelte heftig den Kopf und stellte sich dabei auf die Zehen. »Nein, nein, das will ich nicht damit sagen. Keiner hatte etwas gegen Little Jolene oder Jan, und Hafiz mochte sowieso niemand. Go-Kart hat viele Leute aufgeregt, aber die meisten haben sich auch wieder beruhigt. Na ja, außer Tanker. Der hat ihm nie verziehen, dass er ihm auf den Fuß gestiegen ist …«
»Bear war auch in Ordnung. Aber er war nicht immer einfach. Es war schwierig, mit ihm befreundet zu bleiben«, mischte sich Zip ein. »Er und Lass … Bei denen hatte man das Gefühl, dass sie sich hassen.«
»Nach Lass kann man sich nicht richten. Der Kerl mag keinen«, sagte Twitcher. »Und von mir behauptet man, misstrauisch zu sein!«
»Lass ist nicht misstrauisch. Der ist einfach nur verrückt.«
»Ich persönlich«, warf Sandy ein, »würde lieber in den schlechten Büchern von Tanker oder Bear stehen als von Lassiter.«
»Ehrlich? Warum denn das?«, erkundigte ich mich neugierig.
»Er ist irgendwie hinterhältig. Tanker und Bear zeigen dir zumindest, wenn sie wütend auf dich sind.«
Zip schüttelte den Kopf. »Lass ist auch nicht so geschickt, wenn es darum geht, seine Wut zu unterdrücken. Könnt ihr euch nicht mehr daran erinnern, wie er und Hafiz einmal aneinander geraten sind? Mann, die gingen sich ja fast an die Gurgel.«
»Allerdings gibt es wohl niemanden, dem Hafiz nicht irgendwann auf die Nerven gegangen ist. Der hat sein Maul immer viel zu weit aufgerissen«, erklärte Twitcher.
»Und was ist mit Tandy?«, fragte Quinton. »Hatte der mit irgendjemandem Streit?«
»Nein, nicht dass ich wüsste«, erwiderte Zip. »Mit Tandy konnte man gar keinen Streit haben. Der war dazu immer viel zu betrunken und zufrieden.«
»Betrunken und benebelt, meinst du wohl«, korrigierte ihn Sandy. »Der hat mit jedem getrunken, der es schaffte, ihn aufrecht zu halten und ihm eine Flasche zu reichen.«
»Wann habt ihr Tandy das letzte Mal gesehen?«
Die drei schwiegen für einen Augenblick und dachten nach.
»An Thanksgiving«, meinte Sandy schließlich. »Vor dem Sturm.«
»Und wo war das?«, fragte ich.
»In der Nähe des Fußballstadions.«
»Also in der Nähe der Baustelle?«
»Nicht ganz in Nähe, aber er hätte auf jeden Fall dorthin gehen können. Als ich ihn gesehen habe, war er noch nicht völlig sturzbetrunken.«
»War er da mit jemand anderem zusammen?«
»Ja, mit John Bear und Little Jolene.«
Ich warf Quinton einen fragenden Blick zu, doch dieser schüttelte den Kopf. »Bear und Jolene hat man auch noch später gesehen.«
»Aber Tandy nicht«, fügte Sandy hinzu.
»Sicher?«
»Ich habe ihn nach Thanksgiving jedenfalls nicht mehr gesehen, und ich halte die Augen offen.«
»Wann wurde eigentlich Hafiz umgebracht?«, wollte ich wissen.
»Er wurde am Montag nach Thanksgiving entdeckt. Aber ich glaube, da war er schon ein oder zwei Tage tot«, erklärte Sandy nachdenklich. »Die Leiche wurde unter ein paar schweren Ästen gefunden, die im Sturm von einer Platane abgerissen worden waren.«
»Er wurde also durch einen herunterfallenden Ast erschlagen?«
»Oh, nein. Dort haben sie nur seine Leiche entdeckt«, korrigierte mich Sandy.
Wir plauderten noch eine Weile mit den dreien, bis uns die Zehen in den Stiefeln einfroren und wir vor Kälte kaum mehr unsere Gesichter spürten. Viel Neues erfuhren wir leider nicht. Als Quinton und ich schließlich weitergingen, um mit anderen Bewohnern des Untergrunds zu reden, meinte er: »Tandy und Lass haben früher oft zusammen getrunken. Aber wie Sandy ja bereits sagte, hat Tandy mehr oder weniger mit jedem gesoffen, den er erwischen konnte.«
»Dann hätte er also an seinem Todestag mit Bear und Jolene zusammenbleiben oder auch mit jemand anderem davongehen können, mit dem wir noch nicht gesprochen haben.«
»Genau. Aber allein die Tatsache, dass er verschwunden ist, kurz bevor man das Bein gefunden hat, macht es ziemlich wahrscheinlich, dass es sich um sein Bein handelt. Meinst du nicht?«
Ich zitterte. »Doch. Dann wäre Tandy also der Erste, der verschwunden ist. Danach wurde Hafiz umgebracht, den offenbar niemand mochte. Und dann?«
»Danach hat man Jan und Go-Kart tot aufgefunden, und zwar in dieser Reihenfolge. Aber zwischen Hafiz und Jan war eine ziemlich lange Pause.«
»Wer verschwand da?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich könnte mir vorstellen, zuerst Jheri, dann Jolene … Danach wurde Jan getötet … Dann verschwanden Bear und Felix, und Go-Kart starb ebenfalls. Und schließlich Jenny.«
»Das würde einen Durchschnitt von etwa einem Toten pro Woche ergeben. Ein ziemlich hungriges Monster«, sagte ich und schüttelte mich.
»Stimmt.«
Ich dachte nach. Irgendwie wurde ich den Eindruck nicht los, dass es noch eine weitere Verbindung gab, die nur darauf wartete, von uns entdeckt zu werden. »Ich würde gern mit Lass sprechen«, sagte ich. »Er taucht irgendwie immer wieder auf. Und dann könnten wir uns auch nochmal Tanker vorknöpfen.«
»Glaubst du, dass Tanker etwas weiß, was er uns noch nicht gesagt hat?«
»Irgendjemand weiß etwas. Da bin ich mir absolut sicher. Und die Einzigen, die uns nichts mehr sagen können, sind die Toten.«
Wir liefen eine Weile alle möglichen Straßen und Gassen ab, ohne Lassiter zu entdecken. Also beschlossen wir, wieder in den Untergrund abzusteigen.
Im Ziegelbruch stießen wir auf Tall Grass. Er war gerade dabei, in einer Ecke vor sich hin zu schimpfen und mit einem weichen braunen Gegenstand durch die Luft zu fuchteln. Als er uns entdeckte, stürzte er auf uns zu und drückte mir das Ding wütend in die Hand.
»Du hast sie doch gewollt! Da, nimm sie! Nimm sie! Ich will sie nicht mehr!« Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich.
»Grass, beruhige dich«, redete Quinton mit leiser Stimme auf ihn ein. »Man kann dich doch überall hören. Beruhige dich wieder.«
Tall Grass wandte sich ihm zu. »Du hast sie hierhergebracht! Sie wollte die Mütze. Es ist auch deine Schuld. Deine Schuld, dass Jenny tot ist.«
Quinton trat einen Schritt zurück. »Grass, das meinst du doch nicht ernst! Es ist nicht unsere Schuld. Jemand oder etwas hat Jenny umgebracht, aber das waren weder Harper noch ich. Und du auch nicht.«
»Es ist diese Mütze!«
»Verdammt, Grass, reiß dich zusammen! Es hat nichts mit der Mütze zu tun.«
»Das war Bears Mütze. Bear ist tot. Und dann war es Jennys Mütze. Und jetzt ist Jenny tot«, erregte sich Tall Grass. Er klang hysterisch.
»Woher willst du wissen, dass Bear tot ist? Wir wissen das nicht mit letzter Sicherheit. Er ist nur …«
»Ich habe ihn gesehen! Ich habe seinen Geist gesehen. Und ich habe das Wesen – das Monster – gesehen! Das habe ich! Ich habe es gesehen!« Er konnte vor Aufregung kaum mehr atmen. Plötzlich begann er zu schreien. Er starrte durch uns hindurch, und seine Augen schienen beinahe aus den Höhlen zu treten.
»Mist«, murmelte Quinton. Tall Grass begann heftig zu keuchen und verlor dann auf einmal das Bewusstsein. Er sackte zusammen und fiel zu Boden.
Quinton betrachtete ihn mitleidig. »Ich bin bisher noch nie so froh gewesen, dass jemand ohnmächtig geworden ist.«
»Hey!«
Wir drehten uns um. Ein Mann spähte um die Ecke, zog jedoch sofort den Kopf zurück, als wir in seine Richtung schauten.
»Lauf nicht weg, Lass!«, rief Quinton. Er gab mir mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich Lass aufhalten solle.
Ich rannte also den alten Bürgersteig entlang, spürte aber auf einmal wieder, wie mein Knie schmerzte. Trotzdem gelang es mir, Lass nach wenigen Metern einzuholen. »Komm schon, Lass. Hilf uns«, schlug ich vor. »Wir müssen Tall Grass hier rausbringen.«
Lassiter sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er zitterte und fasste nervös in seine Tasche.
»Lass den Schocker stecken«, sagte ich. »Ich lasse mich nicht so leicht außer Gefecht setzen. Und ich werde dir auch nichts tun, wenn du Quinton und mir hilfst.«
Widerstrebend lief er vor mir her. Wir kehrten zu Quinton zurück, der gerade dabei war, Tall Grass mühsam aufzurichten. Der Indianer hatte das Bewusstsein immer noch nicht zurückerlangt.
Quinton sah Lass scharf an und meinte dann: »Am besten nimmst du ihn unter der einen Achsel und ich ihn unter der anderen, und dann wir ziehen ihn gemeinsam hoch. Wir bringen ihn die Cadillac-Treppe hinauf. Dort oben finden wir bestimmt irgendwo einen Ort, wo wir ihn liegen lassen können.«
»Und warum nicht hier?«, jammerte Lass. »Ist doch egal, Mann. Warum sollen wir für den Kerl unser Leben aufs Spiel setzen?«
»Weil er vielleicht sterben könnte, wenn wir ihn zurücklassen. Ich habe dir geholfen, Lass. Jetzt hilfst du mir. Oder ich werde dir in Zukunft nie mehr einen Gefallen tun. Verstanden?«
»Okay, okay. Schon verstanden.«
Lass half Quinton, Tall Grass hochzuheben, und dann trugen ihn die zwei Männer wie einen schweren Sack bis zum Fuß der Treppe, die neben dem Cadillac-Hotel in den Untergrund führte. Ich eilte die Stufen hinauf und sah mich oben um. Einen Moment lang wartete ich, um ganz sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war. Dann rief ich leise zu den beiden hinunter, dass sie hochkommen könnten.
Tall Grass gab ein paar Geräusche von sich und versuchte sich zu bewegen, als wir die Straße erreichten. Quinton und Lass setzten ihn auf dem Bürgersteig ab, und dann ließ sich Quinton neben ihm nieder. Ich packte Lassiter gerade noch rechtzeitig am Handgelenk, bevor er weglaufen konnte.
Während Quinton leise mit Tall Grass sprach, unterhielt ich mich mit Lass.
»Was hast du da unten gemacht?«
»Ich … Ich wohne da!«
»Aber doch nicht genau da.«
»Nicht die ganze Zeit … Ich … Ich habe etwas gehört. Ich habe Grass sprechen gehört. Mann, der ist voll auf einem Trip!«
»Ehrlich? Da sagst du mir nichts Neues. Er glaubt, gesehen zu haben, wie John Bear von einem Monster gefressen wurde.«
»Siehst du? Der hat sie doch nicht mehr alle.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob er nicht tatsächlich ein Monster gesehen hat.«
»Was?«
»Du siehst doch auch Monster. Das hast du zumindest behauptet.«
Er starrte mich verblüfft an und sah sich dann hastig erneut nach einer Fluchtmöglichkeit um. Ich stellte mich ihm in den Weg.
»Hast du das Monster vielleicht auch gesehen, das Bear gefressen hat?«
»Ich habe gewisse Dinge gesehen …«
»Was genau? Und wo hast du es gesehen?«
»Ich habe schon viele … viele unheimliche Typen gesehen … Die tun uns weh … deshalb hat mir Q-Mann ja auch den Schocker gegeben.«
»Ich weiß. Aber ich bin mir sicher, dass du mehr als nur ein paar komische Typen gesehen hast. Sonst hättest du nicht solche Angst.«
»Ich habe eine … Ich habe eine Schlange gesehen. Eine große Schlange.«
Ich musterte ihn skeptisch. Nicht, weil ich ihm nicht glaubte, sondern weil ich den verunsicherten Mann dazu zwingen wollte, endlich zu reden. Es gibt nichts, was Leute eher dazu bringt, den Mund aufzumachen, als so zu tun, als würde man ihnen nicht glauben.
»Es stimmt aber! Die Schlange war so groß wie ein Auto. Sie hatte einen Menschen im Maul – so wie wenn eine Klapperschlange versucht, ein Ei zu verschlingen.«
»Wo hast du die denn gesehen?«
»Unter dem Pioneer Square.«
»Man kann gar nicht unter den Pioneer Square!«, widersprach ich ihm.
»Doch, kann man schon! Hinter dem Pioneer-Building gibt es ein Gitter in einer Gasse. Wenn man das hochhebt, gelangt man dort in ein Loch.«
»Und wann hast du die Schlange da gesehen?«
»Weiß ich nicht mehr! Lass mich endlich in Ruhe!« Er stieß mich zur Seite und drängte sich an mir vorbei. Ich hätte ihn zwar aufhalten können, aber zum einen wollte ich ihm nicht seinen ganzen Stolz nehmen, und zum anderen hielt ich es für das Beste, ihn fürs Erste nicht weiter zu befragen. Schließlich wusste ich, wo ich ihn finden konnte.
Ich sah mich nach Quinton und Tall Grass um, der gerade dabei war, sich mühsam zu erheben.
»Verschwinde«, knurrte er.
»Fühlst du dich wieder besser?«, fragte Quinton.
»Es geht mir gut.«
»Du warst ziemlich hysterisch …«
Er starrte Quinton finster an und entdeckte dann mich. Ich hielt noch immer die Mütze in der Hand. Mit einem Satz stürzte er sich auf mich und entriss sie mir. »Die gehört Jenny.«
»Du hast gesagt, es wäre Bears alte Mütze gewesen«, entgegnete ich.
Tall Grass sah für einen Moment so aus, als ob er nicht wüsste, wie er reagieren sollte. Seine Augen wanderten unruhig zwischen Quinton und mir hin und her.
»Stimmt gar nicht!«
»Komm schon, Grass«, meinte Quinton besänftigend. »Wir wissen alle, dass die Mütze Bear gehört hat. Du hast uns erzählt, dass du gesehen hättest, wie er von einem Monster verschlungen worden ist.«
»Das habe ich nie gesagt!«
»Doch, das hast du. Wir wollen dieses Monster fassen, Grass. Wir wollen das Monster fassen, das auch Jenny getötet hat.«
»Ich habe die Sch… Ich habe niemanden gesehen!«, jammerte Grass. Er lehnte sich an eine Hausmauer und vergrub sein Gesicht in der Mütze. »Wir haben geschlafen«, erzählte er schließlich. »Da kam sie plötzlich aus der Dunkelheit. Wie eine Welle. Und Jenny hat ein Geräusch gemacht. Und dann … Und dann habe ich etwas Kaltes gespürt, und es hat wie nach faulem Fleisch gestunken. Ich habe die Augen geöffnet und gesehen, wie dieses Wesen durch die Mauern fortgeschwommen ist. Es konnte durch Mauern schwimmen! Und mir ist nur noch diese verdammte Mütze geblieben! Und heute Nacht habe ich John Bear gesehen. Das heißt, eigentlich Bears Geist. Er ist durch den Ziegelbruch gewandert, hat mich angesehen und gesagt: ›Behalte die Mütze.‹ Dann ist er verschwunden. Er hat mir die Mütze vermacht. Aber das ist wie ein Fluch …«
Obwohl er sich die Mütze vor den Mund hielt, konnte ich hören, wie er schluchzte. Seine Schultern zuckten.
»Es hat nichts mit der Mütze zu tun, Grass. Glaub mir, die Mütze hat die beiden nicht umgebracht«, versicherte ihm Quinton. »Und Bear würde niemanden verfluchen. Er wollte nur sichergehen, dass die richtigen Leute seine Sachen bekommen. Du weißt doch, wie Bear war.«
Tall Grass hob zitternd den Kopf. Er sah uns nicht an, schien aber trotzdem mit uns zu sprechen. Er stotterte immer wieder, wenn er tief Atem holte. »Der Z... Der Zeqwa hat sie geholt …«
»Wir wissen, was es war. Und wir wollen den Zeqwa finden. Wir wollen herausfinden, warum er gekommen ist.«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Grass erregt. »Falls jemand dem Monster befohlen hat, Jenny zu holen, reiße ich ihm den Kopf ab.«
»Wir finden es heraus. Du solltest heute Nacht unbedingt in der Nähe eines Feuers schlafen, Grass. Aber bloß nicht unten im Ziegelbruch. Am besten schläfst du gar nicht mehr in dieser Gegend. Hast du mich verstanden?«
Tall Grass nickte mutlos. Seine Trauer und seine Wut hatten ihn ganz benommen gemacht. Wir gingen gemeinsam mit ihm zum Occidental Park und ließen ihn dort in der Obhut von Sandy zurück. Dann machten wir uns auf den Weg, um das Gitter zu finden, durch das man angeblich unter den Pioneer Square gelangen konnte.
»Wie ist er bloß auf die Idee gekommen?«, fragte ich Quinton. »Ich meine, dass jemand das Monster geschickt haben könnte?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht glaubt er, dass Jenny gejagt wurde.«
Ich runzelte die Stirn und dachte schweigend nach.
Wir entdeckten das Gitter, das locker über einem Loch in der Gasse zwischen dem Seattle Mystery Bookshop und dem hinteren Teil des Pioneer-Building lag. Ein Stahlrahmen und zwei Angeln zeigten, wo es früher einmal befestigt gewesen sein musste. Doch irgendjemand hatte es aus seinem Rahmen gerissen, und nun lag es nur noch lose da. Im Grau war der Ort von einem kalten silbernen Nebel überzogen. Das Energienetz glühte neonrot und gelb. Keine angenehme Mischung.
Quinton schaute sich um, als ob er sich nicht sicher wäre, wo wir uns befanden. »Ich hatte keine Ahnung, dass man auch hier in den Untergrund gelangen kann.«
»Ich auch nicht.« Ich hob das Gitter hoch. Darunter befand sich ein außergewöhnlich schmaler Schacht, der zu einem Tunnel führte. Dieser machte eine scharfe Kurve nach Westen, sodass man dort tatsächlich unter das Pioneer-Building gelangte. Auf einmal standen wir vor zwei schmalen Stahltüren, hinter denen eine steile Metalltreppe weiter nach unten führte. Langsam stiegen wir sie im Licht von Quintons Taschenlampe hinunter.
Die schmale Treppe schien ursprünglich einmal Bediensteten oder Arbeitern als Zugang zum Pioneer-Building gedient zu haben. Offenbar wurde die ganze Gegend irgendwann umgebaut und dadurch der Originalzugang verschlossen. Leider war es mir nicht möglich, die ineinander verwobenen Zeitschichten im Grau getrennt zu betrachten, um zu erfahren, was sich an dieser Stelle früher einmal befunden hatte. Im Grau herrschte hier ein völliges Chaos, als ob Zeit und Raum noch immer von einem magischen Erdbeben erschüttert würden.
Am Fuß der Treppe befand sich ein kurzer Korridor, der meiner Meinung nach unter den Bürgersteig vor dem Pioneer-Building führte. Er endete abrupt an einer Wand.
»Sackgasse«, sagte ich. Aber irgendetwas stimmte mit dieser Wand nicht …
Ich schob die normale Welt von mir und betrachtete die Wand im Grau. Je tiefer ich eindrang, desto stärker verwandelte sich die Mauer in eine schwarze Masse, die von roten und gelben Energiefäden sowie Fetzen blassen Nebels durchzogen war. Ich ging in die Hocke und betrachtete die sich sanft schlängelnden Fäden. Je mehr ich mich ihnen näherte, desto stärker konnte ich die schwache Brise spüren, die sie in Bewegung versetzte. Ich roch Alter, Schlamm, Salzwasser und Fäulnis. Die Fäden hatten nicht nur eine graue Farbe – nein, sie bestanden aus dem Grau. Ich griff in das Netz, das sie bildeten, und zog es so vorsichtig wie möglich auseinander.
Durch die Mauer war ein Loch gefressen worden, hinter dem sich ein schmaler Tunnel öffnete. Als ich mich Quinton zuwandte, sah dieser eher wie eine Säule aus Wasserdampf aus, durchzogen von grell leuchtenden Energiesträngen, und nicht wie ein Mensch.
»Sieht so aus, als wäre es an der Zeit, die Sache anzugehen«, sagte ich.
Quinton wirkte nervös. Seine Augen wanderten von einem Punkt über meinem Kopf zu dem Loch in der Wand, das von den grauen Fäden verdeckt gewesen war. Mir wurde klar, dass er an die Stelle blickte, wo sich mein Kopf befunden hätte, wenn ich noch gestanden hätte. Offensichtlich konnte er mich im Zwielicht kaum sehen und hatte nicht bemerkt, dass ich in die Hocke gegangen war. Ich befand mich so nahe am Energiegeflecht des Grau, dass ich ihn auch nicht wie sonst sah. Ob uns wohl die Geister auf diese Weise wahrnahmen? Ich bezweifelte es eigentlich, da die meisten sich nicht so nahe am Energienetz aufhielten, wie ich das nun tat.
Ich kehrte in die Welt zurück, die ich normalerweise sah – die Welt von Quinton und mir, die doch stets durchzogen war von einem Nebel, von Energiefäden, Geistern und Strömungen aus Zeit und Erinnerung.
Quinton zuckte zusammen, als ich wieder auftauchte. Er starrte mich an. »Wo warst du?«
»Nicht weit. Nur weit genug, um das hier zu entdecken«, sagte ich und zeigte auf das Loch. »Möchtest du sehen, was sich am anderen Ende des Tunnels befindet?«
»Ja und nein. Irgendwie sieht es ziemlich unheimlich aus.«
»Ich kann auch nicht behaupten, dass ich darauf brenne, da hinunterzusteigen. Aber Lass meinte, dass er da unten eine Schlange gesehen hätte, und die Tarnung besteht aus dem gleichen Material, das ich bereits im Zugtunnel entdeckt habe.«
Quinton setzte seinen Hut ab, rollte ihn zusammen und steckte ihn in die Tasche. Dann begann er in das Loch zu klettern.
»Hey«, flüsterte ich. Der Ort wirkte bedrückend. Allein die Vorstellung, die Mauer anfassen zu müssen, ängstigte mich ein wenig. Ich wollte außerdem nicht, dass meinem Begleiter etwas zustieß. »Ich kann in dieser Welt besser sehen. Ich sollte vorangehen.« Ich wollte zwar nicht als Erste in den Tunnel, aber es blieb mir nichts anderes übrig. Falls am anderen Ende ein übernatürliches Wesen auf uns wartete, hatte ich bessere Chancen, es zu sehen, als Quinton.
Ich kroch also als Erste in das Loch, wobei sich sowohl meine Schulter als auch mein Knie empört meldeten. Mit einem tiefen Atemzug robbte ich auf den silberfarbenen Glanz am Ende des Tunnels zu. Ich spürte, wie mich die Schwaden des Grau berührten, während ich Quinton deutlich hinter mir atmen hörte.
Der grob angefertigte Tunnel war für uns beide breit genug, um mühelos hindurchzukommen. Aber die düstere Feuchtigkeit und der Geruch nach Brackwasser gaben unserem Abenteuer einen besonders unheimlichen Anstrich. Wir schienen durch die Eingeweide der Erde zu kriechen. Ich hörte das sanfte Schlagen des Wassers, das vor uns lag. Ein Echo erfüllte immer wieder den Tunnel, als ob wir uns einem unterirdischen Schwimmbad näherten. Ein leises Stöhnen wie ein ferner Wind ertönte. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, der nichts mit der Kälte zu tun hatte, die uns umgab.
Auf Kniehöhe konnte ich vor mir eine klare Linie erkennen. Es war nur ein winziger Teil grellgelber Energie, die sich aus der Schwärze des Tunnels im Grau abhob. Ich tastete mich mit einer Hand langsam vorwärts und prüfte vorsichtig den Boden aus Geröll, Schmutz und Betonbrocken. Endlich erreichte meine Hand eine glatte Oberfläche, die abrupt in einer scharfen Kante endete. Als ich nach unten griff, berührte ich eine weitere glatte Oberfläche und eine weitere Ebene … Stufen.
Mühsam rappelte ich mich auf, bis ich am Rand der ersten Stufe zu sitzen kam. Meine Stiefel berührten mit einem leisen Plätschern das Wasser.
Ich drehte mich zu Quinton um und flüsterte: »Da unten liegt ein Raum. Dem Echo nach ist er groß und der Boden mit Wasser bedeckt. Vielleicht bewegt sich dort etwas, aber ich bin mir noch nicht sicher.«
»Ich bin direkt hinter dir.«
Ich glitt nach unten, wobei ich so vorsichtig wie möglich meine Füße auf den glitschigen Boden setzte. Zu meiner Überraschung stand das Wasser so hoch, dass es oben in meine Stiefel floss. Irgendetwas gab ein Geräusch von sich und verschwand dann zu meiner Rechten. Als ich in die Tiefen des Grau blickte, schien sich der Raum durch Geister und flackernde Energiefäden zu erhellen.
Der Boden unter dem Wasser zeigte wundersame, geometrische Muster aus buntem Marmor und Steinen. Die Wände waren aus weißem Marmor, der mit rosafarbenen und goldenen Adern durchzogen war. Es war mehr als ein Raum. Es handelte sich vielmehr um zahlreiche Zimmer und Korridore, von denen überall glänzende Holztüren abgingen. Die Überreste eines alten Eichenstuhls schaukelten leicht im tieferen Wasser auf der anderen Seite des Raums. Das Wesen, das vorher Laute von sich gegeben hatte, taumelte plötzlich auf mich zu, und ich stieß vor Schreck einen leisen Schrei aus.
Es war ein Zombie. Bevor er näher kommen konnte, schaute ich mich hastig um. Ich wollte sehen, ob sich Sisiutl in der Nähe aufhielt, aber die Wasseroberfläche lag ruhig da. Eine Seeschlange zeigte sich nirgendwo. Also hastete ich weiter ins Wasser, bis es mir zu den Schenkeln stand. Auch wenn ich mich ekelte, blieb mir nichts anderes übrig, als unter die Oberfläche des abgestanden riechenden Sees zu tauchen.
Ich sah undeutlich, dass der Marmorboden hier zum großen Teil verschwunden war. Offensichtlich konnte das Wasser bei Flut durch die Risse eindringen, die sich über die Jahre hinweg gebildet haben mussten. Ein Teil des Bodens war mit einem gewaltigen Zementblock bedeckt. Wahrscheinlich handelte es sich um einen der Stabilisatoren, die man hier benutzt hatte, als man den Laubengang neu errichtete. Nirgendwo war Sisiutl zu entdecken. So sehr ich mich auch konzentrierte, war es mir nach einiger Zeit nicht mehr möglich, länger den Atem anzuhalten. Ich tauchte wieder auf und warf mein klatschnasses Haar zurück, während ich nach Luft keuchte.
Die unterirdische Toilette, in der wir uns befanden, war von Netzen aus Sisiutls grauem Material umspannt. Dasselbe galt für die früher einmal menschliche Kreatur, die sich mit uns hier unten aufhielt. Überall, wo die weichen grauen Fäden hingen, konnte ich die Formen und Farben der Oberflächen darunter kaum noch erkennen.
So ließ sich zwar der Schimmer eines früheren Lebens des Toten unter dem grauen Netz, das seinen Körper vor dem Zusammenfall bewahrte, erahnen, aber tiefer reichte mein Blick nicht. Die Feuchtigkeit hier unten hatte seine Haut bereits zersetzt. Seine Beine waren so lange dem Wasser ausgesetzt gewesen, dass sie aufgeschwemmt und weich waren. Der Rest des Körpers war schlaff, und die Haut hatte eine dunkle Farbe angenommen. Jetzt wusste ich, dass der faule Geruch, den ich bereits im Tunnel gerochen hatte, von dem Zombie stammte. In der normalen Welt konnte ich nicht viel mehr als seine Gestalt ausmachen. Sein Gesicht war nicht zu sehen. Aber es war trotzdem klar, dass dieser Zombie erst vor kürzerer Zeit gestorben war als der erste, dem ich begegnet war.
»Quinton«, flüsterte ich heiser. »Hier ist ein Zombie. Ich brauche Licht.«
Quinton zögerte keine Sekunde, sondern watete, so schnell er konnte, durch das Wasser zu mir. Als er neben mir stand, schaltete er seine Taschenlampe ein und suchte mit dem Strahl nach dem untoten Wesen.
Als er es fand, hielt er entsetzt den Atem an. Für einen Moment geriet er ins Wanken. »Oh mein Gott, das ist Felix. Er verschwand als Letzter, ehe Go-Kart und Jenny umgebracht wurden.«
»Wenn Si… Wenn das Monster Felix hatte, verstehe ich nicht, warum es auch noch die beiden umgebracht hat«, sagte ich.
»Ich habe auch keine Ahnung. Vielleicht … Mein Gott, das wäre ja schrecklich … Aber vielleicht hebt Sistu sie sich ja als Zwischenmahlzeit auf. Vielleicht ist er wie ein Alligator, der sein Fressen auch lieber etwas … etwas abgehangen genießt.«
»Die anderen hat er aber gar nicht gefressen«, gab ich zu bedenken. Ich dachte nach. »Er hat sie einfach nur getötet und ihre Leichen dann zurückgelassen.«
Felix’ toter Körper stolperte auf uns zu. Er gab erneut einen seltsamen Laut von sich. Ich hatte das Gefühl, kurz vor einer Erkenntnis zu stehen, als der Zombie einen lauten Schrei ausstieß und auf die Knie fiel. Er hatte sich in dem Gewirr aus grauen Fäden und Schlamm verheddert, das den überfluteten Boden bedeckte.
Quintons Lichtstrahl fing an zu wackeln. Für einen Moment war der Zombie nicht mehr zu sehen. »Harper! Bitte tu endlich was!«
Ich zögerte. Es widerstrebte mir, noch einmal vor einem Mann, den ich mochte, einen Zombie auseinanderzunehmen. Der letzte hatte den Anblick nicht gerade gut aufgenommen.
»Richte das Licht wieder auf ihn«, befahl ich nach einem Augenblick harsch. »Ich kann sonst nicht sehen, was ich tun muss.«
Quinton tat, wie ich ihm geheißen hatte. Der Leichnam versuchte noch immer, sich zu befreien. Ich trat zu ihm und ging vor ihm in die Hocke. Mit großem Widerwillen streckte ich die Hand aus, um die Überreste des Mannes zu berühren. Sie fühlten sich zwar weich, aber auch noch überraschend fest an. Selbst mit Hilfe des Lichts konnte ich nicht erkennen, wie ich die Lebensfäden lösen sollte, die in seinem Inneren gefangen waren. Schließlich wollte ich die erbarmungswürdige Kreatur nicht mit meinem Taschenmesser zerschneiden. Alleine die Vorstellung daran ekelte mich derart, dass ich angewidert würgen musste.
»Es muss eine Möglichkeit geben«, murmelte ich. Das eisige Wasser, das meine bereits angeschlagenen Gelenke noch mehr schmerzen ließ, jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Ich betrachtete den Zombie und stand dann wieder auf.
Das tote Wesen lag erschöpft auf dem Boden und lehnte sich mit dem Oberkörper gegen eine Wand. Es war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen oder Laute auszusto ßen. An den Stellen, wo es das Netz aus grauen Fäden berührte, schien es fast in der Wand zu verschwinden. Das merkwürdig neutrale graue Material musste also sowohl eine Art von Tarnung als auch eine Art von Fessel darstellen. Oder war Letzteres nur ein zufälliges Nebenprodukt?
Je eingehender ich die Netze betrachtete, desto wahrscheinlicher kam mir meine zweite Überlegung vor. Die grauen Fäden dienten Sisiutl als Tarnung. Wahrscheinlich verbarg er sich auch selbst in seinem Netz und konnte auf diese Weise scheinbar seine Gestalt verändern, wenn er durch Zeiten und Räume glitt. Er war schließlich klug genug, um auch den Zugang zu diesem Ort mit seinen Fäden zu bedecken.
»Das hier ist seine Höhle«, sagte ich.
»Was?«, fragte Quinton ungläubig.
»Diese Fäden …«
Er unterbrach mich. »Welche Fäden?«
»Dieser magische Stoff, den ich bisher an allen Orten gefunden habe, wo Sistu gewesen sein muss. Ich habe dir doch davon erzählt. Hier sind die Fäden überall, und der arme Kerl ist auch davon bedeckt. Deshalb glaube ich, dass wir uns in seiner Höhle befinden. Sistu verdeckt sie mit seinem Netz. Deshalb konntest du das Loch nicht erkennen, bis ich das Netz weggerissen habe. Und wie gesagt – auch Felix ist völlig darin verstrickt. Ich vermute, dass sein Geist deshalb nicht fortkann. Die magischen Fäden halten die Energie in seinem toten Körper gefangen.«
»Worauf wartest du dann noch? Befreie ihn doch endlich davon!«
Ich hatte zwar keine Lust, bei dieser Prozedur wieder einen Zuschauer zu haben, aber mir blieb nichts anderes übrig. Schließlich wussten wir nicht, wann Sisiutl zurückkehren würde, um seine Mahlzeit zu verspeisen. Allein die Vorstellung, Felix zurückzulassen, damit er dann durch die Zähne des Monsters aus dem Gefängnis seines verwesenden Körpers befreit wurde, trieb mich an.
»Mist, Mist, Mist«, murmelte ich. Das kalte Wasser ließ mich erneut zittern. Ich musste die Fäden von dem Zombie lösen, um einen besseren Blick auf seine eigenen Energiestränge werfen zu können. Als ich versuchte, sie mit meinen Händen beiseitezuziehen, stellte ich allerdings fest, dass das Netz dicht gewoben war und sich nicht so leicht auseinanderreißen ließ. Das Material schien diesmal geknotet und nicht wie die Fäden einer Spinne gesponnen worden zu sein. Ich musste die Knoten also entweder lösen oder eine Möglichkeit finden, sie zu durchtrennen.
Für einen Moment überlegte ich fieberhaft, was ich tun konnte.
Knoten … Da war doch was …
Plötzlich fiel mir wieder Ella Grahams Feder ein. Sie hatte behauptet, dass mir die Feder helfen würde, die Toten zu öffnen … Nein, sie hatte sogar gesagt, dass ich mit Hilfe der Feder die Knoten toter Dinge lösen könne!
Die alte Frau hatte die Weltwirtschaftskrise durchlebt und den Zweiten Weltkrieg überstanden. Sie hatte schon früh lernen müssen, was es bedeutete, mit wenig zurechtzukommen. Wahrscheinlich hatte sie neue Kleidung und andere Dinge aus alten Stücken fabriziert, indem sie mit einer Nadel geduldig die alten Stoffe aufgetrennt hatte. Vielleicht musste also auch ich die Fasanenfeder dazu benutzen, die Knoten in Sisiutls Falle zu lösen? Fasanen richten stets ein Auge auf den Tod und eines auf das Leben. Besaß die Feder also tatsächlich eine Affinität zum Grau, wie Ella Graham das angedeutet hatte? Es war zwar eine verrückte Idee, aber war nicht auch das Grau unvorstellbar? Manchmal funktionierte schließlich genau das, was auf den ersten Blick verrückt wirkt.
Ich hatte die Feder noch immer in meiner Jackentasche und zog sie jetzt heraus. Sie war etwas geknickt und nass geworden, schien aber ansonsten noch in Ordnung zu sein. Obwohl ich mich idiotisch fühlte, hielt ich sie mit zwei Fingern an ihrem Kiel fest und strich dann mit der weichen Seite über den Kopf des Zombies.
Das graue Netz lockerte sich ein wenig. Ich strich erneut darüber. Nun gingen die Fäden auf und fielen ab. Die Säume des Gewebes lösten sich fast wie Laufmaschen in einem Nylonstrumpf. Immer wieder strich ich darüber, bis das Netz völlig lose war. Dann zog ich die letzten Fäden mit der Hand beiseite. Der Körper des Untoten wurde nun weicher und schlaffer. Das Netz blieb an manchen Stellen jedoch noch immer so fest, dass ich es nicht abziehen konnte.
Quintons Lichtstrahl zitterte. »Ich glaube …«, begann er heiser.
Von Ferne war Wasserrauschen zu hören.
»Ich glaube, irgendetwas nähert sich …«
Schnell, schnell …
Für einen Moment befürchtete ich, mein Gehirn würde versagen. Ich musste die Sache beenden und so schnell wie möglich aus diesem Wasser kommen, ehe ich mich völlig verkühlte. Allerdings schien die Feder plötzlich nicht mehr zu funktionieren. Mein Herz pochte wild, und ich begann trotz der Kälte zu schwitzen.
Falls uns irgendwelche Götter zusahen, konnte ich nur hoffen, dass sie auf unserer Seite waren. Verzweifelt drehte ich die Feder um. Ich hoffte, dass sie auch so magische Fähigkeiten aufwies. Hastig fuhr ich mit dem Kiel über Felix’ zusammengesackte Gestalt, bis die winzigen Risse in der Spitze einen dünnen gelben Energiestrang aufnahmen. Ich unterdrückte die aufsteigende Panik und zog den Strang zu mir heran. Eine Schlinge aus Energie löste sich aus dem Körper. Ich fuhr mit dem kleinen Finger meiner freien Hand hinein. Dann zog ich langsam daran, um den Knoten im Inneren des Zombies zu entwirren.
Der Strang löste sich. Für einen Moment wankte ich gefährlich, als die heiße gelbe Knotensträhne aus Felix’ gefangenem Geist mit rasender Geschwindigkeit seinen Körper verließ. Es gab einen seltsam dumpfen Knall, und dann fiel die Leiche wie knochenlos und schlaff zu Boden.
Ein weißer Strahl schoss aus ihr heraus und tauchte den Raum für einen Moment in ein gedämpftes Licht.
Das Rauschen hörte auf, und etwas zischte. Dann ertönte ein lautes Brüllen. Ein Geräusch wie ein Hagelsturm aus Schuppen, die auf Steine prasselten, erhob sich.
Ich warf einen letzten Blick auf den Verwesenden zu meinen Füßen. Felix war nun endgültig gestorben und verschwunden. Zurück blieb nur tote Materie. Felix hatte seinen Körper für immer verlassen.
Quinton packte mich am Ellenbogen und riss mich hoch. Mein Knie protestierte mit einem Knirschen, das ich in allen Gliedern spürte.
»Los!«, brüllte er und zerrte mich zu dem Loch in der Wand, durch das wir hereingekommen waren.
Ein riesiger Kopf mit zwei Hörnern wie bei einer japanischen Kriegermaske schob sich durch die Öffnung. Er brüllte und züngelte mit seiner gespaltenen Zunge, die so lang war wie ich groß. Das schreckliche Geräusch erschütterte mich bis ins Mark. Wir wichen angsterfüllt zurück. Adrenalin begann nun mein träge gewordenes Blut wieder aufzuheizen.
»Andere Seite!«, rief ich und riss Quinton in einem rechten Winkel zu dem Monsterkopf zur Seite. Der Kopf schob sich immer weiter in den Raum hinein. Der Hals, auf dem er saß, war so dick und struppig wie der Stamm einer uralten Zeder. Ein Maul voll scharf aussehender Zähne schnappte nach uns, erwischte jedoch nur noch Luft.
Wir rannten durch die unterirdischen Toiletten und versuchten dabei, das tiefe Wasser am westlichen Ende zu vermeiden. Doch jede Tür, die früher einmal von hier aus ins Freie geführt hatte, war schon vor langer Zeit unter Tonnen von Zement begraben worden. Schon bald wussten wir nicht mehr, wohin.
»Es gibt keinen anderen Ausgang!«, brüllte Quinton verzweifelt.
»Wir können nicht raus, solange das Monster im Tunnel ist. Versuchen wir also, ihm auszuweichen. Sobald der Tunnel frei ist, stürzen wir uns darauf«, antwortete ich keuchend und zog ihn mit mir in eine marmorne Toilettenkabine.
Das tosende Geräusch, das die Kreatur von sich gab, als sie in den Raum glitt, wurde schwächer. Wir konnten deutlich das Spritzen von Wasser in der Nähe von Felix’ Leiche hören. Dann brüllte das Monster etwas auf Lushootseed, was ich nicht verstand. Vorsichtig spähten wir aus der Kabine.
Am anderen Ende des Raums schlängelte sich Sisiutl durch das Wasser. Er schimmerte im Grau und musste etwa neun Meter lang und dicker als die Totempfähle drau ßen sein. Seine Gestalt verwandelte sich ständig von einem Schlangenwesen in ein anderes. Einmal glich er Medusas Schlangenhaaren, ein anderes Mal sah er wie aus ein Drache und dann wieder wie ein Zerberus mit drei gewaltigen Köpfen auf schlangenartigen Hälsen.
Plötzlich bewegte er sich ruckartig, stieß einen zischenden Laut aus, und ein monströser Schlangenkopf tauchte mit einem lauten Spritzen aus dem Wasser auf. Er sah in unsere Richtung. Seine geschwungenen Hörner und das von Rillen durchzogene Gewebe hinter seinem Kiefer waren klar zu erkennen. Die gespaltene Zunge, die uns zuvor beinahe berührt hatte, kam wieder herausgeschossen, und die Schlange zischte. Ein weiterer sich ständig verwandelnder Schlangenkopf erhob sich aus dem Wasser. Die riesige Kreatur nahm eine feste Schlangengestalt an – eine Gestalt, die sich in beiden Welten zugleich aufhielt. Dann ringelte sie sich in ein W. Eine dröhnende Stimme erfüllte den Raum. Sie kam aus dem mittleren menschlichen Kopf, während sich der Körper mit wahnwitziger Geschwindigkeit auf uns zubewegte.
»Rur! Dieb! Ladro! Vohr!«, röhrte das Monster und begann erneut seine Gestalt zu verändern.
»Licht!«, befahl ich Quinton. »Vielleicht können wir ihn kurzfristig blenden!«
Quinton schaltete die Taschenlampe an und richtete den Lichtstrahl auf das Ungeheuer. Jetzt sahen wir das fürchterliche Gesicht mit den tropfenden Fangzähnen und dem fleischigen Haar, das um seinen breiten Mund wuchs. Die Schlangenköpfe an beiden Seiten zischten und spuckten vor Wut, während das mittlere Gesicht für einen Moment vor dem Licht zu erschrecken schien. Zwei klauenartige Hände legten sich über die geblendeten Augen. Eine Schimpftirade in einer Kakophonie aus Sprachen ergoss sich über uns, als wir an dem Monster vorbeirannten.
Einer der Schlangenköpfe holte aus und versuchte uns zu fassen. Ich zerrte ein Stück Grau zwischen uns, wobei meine Schulter die rasche Bewegung fast nicht mitmachte. Der Kopf durchbrach den Schild, ließ aber nur ein scharfes Zischen vernehmen und zog sich dann wieder zurück. Er zitterte, als ob er nicht wüsste, wie ihm geschehen war.
Das Loch befand sich nur wenige Meter von Sisiutls Leib entfernt. Ich trieb Quinton vor mir her. Im selben Moment tauchte der nächste Kopf auf und schnappte mit einem Maul voll nadelartiger Zähne nach uns. An den Seiten blitzten die gifttropfenden Fangzähne. Ich zeigte der Schlange die Fasanenfeder und hoffte, dass sie auch hier etwas bewirken konnte. Das Wesen zog sich zurück, und seine zahlreichen Gestalten schienen nun wie eine flirrende Fata Morgana über seinem Körper zu schweben. Dann kehrten sie alle zu Sisiutl zurück, und der Kopf blickte sich verwirrt um. Das menschliche Gesicht mit dem lippenlosen Mund hörte jedoch nicht auf zu brüllen, während der gewaltige Körper wieder in Bewegung kam, um uns zu stellen.
Quinton hechtete als Erster in das Loch, während ich meine Pistole zog. Sollte die Feder doch plötzlich ihre magischen Kräfte verlieren, war ich gewillt, alles zu versuchen. Als ich die Waffe entsicherte, hallte das Klicken im ganzen Raum wider.
Hastig kletterte ich ebenfalls in den Tunnel. Als der erste Schlangenkopf hinter mir auftauchte, feuerte ich auf sein Auge. In der Hitze des Gefechts traf ich zwar nicht die Pupille, aber die Kugel schlug zumindest in die Nase ein. Das menschliche Gesicht stieß einen Schmerzensschrei aus, und die Kreatur zuckte zurück. Ich achtete nicht auf meine schmerzenden Glieder, sondern versuchte Quinton zu folgen. Sisiutl schrie weiter und warf sich zornig mit aller Wucht gegen das Loch. Die Mauern bebten. Offensichtlich hatte ihn mein Schuss nur wütend gemacht. Doch zumindest hatte ich dadurch einige Sekunden Vorsprung gewonnen.
So schnell ich konnte, kroch ich den Tunnel hinauf und riss mir dabei Schultern, Knie und Hände an der rauen Oberfläche auf. Wieder hörte ich das Prasseln der Schuppen und das wütende Zischen der Schlangenköpfe. Sisiutl glitt in den Tunnel.
»Er ist mir auf den Fersen!«, rief ich Quinton zu. Das Adrenalin durchflutete meinen ganzen Körper. »Klettere in die Gasse hoch und warte dort auf mich!«
Fangzähne schnappten nach meinen Stiefeln, und ich trat wie eine Wahnsinnige nach hinten aus.
Vor mir rannte Quinton die Metalltreppe hinauf und stieß die Stahltüren auf.
Ich wand mich aus dem Tunnel in den offenen Raum am Fuß der Treppe. Dort rollte ich auf den Rücken, die Waffe noch immer gezückt. Ein Schlangenkopf schoss aus dem Loch. Ich versetzte ihm einen harten Tritt.
Der Kopf zog sich für einen Moment zurück und kam dann wieder herausgeschossen. Diesmal traf ihn ein Kugelhagel, denn ich feuerte, so schnell ich konnte. Kreischend wich er erneut zurück. Ich sprang auf und rannte die Treppe hinauf. Oben warf ich die Tür hinter mir ins Schloss, als der blutende Kopf aus dem Loch schnellte.
Quinton packte mich an der Hand, und wir rannten den schmalen Tunnel bis zum Schacht unter der Gasse. Meine Schultern schmerzten unerträglich, und mein krankes Knie brachte mich ins Stolpern. Quinton hielt mich gerade noch fest und zerrte mich mit sich.
Da er meine Hand hielt, konnte ich die Waffe nicht nachladen. Allerdings war ich mir auch nicht sicher, ob es überhaupt sinnvoll war, auf Sisiutl zu schießen. Die Kugeln schienen ihn zwar zu erschrecken, aber mehr bewirkten sie offenbar nicht.
Wir kletterten aus dem Schacht in die Gasse und knallten das Gitter auf das Loch. Hinter uns konnten wir deutlich das Monster hören, wie es blitzschnell heranglitt. Noch immer pumpte die Furcht Adrenalin durch meine Glieder, sodass ich meine klatschnasse Kleidung kaum bemerkte, als wir aus der Gasse auf die Straße rannten.
»Er ist verdammt schnell«, keuchte Quinton.
»Dann lauf schneller!«
Wir hasteten zum Pioneer Square und dann den Yesler Way entlang. »Wir dürfen uns nicht in die Gassen drängen lassen«, rief Quinton. »Die scheint er nicht zu verlassen. Wenn wir es schaffen, ihn in die Sackgasse der Post Avenue beim Federal Office Building zu locken, können wir ihm vielleicht entkommen.«
Wir rannten an der Post Avenue vorbei und bogen in die Western Avenue ein, um die hohen, alten Lagerhäuser zwischen uns und Sisiutl zu haben. Mein Knie protestierte inzwischen bei jedem Schritt, aber ich zwang mich dazu, weder langsamer zu werden noch zu hinken. Quinton kam noch schlechter voran als ich, denn er sah sich immer wieder panisch nach Sisiutl um – etwas, das ich nicht tun musste. Das laute Brüllen und Zischen des Zeqwa drang mir wie Verkehrslärm in die Ohren. Ich konnte sein wütendes Murmeln hören, wie er Worte in Dutzenden von Sprachen ausspuckte.
Wir hatten inzwischen eine Entfernung von etwa einem Block zwischen uns und das Ungeheuer gebracht, da Sisiutl ausweichen musste, um nicht gesehen zu werden, während wir geradeaus rennen konnten.
Meine Lungen stachen, und ich spürte, wie vereist der Boden in diesem Teil der Straße war. Sisiutl blieb tatsächlich in der Post Avenue, wie wir es gehofft hatten. Aber würde es uns auch gelingen, unseren Vorsprung zu halten und das Monster in der Marion Street endlich loszuwerden?
Wir rasten aus der engen Western Avenue an der Ecke der Marion Street zu dem offenen Platz hinter dem Federal Office Building. Sisiutl stieß einen frustrierten Schrei aus, und der Boden bebte, als er am Ende der Sackgasse gegen die Mauer des Gebäudes knallte. Quinton hielt mich noch immer am Handgelenk fest.
»Er wird es vermeiden, auf den Platz herauszukommen. Er wird bestimmt in die Kanäle abtauchen.«
»Dann muss er Richtung Bucht«, keuchte ich.
»Stimmt«, erwiderte Quinton und riss mich die Madison Street auf der anderen Seite des Gebäudes entlang. Dann drängte er mich links in die Post Alley, wo wir einen Block weit ohne Pause rannten.
»Sind wir ihn los?«, fragte Quinton atemlos.
Ich konnte Sisiutls Gebrüll zwar nicht mehr so deutlich hören wie vorher, aber verschwunden war er noch nicht. Seine wütenden Flüche schienen sich vielmehr unter der Straße zu nähern. »Nein, noch nicht«, erwiderte ich.
Quinton nickte und zog mich von der Post Alley auf die Spring Street, wo er mich zu der Tür unter dem Seiteneingang von McCormick & Schmick zerrte. Er achtete nicht darauf, ob uns jemand zusah, als er sie öffnete und mich hindurchschob. Hastig schloss er die Tür hinter uns, und dann rannten wir durch die Geisterschwaden unter der First Avenue bis zur letzten Mauer unter der Seneca Street. Es war die Holzwand zwischen Quintons Zuhause und dem restlichen Untergrund.
Quinton holte etwas aus seiner Tasche und richtete es auf die Wand. Diese setzte sich daraufhin langsam in Bewegung, während wir näher kamen. Er griff in ein Loch in der Holzkonstruktion und wuchtete seine Hintertür auf. Dann stieß er mich unsanft durch die Öffnung und folgte, ehe er die Tür hinter sich zuzog und sogleich mit mehreren Riegeln und Schlössern sicherte.
Mein Knie begann zu zittern. Quinton legte mir einen Arm um die Taille und zog mich an sich, während er sich gegen die Wand lehnte und auf seinen Monitor starrte.
Obwohl wir beide heftig keuchten, versuchten wir uns so leise wie möglich zu verhalten, um das Ungeheuer nicht auf uns aufmerksam zu machen. Quinton drückte mich zitternd an sich. Ich spitzte die Ohren und hielt den Blick starr auf das Grau gerichtet.
Das Brüllen und die vielsprachigen Flüche waren nur noch in der Ferne zu hören. Sie schienen sich Richtung Elliot Bay zu bewegen.
»Er kommt uns nicht nach«, flüsterte ich.
»Stimmt, sieht nicht so aus«, erwiderte Quinton und hörte auf, auf den Monitor zu starren. Stattdessen lehnte er den Kopf gegen die Wand. Sein Brustkorb hob und senkte sich. »Ich dachte schon, das war’s. Heiliger Strohsack …« Er sah mich an und schlang seine Arme um mich, als ob er nicht vorhätte, mich jemals wieder loszulassen. »Ich hatte Angst, er hätte dich erwischt. Ich dachte wirklich, dass dich dieses Ungeheuer fressen würde. Du hast mich ständig nur vorwärtsgeschoben, und ich habe angenommen, dass du dadurch zumindest mich retten willst!«
»Letztlich hast du mich gerettet. Wir wollen hier doch nichts verwechseln«, entgegnete ich. Mein Körper zitterte, was nicht nur vom Adrenalin und der Kälte kam. Es gibt Menschen, die es als Kick empfinden, ganz nah am Tod vorbeizuschrammen. Ich hatte bisher nicht dazu gehört. Doch diesmal fühlte ich mich für einen Moment wie neugeboren.
Quintons Augen wirkten auf einmal wie verschleiert, als er mich ansah. Sein Atem ging noch immer schnell. »Wollen wir nicht?«, fragte er und presste seine Lippen auf meine.
Ich schmiegte mich noch enger an ihn und erwiderte seinen Kuss. Ein heftiges Verlangen breitete sich zwischen uns aus, während mir eine leise Stimme Warnungen ins Ohr flüsterte. Hör auf, hör auf, hör auf …
»Hör auf«, keuchte ich und schob ihn von mir.
»Warum?«
Ich sah ihm in die Augen und hatte plötzlich schreckliche Angst, dort nicht den Seelenverwandten zu entdecken, nach dem ich mich sehnte. Doch meine Angst war unbegründet. Eine unendliche Erleichterung und Freude breitete sich in mir aus. Ich versuchte, nicht laut loszulachen. »Ich möchte diesmal nur sicher sein …«
»Ich war mir von dem Augenblick an sicher, als ich dich getroffen habe.«
Ein Feuerwerk aus pinkfarbenen und goldenen Sonnen entlud sich in seiner Aura. Meine Welt wurde von dem warmen Schimmer seiner Zuneigung und seines Verlangens erhellt. Ich lachte nun doch und küsste ihn. Dann begann ich ihm die nasse Kleidung abzustreifen, um endlich seinen warmen Körper zu spüren. Ich wollte ihn ganz nahe bei mir, ihn in mich aufnehmen, ihn in mir haben.
Wir kamen ins Wanken, als mein Knie auf einmal nachgab. Lachend fielen wir auf die schmale Matratze seines Betts und rissen uns gegenseitig die feuchten Kleider vom Leib. Die Stücke flogen in alle Richtungen, während wir uns bis zu unserer nackten Haut vorkämpften. Zuerst war unser Liebesspiel voll forderndem Verlangen. Wir waren beide unendlich erleichtert, noch am Leben zu sein, und besessen davon, den anderen zu spüren. Lachen und Stöhnen wechselten sich ab, als wir uns schließlich ineinander versenkten. Nach einem explosionsartigen Höhepunkt lagen wir einander erschöpft und verschwitzt in den Armen.
Nach einer Weile lösten wir uns voneinander und sahen uns an. Vor meinen Augen zeigten sich im Grau Bilder von funkelnden Fontänen und leuchtenden Glühwürmchen. Ehe ich jedoch zu lange darüber nachdenken konnte, stand ich auf, suchte Quintons Klamotten zusammen und warf sie ihm zu. Dann zog auch ich mich rasch an, wobei ich wie eine Irre grinste – auch wenn es mir schwer fiel, mein schmerzendes Knie zu ignorieren.
»Das müssen wir wiederholen. Bei mir«, sagte ich.
Quinton warf die nassen Klamotten auf einen Haufen und zog eine trockene Jeans aus einem Stapel Kleidung neben dem Bett. Er berührte mich an der Schulter, als ich an ihm vorbeiging. Sein schweißüberströmter Körper schimmerte im Grau golden und pinkfarben.
»Was?«, fragte er und schüttelte belustigt den Kopf.
Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Da fragst du noch? Ich will dich mit nach Hause nehmen und vernaschen, du Idiot.«
»Wann?«
»Jetzt!«
Es war mir egal, dass meine Kleidung nass, zerfetzt und schmutzig war, dass mein ganzer Körper schmerzte und dass die Fahrt bis nach West Seattle so lange dauerte, dass ich bis ins Mark zitterte. Quinton riss mir erneut das nasse Zeug vom Leib, sobald wir meine Wohnung betreten hatten. Seine Methode, mich zu wärmen, gefiel mir sehr. Die elektrische Spannung unseres Liebesspiels tauchte meine Welt in schwindelerregende Wirbel aus leuchtendem Pink und Gold, bis wir uns schließlich auf meinem zerwühlten Bett aneinanderschmiegten. Beide zitterten wir vor glücklicher Erschöpfung und fielen in einen tiefen, erholsamen Schlaf.