VIERZEHN
Die Sonne war schon lange untergegangen,
als wir Seattle erreichten. Der Asphalt wirkte glatter als zuvor.
Keiner sprach mehr ein Wort, bis wir den Rand des
Universitätsgeländes erreichten. Im kalten Licht der
Straßenlaternen erschien die Straße wie ein Tunnel durch ein
geheimnisvolles Land.
Als ich Fish vor seiner Haustür absetzte, schien er
sich wieder etwas beruhigt zu haben. Aber er war offensichtlich
noch immer damit beschäftigt, die Schläge zu verdauen, die sein
bisheriges Weltbild an diesem Tag abbekommen hatte. Eine weitere
Sicht auf die Realität, die ich aus dem Gleichgewicht gebracht
hatte … Ich konnte nur hoffen, dass Fish besser damit umgehen
konnte als Will. Wieder einmal dachte ich wehmütig an meine
zerbrochene Beziehung, während ich schweigend weiterfuhr.
Quinton hatte sich neben mich auf den Beifahrersitz
gesetzt, schien aber auch in Gedanken versunken zu sein.
»Was meinst du?«, fragte ich nach einer
Weile.
»In welcher Hinsicht?«
»Was dieses Monster betrifft.«
»Ich bin mir nicht sicher.«
»Verstehe. Und was ist mit den Besuchern, die mich
heute
Morgen beehrt haben? Glaubst du, wir sind noch immer nicht auf
ihrem Radarschirm?«
»Der Rover jedenfalls nicht. Was dein Büro und
deine Wohnung betrifft, weiß ich das nicht. Das hängt davon ab, ob
sie glauben, dass du etwas vor ihnen verheimlichst, und ob sie die
Möglichkeit haben, etwas dagegen zu unternehmen. Ich glaube aber,
sowohl ihre Zeit als auch ihre Ressourcen dürften ziemlich
beschränkt sein.«
»Woher willst du das wissen? Fern Laguire hat eher
den Eindruck vermittelt, als ob sie alles daransetzen würde, dich
zu finden.«
»Vielleicht will sie das«, stimmte Quinton ernst
zu. »Aber ich glaube kaum, dass die NSA bereit ist, sonderlich viel
Geld in den Fall zu stecken. Du kannst mir glauben – es sind vor
allem Fern Laguire und ihre wenigen Helfershelfer, die hinter uns
her sind. Sie hat offenbar das Bedürfnis, als Siegerin aus diesem
Kampf hervorzugehen. Bisher hat sie jedenfalls kläglich versagt.
Man will ihr wohl noch eine Chance geben, aber das war es dann
auch.«
»Was ist eigentlich zwischen dir und Fern Laguire
vorgefallen … J. J.?«
Er drehte sich zu mir um und sah mich an. »Ich
möchte gerade nicht darüber sprechen.«
»Das ist ja mal eine Abwechslung. Normalerweise bin
immer ich diejenige, die man beschuldigt, so verschlossen zu sein.
Von dir kenne …«
»Ich bin nicht dein verdammter Idiot von einem
Freund!«, unterbrach mich Quinton gereizt.
Ich fuhr den Wagen schnurstracks in die nächste
Lücke, die sich zufälligerweise auf dem Parkplatz des
Group-Health-Krankenhauses befand. Ohne nachzudenken bremste ich,
zog die Handbremse an und drehte mich zu
Quinton, um ihn anzubrüllen. Man kann nicht behaupten, dass ich
zurückhaltend bin, wenn mich die Wut einmal gepackt hat.
»Es geht dich zwar überhaupt nichts an«, schrie
ich, »aber er ist nicht mehr mein Freund!«
»Gut!«, brüllte Quinton zurück, riss die Tür auf
und sprang aus dem Wagen.
Ich schaltete den Motor aus und folgte ihm.
»Was soll das heißen?«, verlangte ich zu wissen,
nachdem ich ihn am Haupteingang zum Krankenhaus eingeholt
hatte.
Er zuckte so heftig mit den Schultern, als ob er
irgendetwas abschütteln müsste. Dann drehte er sich zu mir um. Sein
Strahlenkranz im Grau flackerte für einen Moment auf, ehe er sich
zu einer schwachen Linie aus rasch wandelnden Farben zusammenzog.
»Ich will damit nur sagen«, erklärte er mit betont ruhiger Stimme,
»dass du mit niemandem zusammen sein solltest, den du anlügen
musst.«
»Bin ich auch nicht.«
»Nein. Sieht so aus. Zumindest nicht mehr.« Er
wirkte ziemlich nervös. »Und warum nicht?«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus, der in der
kalten Luft eine weiße Wolke entstehen ließ. »Ich habe dir doch von
dem Zombie erzählt, der mir gebracht wurde.«
»Ja«, erwiderte Quinton und hüpfte von einem Fuß
auf den anderen, um nicht allzu sehr zu frieren.
»Na ja …« Es fiel mir wieder schwer, darüber zu
sprechen, wenn auch auf andere Weise als über das Energienetz im
Grau. »Will war dabei und ist ziemlich ausgerastet.«
»Kann ich eigentlich verstehen. Das wären wohl die
meisten.«
»Ja, wahrscheinlich. Ich musste den Zombie … Ich
musste ihn auseinandernehmen … Und diesen Anblick fand er wohl
ziemlich verstörend.«
Quinton sah mich an und zitterte, wobei ich mir
nicht sicher war, ob vor Kälte oder weil er sich vorstellte, was
ich gemacht hatte. »Aha … Das war sicher auch nicht angenehm. Hat
er … Äh …«
»Mich wie eine heiße Kartoffel fallen lassen? Ja,
hat er«, ergänzte ich den Satz und nickte. »Ich kann ihn sogar
irgendwie verstehen, aber es tut trotzdem weh. Wir haben es zwar
noch einmal versucht, aber … na ja. Du hast recht. Ich kann mit
niemandem zusammen sein, der es nicht aushält, wie ich bin, oder
nicht damit zurechtkommt, was ich mache. Ich will niemanden mehr
anlügen oder ihn vor der Wahrheit beschützen.«
»Es tut mir …«, stammelte Quinton und biss sich auf
die Unterlippe.
»Du musst nicht sagen, dass es dir leidtut. Es tut
dir doch gar nicht leid. Manchmal funktioniert eine Beziehung eben
nicht.« Ich konnte ihn nicht ansehen und blickte deshalb an ihm
vorbei ins Grau. Etwas Helles flammte dort auf. Doch als ich den
Kopf drehte, war es verschwunden. Quinton stand noch immer vor mir
und wirkte ein wenig zu strahlend und zu pink, um wirkliches
Bedauern zu empfinden.
Die Energie um ihn herum wurde noch pinkfarbener.
»Stimmt. Es tut mir nicht leid, dass es nicht funktioniert hat.«
Das Pink wurde schwächer. »Aber es wäre mir lieber gewesen, wenn es
nicht auf diese Weise passiert wäre. Mit Zombies und haarigen Wesen
und so …«
»Die sind noch immer da draußen unterwegs«,
erinnerte ich ihn, da ich dringend das Thema wechseln wollte.
Ich hatte keine Lust, noch länger über meine kaputte Beziehung zu
reden. »Selbst wenn wir annehmen, dass wir jetzt wissen, was dieses
Monster ist, haben wir noch immer keine Ahnung, wie wir es
aufhalten können oder warum es mordet.«
Eine kleine Gruppe grimmig dreinblickender Leute
trat durch die Krankenhaustür. Sie redeten gerade über eine
gestellte Diagnose und die Risiken einer Operation. Es war bereits
so dunkel, dass es schon wesentlich später zu sein schien als fünf
Uhr.
Quinton sah mich von der Seite an. »Hättest du
Lust, etwas essen zu gehen? Wir könnten uns dabei überlegen, wo wir
weitermachen wollen.«
Ich lächelte ihn ein wenig schief an.
»Gerne.«
Unser gemeinsames Abendessen war so unromantisch
wie nur irgend möglich: Hamburger im Kidd Valley, einem
Lokal gegenüber vom Krankenhaus. Aber das Essen war warm, und die
Fenster des Lokals hatten sich beschlagen, sodass man uns von
draußen kaum sehen konnte. Wir verzogen uns in die hinterste Ecke
des Diners.
»Meinst du wirklich, dass wir nach diesem Sisiutl
suchen sollten?«, fragte Quinton.
»Ja.« Ich seufzte. »Auch wenn ich mir etwas blöd
dabei vorkomme.«
»Verstehe. Am besten nennen wir ihn vorerst
allerdings wirklich Sistu. Selbst wenn er uns nicht hören kann, ist
es nie schlecht, einen falschen Namen zu benutzen.«
Ich stimmte ihm zu. »Wir müssen jedenfalls
herausfinden, wo er sich versteckt und was er vor hat. Ist er
einfach nur hungrig, oder geht es da noch um etwas anderes?«
»Am besten setzen wir an dem Punkt an, woher er
kommt«, schlug Quinton vor. »Ella Graham hat doch etwas
über eine Müllhalde gesagt. Stand in den Zeitungen, die du in der
Bibliothek durchgesehen hast, nicht auch irgendetwas über eine
Müllhalde?«
»Stimmt. Da ging es um eine Müllhalde südlich des
Zentrums.«
»Gut. Also etwa in der Gegend, wo sich jetzt die
Stadien befinden.«
»Und das Hotel errichtet wird. Glaubst du, das ist
derselbe Ort?«
»Könnte sein. Falls die Bauarbeiter aus Versehen zu
dem Ort vorgedrungen sind, wo Sistu wieder eingesperrt war, hätte
er leicht entkommen können. Dann hat er wahrscheinlich das erste
Lebewesen verschlungen, das ihm über den Weg gelaufen ist.«
»Und das war wahrscheinlich einer der
verschwundenen Obdachlosen.«
Quinton nickte. »Die Frage ist nur, ob er etwas
Bestimmtes im Schilde führt oder einfach nur auf gut Glück auf Jagd
geht. Momentan scheint es nur die Obdachlosen zu erwischen, die
sich unten im Ziegelbruch oder dort in der Nähe aufhalten. Der
Ziegelbruch ist nicht weit von dem Durchbruch entfernt. Aber Jenny
wurde wesentlich weiter nördlich gefunden. Er scheint also sein
Territorium in Richtung Pioneer Square auszuweiten, denn südlich
von den Stadien ist es meiner Meinung nach zu keinem Vorfall
gekommen.«
»Vielleicht hat es ja eine besondere Bewandtnis mit
dem Pioneer Square. Sistu scheint auch die nördliche Grenze an der
Cherry Street nicht zu überqueren. Oder vielleicht versteckt er
sich dort ja auch irgendwo.«
»Die meisten Todesfälle haben sich zwischen dem
Pioneer Square und dem Ziegelbruch ereignet. Der Occidental
Park bildet also sozusagen das Zentrum. Ich finde, wir sollten
dort beginnen.«
»Und was ist mit der Riesin, von der Grandma Ella
gesprochen hat? Sie ist sein Wächter, muss sich also auch in der
Nähe aufhalten. Ella meinte, dass Sistu zu … wie hieß sie noch
mal?«
»Zeqwa?«
»Nein … Das bedeutet Monster.« Ich dachte einen
Moment nach. »Kammits?«
Quintons Augen leuchteten auf. »Qamaits! Stimmt.
Ella meinte, dass Sistu 1949 zur Riesin zurückgebracht worden ist.
Sie ist seine Wächterin und wird ihn wohl so lange in seinem Tümpel
bewachen, bis sie einen Grund hat, ihn wieder freizulassen.«
»Zum Beispiel, wenn sie jemanden dafür bestrafen
will, dass er die Götter verärgert hat. So etwas Ähnliches hat doch
Grandma Ella erzählt, nicht wahr? Oder vielleicht auch, um jemandem
einen Gefallen zu erweisen.«
»Und die Bewohner des Untergrunds würden bestimmt
niemandem aus dem Weg gehen, nur weil er vielleicht etwas
unheimlich aussieht. Die meisten von ihnen sehen schließlich selbst
ziemlich unheimlich aus. Vermutlich würden sie auch einem Gott
keinen Drink verweigern«, sagte Quinton.
»Vermutlich nicht … Was meinst du? Hat jemand
Qamaits und Sistu aus der Baugrube geholfen und das Erste, was
Sistu getan hat, war es, denjenigen zu fressen, dessen Bein dort
gefunden wurde?«
»Klingt plausibel.«
»Aber selbst für eine menschenfressende Riesin
erscheint es mir doch ziemlich undankbar, seinem Haustier zu
erlauben, den eigenen Retter zu fressen.«
»Vielleicht konnte sie ihn ja auch nicht davon
abhalten. Ella Graham hat doch gemeint, dass Sistu ein geborener
Jäger ist …«
»Dann sieht es aber ganz so aus, als ob er sich
inzwischen nicht mehr mit Robben aufhalten würde. Er scheint sich
auf Menschen spezialisiert zu haben. Falls er allerdings aus einem
bestimmten Grund jagt, gibt es vielleicht ein Muster, dem er folgt
und das uns zeigen könnte, wen er umbringt. Wir müssen zum Anfang
dieser Serie von Todesfällen zurückkehren. Als Erstes sollten wir
herausfinden, wer in der Nacht bevor das Bein gefunden wurde auf
der Baustelle war. Falls die noch am Leben sind, sollten wir mit
ihnen sprechen.«
»Und mit Qamaits.«
Ich nickte. »Ja. Ich glaube, sie sollte recht
einfach zu finden sein. Schließlich ist auch sie ein sagenumwobenes
Monster und sieht deshalb wahrscheinlich wie Sistu für die einen so
und für die anderen ganz anders aus.«
»Für dich vermutlich ganz anders als für die
meisten«, fügte Quinton hinzu.
Ich schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich. Aber
leider weiß ich auch nicht, wie sie aussieht, und im Grau werfen
viele Menschen und Dinge seltsame Schatten. Sie könnte überall sein
und sich hinter jedem verbergen. Wir müssen sie finden und zudem
versuchen, mit jemandem zu sprechen, der beobachtet hat, wie Sistu
aus dem Loch gekrochen kam. Vielleicht finden wir ja jemanden, der
weiß, was das Monster vorhat, wen es jagt und warum.«
»Wir sollten lieber zum Pioneer Square, ehe es zu
spät wird und alle schon schlafen.«
»Es ist sowieso wahrscheinlicher, dass wir die
Informationen, nach denen wir suchen, von Leuten bekommen, die
nicht jede Nacht in einem der Heime unterkommen – solchen Leuten
wie zum Beispiel Tanker und Lass.«
»Oder auch Sandy. Sie ist sehr wachsam und verrückt
genug, öfter als die meisten anderen Frauen im Freien zu
schlafen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Dann muss sie wirklich
verrückt sein, um so etwas freiwillig zu machen.«
»Mehr als die Hälfte der Obdachlosen sind irgendwie
gestört. Das ist vermutlich ihre Art von Schutz.« Er leerte sein
Glas. »Gehen wir.«
Ich betrachtete den halben Burger, den ich nicht
hatte essen können, da er so groß war. Doch nach unserem Gespräch
über die Obdachlosen quälte mich das schlechte Gewissen, ihn
einfach wegzuwerfen.
Quinton sah mich an. »Wickle ihn doch ein«, schlug
er vor. »Du könntest ihn zumindest Bella mitbringen. Die würde sich
bestimmt freuen.«
Für einen Moment wusste ich nicht, wen er meinte,
doch dann fiel mir Tankers Hund wieder ein. Als ich zögerte, griff
Quinton nach dem Burger, wickelte ihn in sein Papier und steckte
ihn in eine seiner vielen tiefen Taschen.
Wir kehrten zum Rover zurück und fuhren zum Pioneer
Square. Dort parkte ich vorsichtshalber nicht wie sonst in meinem
Parkhaus, falls die NSA doch ihre Hausaufgaben gemacht haben
sollte. Stattdessen stellte ich den Wagen unter das Viadukt am
Alaskan Way, und wir betraten das historische Zentrum von seinem
westlichen Ende her. Als wir an Marcus’ Martini Heaven
vorbeigingen, gab mir Quinton einen kleinen Stoß und zeigte in die
dunkle Gasse auf der anderen Seite.
»Sieht wie Tanker aus«, meinte er.
Ich erkannte den Umriss des gedrungenen Hundes. Wir
überquerten die Straße, und Quinton schob mir den halben Burger in
die Hand. »Ich rede, du fütterst.«
Tanker drehte sich ruckartig um, als wir näher
kamen. Auch Bella spannte sich für einen Moment an, ehe sie Quinton
erkannte. Dann begann sie begeistert mit Schwanz und Hinterteil zu
wackeln. »Hi, Tanker«, begrüßte Quinton den Mann, während er in die
Hocke ging, um Bella ausführlich zu streicheln.
»Hi, Q. Hallo, Miss Dings.« Ich vermutete, dass er
diesmal etwas umgänglicher gestimmt war als das letzte Mal, mir
aber immer noch nicht verzeihen konnte, dass ich ihn einer Lüge
bezichtigt hatte.
»Hi, Tanker«, begrüßte auch ich ihn und streckte
ihm das Papier mit meinen Burgerresten hin. »Hast du etwas dagegen,
wenn ich das hier Bella gebe?«
Er betrachtete das Papier misstrauisch. »Was soll
das sein?«
Ich machte es auf. »Es ist ein … ein Sandwich … mit
Fleisch.« Ich hatte ganz vergessen, dass Quinton sein Mittagessen
nicht aufgegessen hatte. Offenbar hatte er mir das jetzt in die
Hand gedrückt.
Tanker lachte. »Mann, Lady! Willst du meinen Hund
verwöhnen?«
»Bella ist ein guter Hund. Es wird sie nicht
verwöhnen. Kann sie es haben?«
Er winkte lässig Richtung Hund, der eifrig damit
beschäftigt war, uns alle genau im Auge zu behalten. Offensichtlich
versuchte er herauszufinden, wem er im Moment die meiste
Aufmerksamkeit zollen sollte. »Klar. Gib es ihr. Sie frisst aber
nicht gerne aus der Hand. Du musst es vor ihr auf den Boden
legen.«
»Okay«, sagte ich und ließ mich vor dem Hund
nieder,
wobei mein Knie schmerzhaft protestierte. Quinton stand auf und
trat näher zu Tanker. Er holte meinen halben Burger heraus und bot
diesen dem Mann an.
»Hallo, Bella«, murmelte ich. »Ich habe hier etwas
Leckeres für dich … Hoffe ich jedenfalls.« Als Kind hatte ich nie
einen Hund gehabt, und als Erwachsene war mein Leben nie so
geregelt gewesen, als dass ich mir einen Hund hätte anschaffen
können. Manchmal führte ich den Pitbull-Terrier meines Nachbarn
aus, aber sehr viel weiter reichte mein Kontakt zu Hunden nicht.
Bellas kräftige Kiefer machten mich ein wenig nervös, als ich das
Papier auf den Steinboden legte und es öffnete. Der Hund leckte
sich die Lefzen und wedelte mit dem Schwanz. Er betrachtete das
Fressen, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Ist schon in Ordnung, Bella. Friss«, sagte Tanker
und begutachtete dann zufrieden seine eigenen Reste.
Bella bellte begeistert und stürzte sich auf das
Fressen. Ich kraulte ihr die Ohren, während sie mit Kauen
beschäftigt war, und lauschte dabei Tanker und Quinton.
»Tanker – ich mache mir echt Sorgen, Mann. Weißt du
noch, als Tandy verschwunden ist?«
»Warum machst du dir wegen dieses Saufkopfs
Sorgen?«, fragte Tanker und biss in seinen Burger.
»Ich mache mir eben so meine Gedanken. Ich meine,
in letzter Zeit sind hier echt viele schlimme Dinge passiert, und
ich habe Tandy nicht mehr gesehen, bevor das Ganze anfing.«
»Tandy ist doch gerade mal in der Lage, eine
Flasche zu heben. Um den ist es doch nicht schade!«
»So etwas sollte man nicht sagen. Hast du ihn
gesehen? Oder Bear? Und Jolene?«
Tanker schluckte einen Bissen Burger herunter. »Hm.
Ich
glaube, ich habe Bear kurz vor Weihnachten gesehen. An Jolene kann
ich mich nicht erinnern. Sie fällt irgendwie nie auf. Und was Tandy
betrifft, der interessiert mich null. Er und Lass trinken doch oft
miteinander. Du solltest besser den Idioten fragen, wo sein Freund
steckt. Ich weiß es jedenfalls nicht, und es ist mir auch egal. Von
mir aus kann er in eine Kloake gefallen sein. Wäre mir auch recht
…«
Quinton nickte bedächtig, während Bella mit einem
zufriedenen Schmatzen den Rest ihres Fleischsandwiches
hinunterschlang.
»Also«, setzte Quinton erneut an. »Ich frage mich
nur, ob ihnen etwas zugestoßen sein könnte. Glaubst du, dass jemand
etwas gegen sie gehabt hat?«
»Alle mögen Bear und Jolene, das weißt du doch. Und
Tandy ist den meisten egal. Wieso sollten sie ihm also etwas antun?
Aber ich begreife nicht, wer die arme alte Jenny um die Ecke
gebracht hat. Sie war zwar nicht sehr helle, aber gemein war sie
auch nicht – es sei denn, sie brauchte dringend einen Fix.« Er
kaute am letzten Stück Burger und schluckte es dann genüsslich
runter.
Bella meinte plötzlich, mir mit ihrer Zunge aus
Dankbarkeit das Gesicht abschlecken zu müssen.
»Bella, aus!«, rief Tanker. »Hör auf, die Lady zu
belästigen.«
Offenbar hatte das Essen sowohl den Hund als auch
sein Herrchen milde gestimmt.
Bella hörte sogleich auf, mich abzulecken, und warf
mir stattdessen einen entschuldigenden Blick zu. Ihre Zunge hing
ihr noch immer aus dem Maul.
»Schon in Ordnung«, sagte ich und stand auf,
nachdem ich den Hund ein letztes Mal hinter den Ohren gekrault
hatte. »Sie ist wirklich ein freundlicher Hund.«
»Ich habe sie selbst erzogen«, erklärte Tanker mit
einem gewissen Stolz in der Stimme.
»Das hast du gut hinbekommen.«
»Hunde müssen wissen, wer das Sagen hat. Sonst geht
es ihnen schlecht. Wenn du ein guter Boss bist, tun sie alles für
dich. Ich schwöre dir – alles. Ich werde ihr erlauben, diesen
verdammten Lass zu fressen, wenn wir ihn das nächste Mal sehen.
Hätte ich schon lange tun sollen. Dieser verdammte Kerl hat ihr
etwas angetan, und ich will nur nicht, dass sie Müll wie den
verdauen muss. Sonst hätte ich ihr schon lange erlaubt, ihm die
Beine auszureißen. Man kann niemandem über den Weg trauen, der
einem Hund absichtlich weh tut.« Tanker starrte finster vor sich
hin. Die Aura um ihn herum leuchtete auf einmal glutrot.
Quinton klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.
»Bella würde von Lass bestimmt Bauchweh bekommen. Du solltest ihr
wirklich nicht erlauben, ihn anzugreifen.«
Tanker schnaubte. »Ich werde bestimmt nicht in
seine Nähe kommen.«
Quinton nickte. »Hast du heute eigentlich schon
Sandy gesehen?«
Der Obdachlose kratzte sich den Kopf unter seiner
Kapuze. »Ja … Drüben auf der Second, in der Nähe des Quick
Mart. Vielleicht ist sie inzwischen auch wieder in den Park
zurückgekehrt. Es ist ziemlich kalt geworden, und ich glaube, dass
sie jemanden beobachtet hat.«
»Wir finden sie. Danke, Tanker.«
»Klar, euch auch.« Tanker nickte uns etwas verlegen
zu und schnalzte dann mit der Zunge. »Komm, Mädchen.«
Wir drehten der Gasse den Rücken zu, während er
tiefer in ihr verschwand.
Vorsichtig schlichen wir durch die Seitenstraßen
zum Occidental Park, denn wir wollten uns auf keinen Fall in der
Nähe meines Büros zeigen. Quinton zeigte auf den Bärentotempfahl.
»John Bear hat gerne darunter geschlafen. Das hat Blue Jay gemeint,
als er sagte, dass Bear oft bei den Bären schläft. Aber jetzt liegt
niemand darunter.«
Hinter dem Totempfahl brannte wieder ein Feuer in
einer Mülltonne. Ein kleiner Kreis von Obdachlosen hatte sich darum
versammelt und wärmte sich die Hände. Eine dicke Frau saß am Fuß
eines anderen Totempfahls und sah uns misstrauisch an, als wir an
ihr vorübergingen. Sie verbarg sich noch mehr in der Dunkelheit.
Weder im Grau noch in der normalen Welt konnte ich viel von ihr
erkennen, denn sie gab sich die größte Mühe, sich im schwarzen
Schatten des Totempfahls zu verstecken. Es war kein schöner
Totempfahl, es handelte sich um die Albtraumbringerin. Es wunderte
mich eigentlich nicht, dass dieser Pfahl einen besonders dunklen
Schatten warf. Ich hätte in seiner Nähe bestimmt nicht schlafen
wollen. Die Frau jedoch zog sich eine schwarze Decke über den Kopf,
sodass sie aus der Ferne nur noch eine formlose Gestalt war.
Wir gingen zu der brennenden Mülltonne, wo wir Zip,
Sandy und den Mann fanden, den ich schon des Öfteren dabei
beobachtet hatte, wie er unruhig auf und ab ging und mit sich
selbst redete. Zip bot uns Zigaretten und einen Schluck aus einer
Flasche in einer braunen Papiertüte an. Sandy nickte uns zu,
während uns der Mann erklärte, dass man die Stimme der Schildkröte
überall im Land hören könne.
»Mann, Twitcher. Hier gibt es keine Schildkröten«,
beschwerte sich Zip ungeduldig. »Die werden also auch nicht
reden.«
»Selbst das Ende aller Tage muss ein Ende haben«,
erwiderte Twitcher.
»Ich glaube, damit meint er das Jüngste Gericht«,
erklärte uns Sandy. »Aber das haben wir zum Glück noch nicht ganz
erreicht.«
»Sollen am Jüngsten Tag nicht die Toten auferstehen
und gezählt werden, oder so?«, wollte Twitcher wissen.
»Ja, das sollen sie«, erwiderte Sandy und warf ihm
einen Seitenblick zu.
»Aha … Dann ist es vermutlich wirklich noch nicht
Zeit, denn sonst wären die Straßen ja voll von Toten!« Twitcher
nickte nachdenklich und begann dann von einem Fuß auf den anderen
zu hüpfen und mit den Armen zu rudern.
»Vielleicht«, meinte Sandy.
»Hi, Harper«, begrüßte Zip mich plötzlich. Eine
Fahne aus Bier und verfaulten Zähnen schlug mir entgegen. Ich gab
mir die größte Mühe, nicht angewidert zurückzuweichen.
»Hallo, Zip.« Ich stellte mich in die Nähe von
Sandy, um seinem Gestank nicht so stark ausgesetzt zu sein.
»Wie läuft der Fall?«, erkundigte sich Sandy.
»Könnte besser laufen. Und deiner?«
»Ich glaube, der Kerl ist für eine Weile
untergetaucht. Ich habe ihn heute verloren. Aber ich hoffe, ihn
entweder heute Nacht oder spätestens morgen früh wieder zu
erwischen. Was führt euch hierher?«
»Ich möchte in Erfahrung bringen, wer sich in den
letzten Monaten dort unten auf der Hotelbaustelle aufgehalten hat«,
erklärte ich.
»Wir sind alle dort unten gewesen«, meinte Sandy,
sah mich aber nachdenklich an.
»Genau«, stimmte auch Zip zu. »Manchmal gibt es da
Holz, das wir uns nehmen können. Aber seitdem das Bein gefunden
wurde, ist alles abgesperrt.«
Quinton gab Twitcher einen sanften Stoß. »Du,
Twitcher – kennst du jemanden dort unten in der Baustelle? Oder
jemanden, der auf die Leute, die verschwunden sind, wütend
war?«
»Du meinst wohl alle«, erwiderte Twitcher. Mir fiel
auf, dass er nicht so stark zappelte, wenn er mit jemandem sprach
oder etwas tat. Doch sobald er nichts sagte, fing er an zu zucken.
Seine Zuckungen waren stärker, wenn er versuchte, ruhig stehen zu
bleiben. Auf einmal wurde mir klar, dass er deshalb wohl auch so
viel umherging und mit sich selbst sprach. Er wollte seinen Körper
auf diese Weise besser unter Kontrolle halten.
»Verstehe ich dich richtig?«, meinte Quinton.
»Willst du damit sagen, dass jeder der Verschwundenen auf der
schwarzen Liste eines anderen gestanden hat?«
Twitcher schüttelte heftig den Kopf und stellte
sich dabei auf die Zehen. »Nein, nein, das will ich nicht damit
sagen. Keiner hatte etwas gegen Little Jolene oder Jan, und Hafiz
mochte sowieso niemand. Go-Kart hat viele Leute aufgeregt, aber die
meisten haben sich auch wieder beruhigt. Na ja, außer Tanker. Der
hat ihm nie verziehen, dass er ihm auf den Fuß gestiegen ist
…«
»Bear war auch in Ordnung. Aber er war nicht immer
einfach. Es war schwierig, mit ihm befreundet zu bleiben«, mischte
sich Zip ein. »Er und Lass … Bei denen hatte man das Gefühl, dass
sie sich hassen.«
»Nach Lass kann man sich nicht richten. Der Kerl
mag keinen«, sagte Twitcher. »Und von mir behauptet man,
misstrauisch zu sein!«
»Lass ist nicht misstrauisch. Der ist einfach nur
verrückt.«
»Ich persönlich«, warf Sandy ein, »würde lieber in
den schlechten Büchern von Tanker oder Bear stehen als von
Lassiter.«
»Ehrlich? Warum denn das?«, erkundigte ich mich
neugierig.
»Er ist irgendwie hinterhältig. Tanker und Bear
zeigen dir zumindest, wenn sie wütend auf dich sind.«
Zip schüttelte den Kopf. »Lass ist auch nicht so
geschickt, wenn es darum geht, seine Wut zu unterdrücken. Könnt ihr
euch nicht mehr daran erinnern, wie er und Hafiz einmal aneinander
geraten sind? Mann, die gingen sich ja fast an die Gurgel.«
»Allerdings gibt es wohl niemanden, dem Hafiz nicht
irgendwann auf die Nerven gegangen ist. Der hat sein Maul immer
viel zu weit aufgerissen«, erklärte Twitcher.
»Und was ist mit Tandy?«, fragte Quinton. »Hatte
der mit irgendjemandem Streit?«
»Nein, nicht dass ich wüsste«, erwiderte Zip. »Mit
Tandy konnte man gar keinen Streit haben. Der war dazu immer viel
zu betrunken und zufrieden.«
»Betrunken und benebelt, meinst du wohl«,
korrigierte ihn Sandy. »Der hat mit jedem getrunken, der es
schaffte, ihn aufrecht zu halten und ihm eine Flasche zu
reichen.«
»Wann habt ihr Tandy das letzte Mal gesehen?«
Die drei schwiegen für einen Augenblick und dachten
nach.
»An Thanksgiving«, meinte Sandy schließlich. »Vor
dem Sturm.«
»Und wo war das?«, fragte ich.
»In der Nähe des Fußballstadions.«
»Also in der Nähe der Baustelle?«
»Nicht ganz in Nähe, aber er hätte auf jeden Fall
dorthin gehen können. Als ich ihn gesehen habe, war er noch nicht
völlig sturzbetrunken.«
»War er da mit jemand anderem zusammen?«
»Ja, mit John Bear und Little Jolene.«
Ich warf Quinton einen fragenden Blick zu, doch
dieser schüttelte den Kopf. »Bear und Jolene hat man auch noch
später gesehen.«
»Aber Tandy nicht«, fügte Sandy hinzu.
»Sicher?«
»Ich habe ihn nach Thanksgiving jedenfalls nicht
mehr gesehen, und ich halte die Augen offen.«
»Wann wurde eigentlich Hafiz umgebracht?«, wollte
ich wissen.
»Er wurde am Montag nach Thanksgiving entdeckt.
Aber ich glaube, da war er schon ein oder zwei Tage tot«, erklärte
Sandy nachdenklich. »Die Leiche wurde unter ein paar schweren Ästen
gefunden, die im Sturm von einer Platane abgerissen worden
waren.«
»Er wurde also durch einen herunterfallenden Ast
erschlagen?«
»Oh, nein. Dort haben sie nur seine Leiche
entdeckt«, korrigierte mich Sandy.
Wir plauderten noch eine Weile mit den dreien, bis
uns die Zehen in den Stiefeln einfroren und wir vor Kälte kaum mehr
unsere Gesichter spürten. Viel Neues erfuhren wir leider nicht. Als
Quinton und ich schließlich weitergingen, um mit anderen Bewohnern
des Untergrunds zu reden, meinte er: »Tandy und Lass haben früher
oft zusammen getrunken. Aber wie Sandy ja bereits sagte, hat Tandy
mehr oder weniger mit jedem gesoffen, den er erwischen
konnte.«
»Dann hätte er also an seinem Todestag mit Bear und
Jolene zusammenbleiben oder auch mit jemand anderem davongehen
können, mit dem wir noch nicht gesprochen haben.«
»Genau. Aber allein die Tatsache, dass er
verschwunden ist, kurz bevor man das Bein gefunden hat, macht es
ziemlich wahrscheinlich, dass es sich um sein Bein handelt. Meinst
du nicht?«
Ich zitterte. »Doch. Dann wäre Tandy also der
Erste, der verschwunden ist. Danach wurde Hafiz umgebracht, den
offenbar niemand mochte. Und dann?«
»Danach hat man Jan und Go-Kart tot aufgefunden,
und zwar in dieser Reihenfolge. Aber zwischen Hafiz und Jan war
eine ziemlich lange Pause.«
»Wer verschwand da?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich könnte mir
vorstellen, zuerst Jheri, dann Jolene … Danach wurde Jan getötet …
Dann verschwanden Bear und Felix, und Go-Kart starb ebenfalls. Und
schließlich Jenny.«
»Das würde einen Durchschnitt von etwa einem Toten
pro Woche ergeben. Ein ziemlich hungriges Monster«, sagte ich und
schüttelte mich.
»Stimmt.«
Ich dachte nach. Irgendwie wurde ich den Eindruck
nicht los, dass es noch eine weitere Verbindung gab, die nur darauf
wartete, von uns entdeckt zu werden. »Ich würde gern mit Lass
sprechen«, sagte ich. »Er taucht irgendwie immer wieder auf. Und
dann könnten wir uns auch nochmal Tanker vorknöpfen.«
»Glaubst du, dass Tanker etwas weiß, was er uns
noch nicht gesagt hat?«
»Irgendjemand weiß etwas. Da bin ich mir absolut
sicher.
Und die Einzigen, die uns nichts mehr sagen können, sind die
Toten.«
Wir liefen eine Weile alle möglichen Straßen und
Gassen ab, ohne Lassiter zu entdecken. Also beschlossen wir, wieder
in den Untergrund abzusteigen.
Im Ziegelbruch stießen wir auf Tall Grass. Er war
gerade dabei, in einer Ecke vor sich hin zu schimpfen und mit einem
weichen braunen Gegenstand durch die Luft zu fuchteln. Als er uns
entdeckte, stürzte er auf uns zu und drückte mir das Ding wütend in
die Hand.
»Du hast sie doch gewollt! Da, nimm sie! Nimm sie!
Ich will sie nicht mehr!« Er packte mich an den Schultern und
schüttelte mich.
»Grass, beruhige dich«, redete Quinton mit leiser
Stimme auf ihn ein. »Man kann dich doch überall hören. Beruhige
dich wieder.«
Tall Grass wandte sich ihm zu. »Du hast sie
hierhergebracht! Sie wollte die Mütze. Es ist auch deine Schuld.
Deine Schuld, dass Jenny tot ist.«
Quinton trat einen Schritt zurück. »Grass, das
meinst du doch nicht ernst! Es ist nicht unsere Schuld. Jemand oder
etwas hat Jenny umgebracht, aber das waren weder Harper noch ich.
Und du auch nicht.«
»Es ist diese Mütze!«
»Verdammt, Grass, reiß dich zusammen! Es hat nichts
mit der Mütze zu tun.«
»Das war Bears Mütze. Bear ist tot. Und dann war es
Jennys Mütze. Und jetzt ist Jenny tot«, erregte sich Tall Grass. Er
klang hysterisch.
»Woher willst du wissen, dass Bear tot ist? Wir
wissen das nicht mit letzter Sicherheit. Er ist nur …«
»Ich habe ihn gesehen! Ich habe seinen Geist
gesehen.
Und ich habe das Wesen – das Monster – gesehen! Das habe ich! Ich
habe es gesehen!« Er konnte vor Aufregung kaum mehr atmen.
Plötzlich begann er zu schreien. Er starrte durch uns hindurch, und
seine Augen schienen beinahe aus den Höhlen zu treten.
»Mist«, murmelte Quinton. Tall Grass begann heftig
zu keuchen und verlor dann auf einmal das Bewusstsein. Er sackte
zusammen und fiel zu Boden.
Quinton betrachtete ihn mitleidig. »Ich bin bisher
noch nie so froh gewesen, dass jemand ohnmächtig geworden
ist.«
»Hey!«
Wir drehten uns um. Ein Mann spähte um die Ecke,
zog jedoch sofort den Kopf zurück, als wir in seine Richtung
schauten.
»Lauf nicht weg, Lass!«, rief Quinton. Er gab mir
mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass ich Lass aufhalten
solle.
Ich rannte also den alten Bürgersteig entlang,
spürte aber auf einmal wieder, wie mein Knie schmerzte. Trotzdem
gelang es mir, Lass nach wenigen Metern einzuholen. »Komm schon,
Lass. Hilf uns«, schlug ich vor. »Wir müssen Tall Grass hier
rausbringen.«
Lassiter sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
Er zitterte und fasste nervös in seine Tasche.
»Lass den Schocker stecken«, sagte ich. »Ich lasse
mich nicht so leicht außer Gefecht setzen. Und ich werde dir auch
nichts tun, wenn du Quinton und mir hilfst.«
Widerstrebend lief er vor mir her. Wir kehrten zu
Quinton zurück, der gerade dabei war, Tall Grass mühsam
aufzurichten. Der Indianer hatte das Bewusstsein immer noch nicht
zurückerlangt.
Quinton sah Lass scharf an und meinte dann: »Am
besten nimmst du ihn unter der einen Achsel und ich ihn unter der
anderen, und dann wir ziehen ihn gemeinsam hoch. Wir bringen ihn
die Cadillac-Treppe hinauf. Dort oben finden wir bestimmt irgendwo
einen Ort, wo wir ihn liegen lassen können.«
»Und warum nicht hier?«, jammerte Lass. »Ist doch
egal, Mann. Warum sollen wir für den Kerl unser Leben aufs Spiel
setzen?«
»Weil er vielleicht sterben könnte, wenn wir ihn
zurücklassen. Ich habe dir geholfen, Lass. Jetzt hilfst du mir.
Oder ich werde dir in Zukunft nie mehr einen Gefallen tun.
Verstanden?«
»Okay, okay. Schon verstanden.«
Lass half Quinton, Tall Grass hochzuheben, und dann
trugen ihn die zwei Männer wie einen schweren Sack bis zum Fuß der
Treppe, die neben dem Cadillac-Hotel in den Untergrund führte. Ich
eilte die Stufen hinauf und sah mich oben um. Einen Moment lang
wartete ich, um ganz sicher zu sein, dass niemand in der Nähe war.
Dann rief ich leise zu den beiden hinunter, dass sie hochkommen
könnten.
Tall Grass gab ein paar Geräusche von sich und
versuchte sich zu bewegen, als wir die Straße erreichten. Quinton
und Lass setzten ihn auf dem Bürgersteig ab, und dann ließ sich
Quinton neben ihm nieder. Ich packte Lassiter gerade noch
rechtzeitig am Handgelenk, bevor er weglaufen konnte.
Während Quinton leise mit Tall Grass sprach,
unterhielt ich mich mit Lass.
»Was hast du da unten gemacht?«
»Ich … Ich wohne da!«
»Aber doch nicht genau da.«
»Nicht die ganze Zeit … Ich … Ich habe etwas
gehört. Ich habe Grass sprechen gehört. Mann, der ist voll auf
einem Trip!«
»Ehrlich? Da sagst du mir nichts Neues. Er glaubt,
gesehen zu haben, wie John Bear von einem Monster gefressen
wurde.«
»Siehst du? Der hat sie doch nicht mehr
alle.«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob er nicht
tatsächlich ein Monster gesehen hat.«
»Was?«
»Du siehst doch auch Monster. Das hast du zumindest
behauptet.«
Er starrte mich verblüfft an und sah sich dann
hastig erneut nach einer Fluchtmöglichkeit um. Ich stellte mich ihm
in den Weg.
»Hast du das Monster vielleicht auch gesehen, das
Bear gefressen hat?«
»Ich habe gewisse Dinge gesehen …«
»Was genau? Und wo hast du es gesehen?«
»Ich habe schon viele … viele unheimliche Typen
gesehen … Die tun uns weh … deshalb hat mir Q-Mann ja auch den
Schocker gegeben.«
»Ich weiß. Aber ich bin mir sicher, dass du mehr
als nur ein paar komische Typen gesehen hast. Sonst hättest du
nicht solche Angst.«
»Ich habe eine … Ich habe eine Schlange gesehen.
Eine große Schlange.«
Ich musterte ihn skeptisch. Nicht, weil ich ihm
nicht glaubte, sondern weil ich den verunsicherten Mann dazu
zwingen wollte, endlich zu reden. Es gibt nichts, was Leute eher
dazu bringt, den Mund aufzumachen, als so zu tun, als würde man
ihnen nicht glauben.
»Es stimmt aber! Die Schlange war so groß wie ein
Auto. Sie hatte einen Menschen im Maul – so wie wenn eine
Klapperschlange versucht, ein Ei zu verschlingen.«
»Wo hast du die denn gesehen?«
»Unter dem Pioneer Square.«
»Man kann gar nicht unter den Pioneer Square!«,
widersprach ich ihm.
»Doch, kann man schon! Hinter dem Pioneer-Building
gibt es ein Gitter in einer Gasse. Wenn man das hochhebt, gelangt
man dort in ein Loch.«
»Und wann hast du die Schlange da gesehen?«
»Weiß ich nicht mehr! Lass mich endlich in Ruhe!«
Er stieß mich zur Seite und drängte sich an mir vorbei. Ich hätte
ihn zwar aufhalten können, aber zum einen wollte ich ihm nicht
seinen ganzen Stolz nehmen, und zum anderen hielt ich es für das
Beste, ihn fürs Erste nicht weiter zu befragen. Schließlich wusste
ich, wo ich ihn finden konnte.
Ich sah mich nach Quinton und Tall Grass um, der
gerade dabei war, sich mühsam zu erheben.
»Verschwinde«, knurrte er.
»Fühlst du dich wieder besser?«, fragte
Quinton.
»Es geht mir gut.«
»Du warst ziemlich hysterisch …«
Er starrte Quinton finster an und entdeckte dann
mich. Ich hielt noch immer die Mütze in der Hand. Mit einem Satz
stürzte er sich auf mich und entriss sie mir. »Die gehört
Jenny.«
»Du hast gesagt, es wäre Bears alte Mütze gewesen«,
entgegnete ich.
Tall Grass sah für einen Moment so aus, als ob er
nicht wüsste, wie er reagieren sollte. Seine Augen wanderten
unruhig zwischen Quinton und mir hin und her.
»Stimmt gar nicht!«
»Komm schon, Grass«, meinte Quinton besänftigend.
»Wir wissen alle, dass die Mütze Bear gehört hat. Du hast uns
erzählt, dass du gesehen hättest, wie er von einem Monster
verschlungen worden ist.«
»Das habe ich nie gesagt!«
»Doch, das hast du. Wir wollen dieses Monster
fassen, Grass. Wir wollen das Monster fassen, das auch Jenny
getötet hat.«
»Ich habe die Sch… Ich habe niemanden gesehen!«,
jammerte Grass. Er lehnte sich an eine Hausmauer und vergrub sein
Gesicht in der Mütze. »Wir haben geschlafen«, erzählte er
schließlich. »Da kam sie plötzlich aus der Dunkelheit. Wie eine
Welle. Und Jenny hat ein Geräusch gemacht. Und dann … Und dann habe
ich etwas Kaltes gespürt, und es hat wie nach faulem Fleisch
gestunken. Ich habe die Augen geöffnet und gesehen, wie dieses
Wesen durch die Mauern fortgeschwommen ist. Es konnte durch Mauern
schwimmen! Und mir ist nur noch diese verdammte Mütze geblieben!
Und heute Nacht habe ich John Bear gesehen. Das heißt, eigentlich
Bears Geist. Er ist durch den Ziegelbruch gewandert, hat mich
angesehen und gesagt: ›Behalte die Mütze.‹ Dann ist er
verschwunden. Er hat mir die Mütze vermacht. Aber das ist wie ein
Fluch …«
Obwohl er sich die Mütze vor den Mund hielt, konnte
ich hören, wie er schluchzte. Seine Schultern zuckten.
»Es hat nichts mit der Mütze zu tun, Grass. Glaub
mir, die Mütze hat die beiden nicht umgebracht«, versicherte ihm
Quinton. »Und Bear würde niemanden verfluchen. Er wollte nur
sichergehen, dass die richtigen Leute seine Sachen bekommen. Du
weißt doch, wie Bear war.«
Tall Grass hob zitternd den Kopf. Er sah uns nicht
an, schien aber trotzdem mit uns zu sprechen. Er stotterte immer
wieder, wenn er tief Atem holte. »Der Z... Der Zeqwa hat sie geholt
…«
»Wir wissen, was es war. Und wir wollen den Zeqwa
finden. Wir wollen herausfinden, warum er gekommen ist.«
»Ich weiß es nicht«, flüsterte Grass erregt. »Falls
jemand dem Monster befohlen hat, Jenny zu holen, reiße ich ihm den
Kopf ab.«
»Wir finden es heraus. Du solltest heute Nacht
unbedingt in der Nähe eines Feuers schlafen, Grass. Aber bloß nicht
unten im Ziegelbruch. Am besten schläfst du gar nicht mehr in
dieser Gegend. Hast du mich verstanden?«
Tall Grass nickte mutlos. Seine Trauer und seine
Wut hatten ihn ganz benommen gemacht. Wir gingen gemeinsam mit ihm
zum Occidental Park und ließen ihn dort in der Obhut von Sandy
zurück. Dann machten wir uns auf den Weg, um das Gitter zu finden,
durch das man angeblich unter den Pioneer Square gelangen
konnte.
»Wie ist er bloß auf die Idee gekommen?«, fragte
ich Quinton. »Ich meine, dass jemand das Monster geschickt haben
könnte?«
Er zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.
Vielleicht glaubt er, dass Jenny gejagt wurde.«
Ich runzelte die Stirn und dachte schweigend
nach.
Wir entdeckten das Gitter, das locker über einem
Loch in der Gasse zwischen dem Seattle Mystery Bookshop und
dem hinteren Teil des Pioneer-Building lag. Ein Stahlrahmen und
zwei Angeln zeigten, wo es früher einmal befestigt gewesen sein
musste. Doch irgendjemand hatte es aus seinem Rahmen gerissen, und
nun lag es nur noch lose
da. Im Grau war der Ort von einem kalten silbernen Nebel
überzogen. Das Energienetz glühte neonrot und gelb. Keine angenehme
Mischung.
Quinton schaute sich um, als ob er sich nicht
sicher wäre, wo wir uns befanden. »Ich hatte keine Ahnung, dass man
auch hier in den Untergrund gelangen kann.«
»Ich auch nicht.« Ich hob das Gitter hoch. Darunter
befand sich ein außergewöhnlich schmaler Schacht, der zu einem
Tunnel führte. Dieser machte eine scharfe Kurve nach Westen, sodass
man dort tatsächlich unter das Pioneer-Building gelangte. Auf
einmal standen wir vor zwei schmalen Stahltüren, hinter denen eine
steile Metalltreppe weiter nach unten führte. Langsam stiegen wir
sie im Licht von Quintons Taschenlampe hinunter.
Die schmale Treppe schien ursprünglich einmal
Bediensteten oder Arbeitern als Zugang zum Pioneer-Building gedient
zu haben. Offenbar wurde die ganze Gegend irgendwann umgebaut und
dadurch der Originalzugang verschlossen. Leider war es mir nicht
möglich, die ineinander verwobenen Zeitschichten im Grau getrennt
zu betrachten, um zu erfahren, was sich an dieser Stelle früher
einmal befunden hatte. Im Grau herrschte hier ein völliges Chaos,
als ob Zeit und Raum noch immer von einem magischen Erdbeben
erschüttert würden.
Am Fuß der Treppe befand sich ein kurzer Korridor,
der meiner Meinung nach unter den Bürgersteig vor dem
Pioneer-Building führte. Er endete abrupt an einer Wand.
»Sackgasse«, sagte ich. Aber irgendetwas stimmte
mit dieser Wand nicht …
Ich schob die normale Welt von mir und betrachtete
die Wand im Grau. Je tiefer ich eindrang, desto stärker verwandelte
sich die Mauer in eine schwarze Masse, die von
roten und gelben Energiefäden sowie Fetzen blassen Nebels
durchzogen war. Ich ging in die Hocke und betrachtete die sich
sanft schlängelnden Fäden. Je mehr ich mich ihnen näherte, desto
stärker konnte ich die schwache Brise spüren, die sie in Bewegung
versetzte. Ich roch Alter, Schlamm, Salzwasser und Fäulnis. Die
Fäden hatten nicht nur eine graue Farbe – nein, sie bestanden aus
dem Grau. Ich griff in das Netz, das sie bildeten, und zog es so
vorsichtig wie möglich auseinander.
Durch die Mauer war ein Loch gefressen worden,
hinter dem sich ein schmaler Tunnel öffnete. Als ich mich Quinton
zuwandte, sah dieser eher wie eine Säule aus Wasserdampf aus,
durchzogen von grell leuchtenden Energiesträngen, und nicht wie ein
Mensch.
»Sieht so aus, als wäre es an der Zeit, die Sache
anzugehen«, sagte ich.
Quinton wirkte nervös. Seine Augen wanderten von
einem Punkt über meinem Kopf zu dem Loch in der Wand, das von den
grauen Fäden verdeckt gewesen war. Mir wurde klar, dass er an die
Stelle blickte, wo sich mein Kopf befunden hätte, wenn ich noch
gestanden hätte. Offensichtlich konnte er mich im Zwielicht kaum
sehen und hatte nicht bemerkt, dass ich in die Hocke gegangen war.
Ich befand mich so nahe am Energiegeflecht des Grau, dass ich ihn
auch nicht wie sonst sah. Ob uns wohl die Geister auf diese Weise
wahrnahmen? Ich bezweifelte es eigentlich, da die meisten sich
nicht so nahe am Energienetz aufhielten, wie ich das nun tat.
Ich kehrte in die Welt zurück, die ich
normalerweise sah – die Welt von Quinton und mir, die doch stets
durchzogen war von einem Nebel, von Energiefäden, Geistern und
Strömungen aus Zeit und Erinnerung.
Quinton zuckte zusammen, als ich wieder auftauchte.
Er starrte mich an. »Wo warst du?«
»Nicht weit. Nur weit genug, um das hier zu
entdecken«, sagte ich und zeigte auf das Loch. »Möchtest du sehen,
was sich am anderen Ende des Tunnels befindet?«
»Ja und nein. Irgendwie sieht es ziemlich
unheimlich aus.«
»Ich kann auch nicht behaupten, dass ich darauf
brenne, da hinunterzusteigen. Aber Lass meinte, dass er da unten
eine Schlange gesehen hätte, und die Tarnung besteht aus dem
gleichen Material, das ich bereits im Zugtunnel entdeckt
habe.«
Quinton setzte seinen Hut ab, rollte ihn zusammen
und steckte ihn in die Tasche. Dann begann er in das Loch zu
klettern.
»Hey«, flüsterte ich. Der Ort wirkte bedrückend.
Allein die Vorstellung, die Mauer anfassen zu müssen, ängstigte
mich ein wenig. Ich wollte außerdem nicht, dass meinem Begleiter
etwas zustieß. »Ich kann in dieser Welt besser sehen. Ich sollte
vorangehen.« Ich wollte zwar nicht als Erste in den Tunnel, aber es
blieb mir nichts anderes übrig. Falls am anderen Ende ein
übernatürliches Wesen auf uns wartete, hatte ich bessere Chancen,
es zu sehen, als Quinton.
Ich kroch also als Erste in das Loch, wobei sich
sowohl meine Schulter als auch mein Knie empört meldeten. Mit einem
tiefen Atemzug robbte ich auf den silberfarbenen Glanz am Ende des
Tunnels zu. Ich spürte, wie mich die Schwaden des Grau berührten,
während ich Quinton deutlich hinter mir atmen hörte.
Der grob angefertigte Tunnel war für uns beide
breit genug, um mühelos hindurchzukommen. Aber die düstere
Feuchtigkeit und der Geruch nach Brackwasser gaben unserem
Abenteuer einen besonders unheimlichen Anstrich. Wir schienen
durch die Eingeweide der Erde zu kriechen. Ich hörte das sanfte
Schlagen des Wassers, das vor uns lag. Ein Echo erfüllte immer
wieder den Tunnel, als ob wir uns einem unterirdischen Schwimmbad
näherten. Ein leises Stöhnen wie ein ferner Wind ertönte. Mir lief
ein kalter Schauer über den Rücken, der nichts mit der Kälte zu tun
hatte, die uns umgab.
Auf Kniehöhe konnte ich vor mir eine klare Linie
erkennen. Es war nur ein winziger Teil grellgelber Energie, die
sich aus der Schwärze des Tunnels im Grau abhob. Ich tastete mich
mit einer Hand langsam vorwärts und prüfte vorsichtig den Boden aus
Geröll, Schmutz und Betonbrocken. Endlich erreichte meine Hand eine
glatte Oberfläche, die abrupt in einer scharfen Kante endete. Als
ich nach unten griff, berührte ich eine weitere glatte Oberfläche
und eine weitere Ebene … Stufen.
Mühsam rappelte ich mich auf, bis ich am Rand der
ersten Stufe zu sitzen kam. Meine Stiefel berührten mit einem
leisen Plätschern das Wasser.
Ich drehte mich zu Quinton um und flüsterte: »Da
unten liegt ein Raum. Dem Echo nach ist er groß und der Boden mit
Wasser bedeckt. Vielleicht bewegt sich dort etwas, aber ich bin mir
noch nicht sicher.«
»Ich bin direkt hinter dir.«
Ich glitt nach unten, wobei ich so vorsichtig wie
möglich meine Füße auf den glitschigen Boden setzte. Zu meiner
Überraschung stand das Wasser so hoch, dass es oben in meine
Stiefel floss. Irgendetwas gab ein Geräusch von sich und verschwand
dann zu meiner Rechten. Als ich in die Tiefen des Grau blickte,
schien sich der Raum durch Geister und flackernde Energiefäden zu
erhellen.
Der Boden unter dem Wasser zeigte wundersame,
geometrische Muster aus buntem Marmor und Steinen. Die Wände waren
aus weißem Marmor, der mit rosafarbenen und goldenen Adern
durchzogen war. Es war mehr als ein Raum. Es handelte sich vielmehr
um zahlreiche Zimmer und Korridore, von denen überall glänzende
Holztüren abgingen. Die Überreste eines alten Eichenstuhls
schaukelten leicht im tieferen Wasser auf der anderen Seite des
Raums. Das Wesen, das vorher Laute von sich gegeben hatte, taumelte
plötzlich auf mich zu, und ich stieß vor Schreck einen leisen
Schrei aus.
Es war ein Zombie. Bevor er näher kommen konnte,
schaute ich mich hastig um. Ich wollte sehen, ob sich Sisiutl in
der Nähe aufhielt, aber die Wasseroberfläche lag ruhig da. Eine
Seeschlange zeigte sich nirgendwo. Also hastete ich weiter ins
Wasser, bis es mir zu den Schenkeln stand. Auch wenn ich mich
ekelte, blieb mir nichts anderes übrig, als unter die Oberfläche
des abgestanden riechenden Sees zu tauchen.
Ich sah undeutlich, dass der Marmorboden hier zum
großen Teil verschwunden war. Offensichtlich konnte das Wasser bei
Flut durch die Risse eindringen, die sich über die Jahre hinweg
gebildet haben mussten. Ein Teil des Bodens war mit einem
gewaltigen Zementblock bedeckt. Wahrscheinlich handelte es sich um
einen der Stabilisatoren, die man hier benutzt hatte, als man den
Laubengang neu errichtete. Nirgendwo war Sisiutl zu entdecken. So
sehr ich mich auch konzentrierte, war es mir nach einiger Zeit
nicht mehr möglich, länger den Atem anzuhalten. Ich tauchte wieder
auf und warf mein klatschnasses Haar zurück, während ich nach Luft
keuchte.
Die unterirdische Toilette, in der wir uns
befanden, war
von Netzen aus Sisiutls grauem Material umspannt. Dasselbe galt
für die früher einmal menschliche Kreatur, die sich mit uns hier
unten aufhielt. Überall, wo die weichen grauen Fäden hingen, konnte
ich die Formen und Farben der Oberflächen darunter kaum noch
erkennen.
So ließ sich zwar der Schimmer eines früheren
Lebens des Toten unter dem grauen Netz, das seinen Körper vor dem
Zusammenfall bewahrte, erahnen, aber tiefer reichte mein Blick
nicht. Die Feuchtigkeit hier unten hatte seine Haut bereits
zersetzt. Seine Beine waren so lange dem Wasser ausgesetzt gewesen,
dass sie aufgeschwemmt und weich waren. Der Rest des Körpers war
schlaff, und die Haut hatte eine dunkle Farbe angenommen. Jetzt
wusste ich, dass der faule Geruch, den ich bereits im Tunnel
gerochen hatte, von dem Zombie stammte. In der normalen Welt konnte
ich nicht viel mehr als seine Gestalt ausmachen. Sein Gesicht war
nicht zu sehen. Aber es war trotzdem klar, dass dieser Zombie erst
vor kürzerer Zeit gestorben war als der erste, dem ich begegnet
war.
»Quinton«, flüsterte ich heiser. »Hier ist ein
Zombie. Ich brauche Licht.«
Quinton zögerte keine Sekunde, sondern watete, so
schnell er konnte, durch das Wasser zu mir. Als er neben mir stand,
schaltete er seine Taschenlampe ein und suchte mit dem Strahl nach
dem untoten Wesen.
Als er es fand, hielt er entsetzt den Atem an. Für
einen Moment geriet er ins Wanken. »Oh mein Gott, das ist Felix. Er
verschwand als Letzter, ehe Go-Kart und Jenny umgebracht
wurden.«
»Wenn Si… Wenn das Monster Felix hatte, verstehe
ich nicht, warum es auch noch die beiden umgebracht hat«, sagte
ich.
»Ich habe auch keine Ahnung. Vielleicht … Mein
Gott, das wäre ja schrecklich … Aber vielleicht hebt Sistu sie sich
ja als Zwischenmahlzeit auf. Vielleicht ist er wie ein Alligator,
der sein Fressen auch lieber etwas … etwas abgehangen
genießt.«
»Die anderen hat er aber gar nicht gefressen«, gab
ich zu bedenken. Ich dachte nach. »Er hat sie einfach nur getötet
und ihre Leichen dann zurückgelassen.«
Felix’ toter Körper stolperte auf uns zu. Er gab
erneut einen seltsamen Laut von sich. Ich hatte das Gefühl, kurz
vor einer Erkenntnis zu stehen, als der Zombie einen lauten Schrei
ausstieß und auf die Knie fiel. Er hatte sich in dem Gewirr aus
grauen Fäden und Schlamm verheddert, das den überfluteten Boden
bedeckte.
Quintons Lichtstrahl fing an zu wackeln. Für einen
Moment war der Zombie nicht mehr zu sehen. »Harper! Bitte tu
endlich was!«
Ich zögerte. Es widerstrebte mir, noch einmal vor
einem Mann, den ich mochte, einen Zombie auseinanderzunehmen. Der
letzte hatte den Anblick nicht gerade gut aufgenommen.
»Richte das Licht wieder auf ihn«, befahl ich nach
einem Augenblick harsch. »Ich kann sonst nicht sehen, was ich tun
muss.«
Quinton tat, wie ich ihm geheißen hatte. Der
Leichnam versuchte noch immer, sich zu befreien. Ich trat zu ihm
und ging vor ihm in die Hocke. Mit großem Widerwillen streckte ich
die Hand aus, um die Überreste des Mannes zu berühren. Sie fühlten
sich zwar weich, aber auch noch überraschend fest an. Selbst mit
Hilfe des Lichts konnte ich nicht erkennen, wie ich die Lebensfäden
lösen sollte, die in seinem Inneren gefangen waren. Schließlich
wollte
ich die erbarmungswürdige Kreatur nicht mit meinem Taschenmesser
zerschneiden. Alleine die Vorstellung daran ekelte mich derart,
dass ich angewidert würgen musste.
»Es muss eine Möglichkeit geben«, murmelte ich. Das
eisige Wasser, das meine bereits angeschlagenen Gelenke noch mehr
schmerzen ließ, jagte mir einen Schauer nach dem anderen über den
Rücken. Ich betrachtete den Zombie und stand dann wieder auf.
Das tote Wesen lag erschöpft auf dem Boden und
lehnte sich mit dem Oberkörper gegen eine Wand. Es war nicht mehr
in der Lage, sich zu bewegen oder Laute auszusto ßen. An den
Stellen, wo es das Netz aus grauen Fäden berührte, schien es fast
in der Wand zu verschwinden. Das merkwürdig neutrale graue Material
musste also sowohl eine Art von Tarnung als auch eine Art von
Fessel darstellen. Oder war Letzteres nur ein zufälliges
Nebenprodukt?
Je eingehender ich die Netze betrachtete, desto
wahrscheinlicher kam mir meine zweite Überlegung vor. Die grauen
Fäden dienten Sisiutl als Tarnung. Wahrscheinlich verbarg er sich
auch selbst in seinem Netz und konnte auf diese Weise scheinbar
seine Gestalt verändern, wenn er durch Zeiten und Räume glitt. Er
war schließlich klug genug, um auch den Zugang zu diesem Ort mit
seinen Fäden zu bedecken.
»Das hier ist seine Höhle«, sagte ich.
»Was?«, fragte Quinton ungläubig.
»Diese Fäden …«
Er unterbrach mich. »Welche Fäden?«
»Dieser magische Stoff, den ich bisher an allen
Orten gefunden habe, wo Sistu gewesen sein muss. Ich habe dir doch
davon erzählt. Hier sind die Fäden überall, und der
arme Kerl ist auch davon bedeckt. Deshalb glaube ich, dass wir uns
in seiner Höhle befinden. Sistu verdeckt sie mit seinem Netz.
Deshalb konntest du das Loch nicht erkennen, bis ich das Netz
weggerissen habe. Und wie gesagt – auch Felix ist völlig darin
verstrickt. Ich vermute, dass sein Geist deshalb nicht fortkann.
Die magischen Fäden halten die Energie in seinem toten Körper
gefangen.«
»Worauf wartest du dann noch? Befreie ihn doch
endlich davon!«
Ich hatte zwar keine Lust, bei dieser Prozedur
wieder einen Zuschauer zu haben, aber mir blieb nichts anderes
übrig. Schließlich wussten wir nicht, wann Sisiutl zurückkehren
würde, um seine Mahlzeit zu verspeisen. Allein die Vorstellung,
Felix zurückzulassen, damit er dann durch die Zähne des Monsters
aus dem Gefängnis seines verwesenden Körpers befreit wurde, trieb
mich an.
»Mist, Mist, Mist«, murmelte ich. Das kalte Wasser
ließ mich erneut zittern. Ich musste die Fäden von dem Zombie
lösen, um einen besseren Blick auf seine eigenen Energiestränge
werfen zu können. Als ich versuchte, sie mit meinen Händen
beiseitezuziehen, stellte ich allerdings fest, dass das Netz dicht
gewoben war und sich nicht so leicht auseinanderreißen ließ. Das
Material schien diesmal geknotet und nicht wie die Fäden einer
Spinne gesponnen worden zu sein. Ich musste die Knoten also
entweder lösen oder eine Möglichkeit finden, sie zu
durchtrennen.
Für einen Moment überlegte ich fieberhaft, was ich
tun konnte.
Knoten … Da war doch was …
Plötzlich fiel mir wieder Ella Grahams Feder ein.
Sie hatte behauptet, dass mir die Feder helfen würde, die Toten
zu öffnen … Nein, sie hatte sogar gesagt, dass ich mit Hilfe der
Feder die Knoten toter Dinge lösen könne!
Die alte Frau hatte die Weltwirtschaftskrise
durchlebt und den Zweiten Weltkrieg überstanden. Sie hatte schon
früh lernen müssen, was es bedeutete, mit wenig zurechtzukommen.
Wahrscheinlich hatte sie neue Kleidung und andere Dinge aus alten
Stücken fabriziert, indem sie mit einer Nadel geduldig die alten
Stoffe aufgetrennt hatte. Vielleicht musste also auch ich die
Fasanenfeder dazu benutzen, die Knoten in Sisiutls Falle zu lösen?
Fasanen richten stets ein Auge auf den Tod und eines auf das Leben.
Besaß die Feder also tatsächlich eine Affinität zum Grau, wie Ella
Graham das angedeutet hatte? Es war zwar eine verrückte Idee, aber
war nicht auch das Grau unvorstellbar? Manchmal funktionierte
schließlich genau das, was auf den ersten Blick verrückt
wirkt.
Ich hatte die Feder noch immer in meiner
Jackentasche und zog sie jetzt heraus. Sie war etwas geknickt und
nass geworden, schien aber ansonsten noch in Ordnung zu sein.
Obwohl ich mich idiotisch fühlte, hielt ich sie mit zwei Fingern an
ihrem Kiel fest und strich dann mit der weichen Seite über den Kopf
des Zombies.
Das graue Netz lockerte sich ein wenig. Ich strich
erneut darüber. Nun gingen die Fäden auf und fielen ab. Die Säume
des Gewebes lösten sich fast wie Laufmaschen in einem Nylonstrumpf.
Immer wieder strich ich darüber, bis das Netz völlig lose war. Dann
zog ich die letzten Fäden mit der Hand beiseite. Der Körper des
Untoten wurde nun weicher und schlaffer. Das Netz blieb an manchen
Stellen jedoch noch immer so fest, dass ich es nicht abziehen
konnte.
Quintons Lichtstrahl zitterte. »Ich glaube …«,
begann er heiser.
Von Ferne war Wasserrauschen zu hören.
»Ich glaube, irgendetwas nähert sich …«
Schnell, schnell …
Für einen Moment befürchtete ich, mein Gehirn würde
versagen. Ich musste die Sache beenden und so schnell wie möglich
aus diesem Wasser kommen, ehe ich mich völlig verkühlte. Allerdings
schien die Feder plötzlich nicht mehr zu funktionieren. Mein Herz
pochte wild, und ich begann trotz der Kälte zu schwitzen.
Falls uns irgendwelche Götter zusahen, konnte ich
nur hoffen, dass sie auf unserer Seite waren. Verzweifelt drehte
ich die Feder um. Ich hoffte, dass sie auch so magische Fähigkeiten
aufwies. Hastig fuhr ich mit dem Kiel über Felix’ zusammengesackte
Gestalt, bis die winzigen Risse in der Spitze einen dünnen gelben
Energiestrang aufnahmen. Ich unterdrückte die aufsteigende Panik
und zog den Strang zu mir heran. Eine Schlinge aus Energie löste
sich aus dem Körper. Ich fuhr mit dem kleinen Finger meiner freien
Hand hinein. Dann zog ich langsam daran, um den Knoten im Inneren
des Zombies zu entwirren.
Der Strang löste sich. Für einen Moment wankte ich
gefährlich, als die heiße gelbe Knotensträhne aus Felix’ gefangenem
Geist mit rasender Geschwindigkeit seinen Körper verließ. Es gab
einen seltsam dumpfen Knall, und dann fiel die Leiche wie
knochenlos und schlaff zu Boden.
Ein weißer Strahl schoss aus ihr heraus und tauchte
den Raum für einen Moment in ein gedämpftes Licht.
Das Rauschen hörte auf, und etwas zischte. Dann
ertönte ein lautes Brüllen. Ein Geräusch wie ein Hagelsturm aus
Schuppen, die auf Steine prasselten, erhob sich.
Ich warf einen letzten Blick auf den Verwesenden zu
meinen Füßen. Felix war nun endgültig gestorben und verschwunden.
Zurück blieb nur tote Materie. Felix hatte seinen Körper für immer
verlassen.
Quinton packte mich am Ellenbogen und riss mich
hoch. Mein Knie protestierte mit einem Knirschen, das ich in allen
Gliedern spürte.
»Los!«, brüllte er und zerrte mich zu dem Loch in
der Wand, durch das wir hereingekommen waren.
Ein riesiger Kopf mit zwei Hörnern wie bei einer
japanischen Kriegermaske schob sich durch die Öffnung. Er brüllte
und züngelte mit seiner gespaltenen Zunge, die so lang war wie ich
groß. Das schreckliche Geräusch erschütterte mich bis ins Mark. Wir
wichen angsterfüllt zurück. Adrenalin begann nun mein träge
gewordenes Blut wieder aufzuheizen.
»Andere Seite!«, rief ich und riss Quinton in einem
rechten Winkel zu dem Monsterkopf zur Seite. Der Kopf schob sich
immer weiter in den Raum hinein. Der Hals, auf dem er saß, war so
dick und struppig wie der Stamm einer uralten Zeder. Ein Maul voll
scharf aussehender Zähne schnappte nach uns, erwischte jedoch nur
noch Luft.
Wir rannten durch die unterirdischen Toiletten und
versuchten dabei, das tiefe Wasser am westlichen Ende zu vermeiden.
Doch jede Tür, die früher einmal von hier aus ins Freie geführt
hatte, war schon vor langer Zeit unter Tonnen von Zement begraben
worden. Schon bald wussten wir nicht mehr, wohin.
»Es gibt keinen anderen Ausgang!«, brüllte Quinton
verzweifelt.
»Wir können nicht raus, solange das Monster im
Tunnel ist. Versuchen wir also, ihm auszuweichen. Sobald der
Tunnel frei ist, stürzen wir uns darauf«, antwortete ich keuchend
und zog ihn mit mir in eine marmorne Toilettenkabine.
Das tosende Geräusch, das die Kreatur von sich gab,
als sie in den Raum glitt, wurde schwächer. Wir konnten deutlich
das Spritzen von Wasser in der Nähe von Felix’ Leiche hören. Dann
brüllte das Monster etwas auf Lushootseed, was ich nicht verstand.
Vorsichtig spähten wir aus der Kabine.
Am anderen Ende des Raums schlängelte sich Sisiutl
durch das Wasser. Er schimmerte im Grau und musste etwa neun Meter
lang und dicker als die Totempfähle drau ßen sein. Seine Gestalt
verwandelte sich ständig von einem Schlangenwesen in ein anderes.
Einmal glich er Medusas Schlangenhaaren, ein anderes Mal sah er wie
aus ein Drache und dann wieder wie ein Zerberus mit drei gewaltigen
Köpfen auf schlangenartigen Hälsen.
Plötzlich bewegte er sich ruckartig, stieß einen
zischenden Laut aus, und ein monströser Schlangenkopf tauchte mit
einem lauten Spritzen aus dem Wasser auf. Er sah in unsere
Richtung. Seine geschwungenen Hörner und das von Rillen durchzogene
Gewebe hinter seinem Kiefer waren klar zu erkennen. Die gespaltene
Zunge, die uns zuvor beinahe berührt hatte, kam wieder
herausgeschossen, und die Schlange zischte. Ein weiterer sich
ständig verwandelnder Schlangenkopf erhob sich aus dem Wasser. Die
riesige Kreatur nahm eine feste Schlangengestalt an – eine Gestalt,
die sich in beiden Welten zugleich aufhielt. Dann ringelte sie sich
in ein W. Eine dröhnende Stimme erfüllte den Raum. Sie kam aus dem
mittleren menschlichen Kopf, während sich der Körper mit
wahnwitziger Geschwindigkeit auf uns zubewegte.
»Rur! Dieb! Ladro! Vohr!«, röhrte das Monster und
begann erneut seine Gestalt zu verändern.
»Licht!«, befahl ich Quinton. »Vielleicht können
wir ihn kurzfristig blenden!«
Quinton schaltete die Taschenlampe an und richtete
den Lichtstrahl auf das Ungeheuer. Jetzt sahen wir das
fürchterliche Gesicht mit den tropfenden Fangzähnen und dem
fleischigen Haar, das um seinen breiten Mund wuchs. Die
Schlangenköpfe an beiden Seiten zischten und spuckten vor Wut,
während das mittlere Gesicht für einen Moment vor dem Licht zu
erschrecken schien. Zwei klauenartige Hände legten sich über die
geblendeten Augen. Eine Schimpftirade in einer Kakophonie aus
Sprachen ergoss sich über uns, als wir an dem Monster
vorbeirannten.
Einer der Schlangenköpfe holte aus und versuchte
uns zu fassen. Ich zerrte ein Stück Grau zwischen uns, wobei meine
Schulter die rasche Bewegung fast nicht mitmachte. Der Kopf
durchbrach den Schild, ließ aber nur ein scharfes Zischen vernehmen
und zog sich dann wieder zurück. Er zitterte, als ob er nicht
wüsste, wie ihm geschehen war.
Das Loch befand sich nur wenige Meter von Sisiutls
Leib entfernt. Ich trieb Quinton vor mir her. Im selben Moment
tauchte der nächste Kopf auf und schnappte mit einem Maul voll
nadelartiger Zähne nach uns. An den Seiten blitzten die
gifttropfenden Fangzähne. Ich zeigte der Schlange die Fasanenfeder
und hoffte, dass sie auch hier etwas bewirken konnte. Das Wesen zog
sich zurück, und seine zahlreichen Gestalten schienen nun wie eine
flirrende Fata Morgana über seinem Körper zu schweben. Dann kehrten
sie alle zu Sisiutl zurück, und der Kopf blickte sich verwirrt um.
Das menschliche Gesicht mit dem lippenlosen
Mund hörte jedoch nicht auf zu brüllen, während der gewaltige
Körper wieder in Bewegung kam, um uns zu stellen.
Quinton hechtete als Erster in das Loch, während
ich meine Pistole zog. Sollte die Feder doch plötzlich ihre
magischen Kräfte verlieren, war ich gewillt, alles zu versuchen.
Als ich die Waffe entsicherte, hallte das Klicken im ganzen Raum
wider.
Hastig kletterte ich ebenfalls in den Tunnel. Als
der erste Schlangenkopf hinter mir auftauchte, feuerte ich auf sein
Auge. In der Hitze des Gefechts traf ich zwar nicht die Pupille,
aber die Kugel schlug zumindest in die Nase ein. Das menschliche
Gesicht stieß einen Schmerzensschrei aus, und die Kreatur zuckte
zurück. Ich achtete nicht auf meine schmerzenden Glieder, sondern
versuchte Quinton zu folgen. Sisiutl schrie weiter und warf sich
zornig mit aller Wucht gegen das Loch. Die Mauern bebten.
Offensichtlich hatte ihn mein Schuss nur wütend gemacht. Doch
zumindest hatte ich dadurch einige Sekunden Vorsprung
gewonnen.
So schnell ich konnte, kroch ich den Tunnel hinauf
und riss mir dabei Schultern, Knie und Hände an der rauen
Oberfläche auf. Wieder hörte ich das Prasseln der Schuppen und das
wütende Zischen der Schlangenköpfe. Sisiutl glitt in den
Tunnel.
»Er ist mir auf den Fersen!«, rief ich Quinton zu.
Das Adrenalin durchflutete meinen ganzen Körper. »Klettere in die
Gasse hoch und warte dort auf mich!«
Fangzähne schnappten nach meinen Stiefeln, und ich
trat wie eine Wahnsinnige nach hinten aus.
Vor mir rannte Quinton die Metalltreppe hinauf und
stieß die Stahltüren auf.
Ich wand mich aus dem Tunnel in den offenen Raum am
Fuß der Treppe. Dort rollte ich auf den Rücken, die Waffe noch
immer gezückt. Ein Schlangenkopf schoss aus dem Loch. Ich versetzte
ihm einen harten Tritt.
Der Kopf zog sich für einen Moment zurück und kam
dann wieder herausgeschossen. Diesmal traf ihn ein Kugelhagel, denn
ich feuerte, so schnell ich konnte. Kreischend wich er erneut
zurück. Ich sprang auf und rannte die Treppe hinauf. Oben warf ich
die Tür hinter mir ins Schloss, als der blutende Kopf aus dem Loch
schnellte.
Quinton packte mich an der Hand, und wir rannten
den schmalen Tunnel bis zum Schacht unter der Gasse. Meine
Schultern schmerzten unerträglich, und mein krankes Knie brachte
mich ins Stolpern. Quinton hielt mich gerade noch fest und zerrte
mich mit sich.
Da er meine Hand hielt, konnte ich die Waffe nicht
nachladen. Allerdings war ich mir auch nicht sicher, ob es
überhaupt sinnvoll war, auf Sisiutl zu schießen. Die Kugeln
schienen ihn zwar zu erschrecken, aber mehr bewirkten sie offenbar
nicht.
Wir kletterten aus dem Schacht in die Gasse und
knallten das Gitter auf das Loch. Hinter uns konnten wir deutlich
das Monster hören, wie es blitzschnell heranglitt. Noch immer
pumpte die Furcht Adrenalin durch meine Glieder, sodass ich meine
klatschnasse Kleidung kaum bemerkte, als wir aus der Gasse auf die
Straße rannten.
»Er ist verdammt schnell«, keuchte Quinton.
»Dann lauf schneller!«
Wir hasteten zum Pioneer Square und dann den Yesler
Way entlang. »Wir dürfen uns nicht in die Gassen drängen lassen«,
rief Quinton. »Die scheint er nicht zu verlassen. Wenn wir es
schaffen, ihn in die Sackgasse der Post Avenue
beim Federal Office Building zu locken, können wir ihm
vielleicht entkommen.«
Wir rannten an der Post Avenue vorbei und bogen in
die Western Avenue ein, um die hohen, alten Lagerhäuser zwischen
uns und Sisiutl zu haben. Mein Knie protestierte inzwischen bei
jedem Schritt, aber ich zwang mich dazu, weder langsamer zu werden
noch zu hinken. Quinton kam noch schlechter voran als ich, denn er
sah sich immer wieder panisch nach Sisiutl um – etwas, das ich
nicht tun musste. Das laute Brüllen und Zischen des Zeqwa drang mir
wie Verkehrslärm in die Ohren. Ich konnte sein wütendes Murmeln
hören, wie er Worte in Dutzenden von Sprachen ausspuckte.
Wir hatten inzwischen eine Entfernung von etwa
einem Block zwischen uns und das Ungeheuer gebracht, da Sisiutl
ausweichen musste, um nicht gesehen zu werden, während wir
geradeaus rennen konnten.
Meine Lungen stachen, und ich spürte, wie vereist
der Boden in diesem Teil der Straße war. Sisiutl blieb tatsächlich
in der Post Avenue, wie wir es gehofft hatten. Aber würde es uns
auch gelingen, unseren Vorsprung zu halten und das Monster in der
Marion Street endlich loszuwerden?
Wir rasten aus der engen Western Avenue an der Ecke
der Marion Street zu dem offenen Platz hinter dem Federal Office
Building. Sisiutl stieß einen frustrierten Schrei aus, und der
Boden bebte, als er am Ende der Sackgasse gegen die Mauer des
Gebäudes knallte. Quinton hielt mich noch immer am Handgelenk
fest.
»Er wird es vermeiden, auf den Platz
herauszukommen. Er wird bestimmt in die Kanäle abtauchen.«
»Dann muss er Richtung Bucht«, keuchte ich.
»Stimmt«, erwiderte Quinton und riss mich die
Madison
Street auf der anderen Seite des Gebäudes entlang. Dann drängte er
mich links in die Post Alley, wo wir einen Block weit ohne Pause
rannten.
»Sind wir ihn los?«, fragte Quinton atemlos.
Ich konnte Sisiutls Gebrüll zwar nicht mehr so
deutlich hören wie vorher, aber verschwunden war er noch nicht.
Seine wütenden Flüche schienen sich vielmehr unter der Straße zu
nähern. »Nein, noch nicht«, erwiderte ich.
Quinton nickte und zog mich von der Post Alley auf
die Spring Street, wo er mich zu der Tür unter dem Seiteneingang
von McCormick & Schmick zerrte. Er achtete nicht darauf,
ob uns jemand zusah, als er sie öffnete und mich hindurchschob.
Hastig schloss er die Tür hinter uns, und dann rannten wir durch
die Geisterschwaden unter der First Avenue bis zur letzten Mauer
unter der Seneca Street. Es war die Holzwand zwischen Quintons
Zuhause und dem restlichen Untergrund.
Quinton holte etwas aus seiner Tasche und richtete
es auf die Wand. Diese setzte sich daraufhin langsam in Bewegung,
während wir näher kamen. Er griff in ein Loch in der
Holzkonstruktion und wuchtete seine Hintertür auf. Dann stieß er
mich unsanft durch die Öffnung und folgte, ehe er die Tür hinter
sich zuzog und sogleich mit mehreren Riegeln und Schlössern
sicherte.
Mein Knie begann zu zittern. Quinton legte mir
einen Arm um die Taille und zog mich an sich, während er sich gegen
die Wand lehnte und auf seinen Monitor starrte.
Obwohl wir beide heftig keuchten, versuchten wir
uns so leise wie möglich zu verhalten, um das Ungeheuer nicht auf
uns aufmerksam zu machen. Quinton drückte mich zitternd an sich.
Ich spitzte die Ohren und hielt den Blick starr auf das Grau
gerichtet.
Das Brüllen und die vielsprachigen Flüche waren nur
noch in der Ferne zu hören. Sie schienen sich Richtung Elliot Bay
zu bewegen.
»Er kommt uns nicht nach«, flüsterte ich.
»Stimmt, sieht nicht so aus«, erwiderte Quinton und
hörte auf, auf den Monitor zu starren. Stattdessen lehnte er den
Kopf gegen die Wand. Sein Brustkorb hob und senkte sich. »Ich
dachte schon, das war’s. Heiliger Strohsack …« Er sah mich an und
schlang seine Arme um mich, als ob er nicht vorhätte, mich jemals
wieder loszulassen. »Ich hatte Angst, er hätte dich erwischt. Ich
dachte wirklich, dass dich dieses Ungeheuer fressen würde. Du hast
mich ständig nur vorwärtsgeschoben, und ich habe angenommen, dass
du dadurch zumindest mich retten willst!«
»Letztlich hast du mich gerettet. Wir wollen
hier doch nichts verwechseln«, entgegnete ich. Mein Körper
zitterte, was nicht nur vom Adrenalin und der Kälte kam. Es gibt
Menschen, die es als Kick empfinden, ganz nah am Tod
vorbeizuschrammen. Ich hatte bisher nicht dazu gehört. Doch diesmal
fühlte ich mich für einen Moment wie neugeboren.
Quintons Augen wirkten auf einmal wie verschleiert,
als er mich ansah. Sein Atem ging noch immer schnell. »Wollen wir
nicht?«, fragte er und presste seine Lippen auf meine.
Ich schmiegte mich noch enger an ihn und erwiderte
seinen Kuss. Ein heftiges Verlangen breitete sich zwischen uns aus,
während mir eine leise Stimme Warnungen ins Ohr flüsterte. Hör auf,
hör auf, hör auf …
»Hör auf«, keuchte ich und schob ihn von mir.
»Warum?«
Ich sah ihm in die Augen und hatte plötzlich
schreckliche Angst, dort nicht den Seelenverwandten zu entdecken,
nach dem ich mich sehnte. Doch meine Angst war unbegründet. Eine
unendliche Erleichterung und Freude breitete sich in mir aus. Ich
versuchte, nicht laut loszulachen. »Ich möchte diesmal nur sicher
sein …«
»Ich war mir von dem Augenblick an sicher, als ich
dich getroffen habe.«
Ein Feuerwerk aus pinkfarbenen und goldenen Sonnen
entlud sich in seiner Aura. Meine Welt wurde von dem warmen
Schimmer seiner Zuneigung und seines Verlangens erhellt. Ich lachte
nun doch und küsste ihn. Dann begann ich ihm die nasse Kleidung
abzustreifen, um endlich seinen warmen Körper zu spüren. Ich wollte
ihn ganz nahe bei mir, ihn in mich aufnehmen, ihn in mir
haben.
Wir kamen ins Wanken, als mein Knie auf einmal
nachgab. Lachend fielen wir auf die schmale Matratze seines Betts
und rissen uns gegenseitig die feuchten Kleider vom Leib. Die
Stücke flogen in alle Richtungen, während wir uns bis zu unserer
nackten Haut vorkämpften. Zuerst war unser Liebesspiel voll
forderndem Verlangen. Wir waren beide unendlich erleichtert, noch
am Leben zu sein, und besessen davon, den anderen zu spüren. Lachen
und Stöhnen wechselten sich ab, als wir uns schließlich ineinander
versenkten. Nach einem explosionsartigen Höhepunkt lagen wir
einander erschöpft und verschwitzt in den Armen.
Nach einer Weile lösten wir uns voneinander und
sahen uns an. Vor meinen Augen zeigten sich im Grau Bilder von
funkelnden Fontänen und leuchtenden Glühwürmchen. Ehe ich jedoch zu
lange darüber nachdenken konnte, stand ich auf, suchte Quintons
Klamotten zusammen und warf sie ihm zu. Dann zog auch ich mich
rasch an, wobei ich
wie eine Irre grinste – auch wenn es mir schwer fiel, mein
schmerzendes Knie zu ignorieren.
»Das müssen wir wiederholen. Bei mir«, sagte
ich.
Quinton warf die nassen Klamotten auf einen Haufen
und zog eine trockene Jeans aus einem Stapel Kleidung neben dem
Bett. Er berührte mich an der Schulter, als ich an ihm vorbeiging.
Sein schweißüberströmter Körper schimmerte im Grau golden und
pinkfarben.
»Was?«, fragte er und schüttelte belustigt den
Kopf.
Ich beugte mich zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Da
fragst du noch? Ich will dich mit nach Hause nehmen und vernaschen,
du Idiot.«
»Wann?«
»Jetzt!«
Es war mir egal, dass meine Kleidung nass, zerfetzt
und schmutzig war, dass mein ganzer Körper schmerzte und dass die
Fahrt bis nach West Seattle so lange dauerte, dass ich bis ins Mark
zitterte. Quinton riss mir erneut das nasse Zeug vom Leib, sobald
wir meine Wohnung betreten hatten. Seine Methode, mich zu wärmen,
gefiel mir sehr. Die elektrische Spannung unseres Liebesspiels
tauchte meine Welt in schwindelerregende Wirbel aus leuchtendem
Pink und Gold, bis wir uns schließlich auf meinem zerwühlten Bett
aneinanderschmiegten. Beide zitterten wir vor glücklicher
Erschöpfung und fielen in einen tiefen, erholsamen Schlaf.