SIEBEN
Harper, du solltest besser wieder
herkommen.«
Es war fünf Uhr morgens, sodass ich einen Moment
brauchte, um Quintons Stimme zu erkennen. »Was ist passiert?«,
murmelte ich beinahe automatisch.
»Man hat einen weiteren Toten gefunden. In der Nähe
des Parks.«
Mühsam setzte ich mich im Bett auf. »Welcher
Park?«
»Der zwischen Occidental Avenue und Waterfall
Avenue. Die Polizei hat bereits die Gegend abgesperrt, sodass ich
nicht herausfinden konnte, wen es erwischt hat oder was wirklich
los ist.«
»Du glaubst aber, dass es sich wieder um eine
ähnlich verstümmelte Leiche handelt wie am Donnerstag?«
»Darauf könnte ich wetten.«
Ich stöhnte. »Toll. Ich bin gleich da.«
Ich spritzte mir nur kurz etwas Wasser ins Gesicht,
ehe ich mir mehrere Pullover, Jeans, Stiefel und einen Wollmantel
anzog. Über Nacht war ein wenig Schnee gefallen, und die Luft
schien nicht wärmer zu sein, auch wenn im Radio behauptet wurde,
dass die Temperatur um gute fünf Grad gestiegen sei. Meine Wohnung
lag in einer der kältesten Gegenden der Stadt. Ich nahm an, dass
der Wetterdienst von Boing Field aus berichtete, wo die schier
unendliche
Asphaltwüste des Flughafens die Luft immer ein wenig mehr
anheizte.
Vorsichtig fuhr ich über die vereisten Straßen von
West Seattle, um dann über die Brücke nach Downtown zu gelangen.
Hier gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass es geschneit hatte. Die
Brise, die von Puget Sound kam, war wärmer, wenn auch nicht so warm
wie sonst im Januar.
Als ich bei meinem Büro eintraf, sah ich bereits
einige Polizeiautos, einen Krankenwagen, städtische Einsatzwägen
und ziemlich viele offiziell aussehende Leute, die sich um den
Occidental Park versammelten. Ich stellte den Rover auf meinem
üblichen Parkplatz ab und ging dann einen Block zurück Richtung
Park.
Der Pioneer Square war beinahe leer. Noch war es zu
früh und zu kalt, als dass bereits der übliche Wochenendtrubel
eingesetzt hätte. Das ungewöhnliche Treiben südlich des Platzes zog
deshalb all diejenigen geradezu magisch an, die doch schon auf den
Beinen waren. Auf meinem kurzen Weg traf ich auf Zip und einen
anderen Obdachlosen, den ich in der Nacht zuvor kennengelernt
hatte. Zip winkte mir zu, und ich gesellte mich zu ihm. Vermutlich
waren die beiden so früh hierhergekommen, um die Mülltonnen hinter
den Bars nach Flaschen zu durchsuchen, in denen sich noch ein wenig
Whisky oder Bier befand und die in der Nacht zuvor achtlos
weggeworfen worden waren.
Zip roch, als ob er sich bereits ein paar Schluck
genehmigt hätte.
Wir gingen zu dritt den Block entlang und bogen
gleich neben den Totempfählen in den Occidental Park ein. Unter den
großen Holzstatuen lag eine Gestalt, die laut unter einer Wolldecke
schnarchte. Offensichtlich war für sie das
Wetter nicht zu kalt. Zip und sein Freund blieben neben dem
Schläfer stehen und musterten misstrauisch die Polizisten, während
ich weiterging.
Gerade fuhr ein graubrauner Mini-Van vorbei, der
den städtischen Pathologen gehörte. Der Wagen kam nur in
Schrittgeschwindigkeit voran, sodass ich ihm problemlos durch die
Menge bis zum südlichen Ende des Occidental Park folgen konnte. Er
blieb an der Stelle stehen, wo der Parkplatz auf das Tor des
Waterfall Garden Park am süd östlichen Ende des Blocks traf. Ich
beschloss, mich fürs Erste unauffällig im Hintergrund zu
halten.
Die Morgensonne war noch nicht durch die Wolken
gebrochen. Trotzdem konnte ich deutlich die Umrisse eines
menschlichen Körpers sehen, der dort auf dem Boden lag. Detective
Solis und ein Gerichtsmediziner knieten neben der Leiche. Die
Zeitschichten schienen aus dem Gleichgewicht geraten zu sein und
waren nur noch Zacken, die von Energielinien durchzogen wurden. Die
Energielinien befanden sich in steter Bewegung und verknüpften sich
immer wieder neu miteinander. Offenbar war das graue Energienetz an
dieser Stelle höchst lebendig.
Vorsichtshalber versteckte ich mich hinter einem
der Neugierigen, damit mich der Inspektor nicht entdeckte. Der
Gerichtsmediziner stand nach einer Weile auf und begann eine
Unterhaltung mit einem Mitarbeiter der Spurensicherung, während
Solis noch immer die Leiche anstarrte. Selbst von meiner Position
aus konnte ich erkennen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Als
Solis die wasserabweisende Plane wieder auf die Leiche legte,
zeigte sich, dass der Körper keine Beine mehr hatte. An der Stelle,
wo sie sich normalerweise befunden hätten, legte sich die Plane
nämlich flach auf den Boden.
Auf einmal erhob sich eine dünne Gestalt im Grau
und stieg aus dem Körper. Für einen Moment blieb sie in der Luft
hängen. Sie schien durch die Plane in ihrer Ruhe gestört worden zu
sein und sah sich nun verwirrt um. Ich hatte den Eindruck, als ob
das Wesen nicht sehr lange verweilen, sondern sich schon bald in
Luft auflösen würde – ganz so wie die Erinnerungen, die wir von
unserem Leben haben und die im selben Moment verschwinden, in dem
es für sie keinen Grund mehr gibt, zu bleiben.
Ich betrachtete das Gesicht des Geistes und zuckte
erschreckt zusammen. Die Frau sah mich für einen Moment an und
löste sich dann langsam auf. Nun wusste ich, wer unter der Plane
lag: Es war Jenny Nin. Ihre Mütze war verschwunden, und ihr rechter
Arm schien verstümmelt. Die Hand, die Quinton noch am Abend zuvor
die Flasche dargeboten hatte, fehlte. Nur ein blutiger, angenagter
Stumpf war zurückgeblieben. Und auch ihre Oberschenkel endeten im
Nichts.
Etwas klammerte sich wie ein zerfetzter Umhang an
ihre Gestalt. Ihr Gesicht war blau und drückte große Überraschung
aus. Ich beobachtete, wie Jenny immer mehr verschwand. Hoffentlich
würde ich sie nie wiedersehen – ganz gleich, in welcher Gestalt …
Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als aus der Nähe einen
Blick auf ihre Leiche zu werfen, um sicherzugehen, dass meine
Vision auch stimmte.
Ich sah, wie sich Solis erhob und seine
Aufmerksamkeit wieder auf den Tatort richtete. Er befahl seinen
Leuten, die Leiche wegzubringen. Die pulsierende Linie um seinen
Körper zeigte, wie aufgewühlt er in Wirklichkeit war, auch wenn er
sich nach außen wie immer cool gab. Ich durfte ihm auf keinen Fall
begegnen, denn ich hatte keine Lust,
mich seinen Fragen zu stellen. Also drehte ich mich um und trat
hinter den Schwertwal-Totempfahl. Von dort aus ging ich geradeaus
weiter, um so die Holzfigur zwischen mir und Solis’ scharfen Augen
zu halten, bis ich mich weit genug von ihm entfernt hatte. Als ich
schließlich um eine Ecke bog, eilte ich zu meinem Auto zurück.
Falls ich es schaffte, schneller als der Gerichtsmediziner in die
Pathologie zu gelangen, konnte ich vielleicht beobachten, wie die
Leiche eingeliefert wurde, und so noch ein paar Dinge über Jennys
Tod herausfinden.
Die glatte Fahrbahn machte ein rasches Vorankommen
schwer. Am liebsten wäre ich den Hügel hinauf zu Harborview gerast,
aber ich wusste, dass die Reifen auf der glatten Straße nicht
griffen. Doch ich hatte Glück. Ich hatte einen kleinen Vorsprung
und schaffte es tatsächlich, noch vor dem Leichentransport auf dem
Parkplatz einzutreffen. Da ich auch keine Bahre aus meinem Wagen
hieven musste, gelang es mir, noch vor den Männern und ihrem
neuesten Fall ins Gebäude und dort in den Keller zu eilen.
Das Leichenschauhaus war wie immer voller
Gespenster. Doch diesmal schienen weniger da zu sein als beim
letzten Mal. Keiner im Grau achtete auf mich. Die Geister hier
besaßen kaum mehr genug Bewusstsein, um mich wahrzunehmen. Der Ort
selbst hatte etwas Abweisendes an sich – alt, steril und in der
typischen Manier möbliert, wie es für solche Institutionen üblich
war. Niemand schien die kalte Luft zu bemerken, und auch von den
ständig anwesenden Gestalten im Grau ahnte außer mir keiner
etwas.
In dieser unangenehmen Atmosphäre kam ich also
unten an, als gerade die Nachtschicht zu Ende ging. Der
Bereitschaftsdienst
sah erschöpft und müde aus, und keiner kümmerte sich um mich, als
ich so langsam wie möglich auf den Empfangstisch zuging.
Hinter mir öffnete sich der Lift, und die Männer
aus dem Leichenwagen kamen mit ihrer Rollbahre den Flur entlang.
Sie blieben am Empfang stehen, und ich stellte mich unauffällig
hinter sie. Während sie dem Mann hinter dem Tisch die nötigen
Papiere reichten, starrte ich auf die Bahre und die Plane, unter
der Jennifer Novoy lag.
Durch das Plastik war nichts zu sehen. Aber im Grau
klammerten sich genügend Fasern und Fetzen an die Plane, um mir zu
zeigen, dass ich recht gehabt hatte. Wie zuvor zeigten sich auch
bei Jenny weiche Linien, die wie haarige Fäden an der Plane
klebten. Dieselben Fäden hatte ich im Loch in der Tunnelwand und an
dem Zombie gesehen. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht die
gleiche Wirkung auf Jenny haben würden wie auf den Zombie. Genau
das wollte ich herausfinden, auch wenn ich dafür ein gewisses
Risiko eingehen musste.
»Hi«, sagte ich. »Ist das Solis’ neue Leiche aus
dem Occidental Park?«
Die drei Männer, die um den Tisch standen, sahen
verblüfft auf. »Äh … ja«, erwiderte einer der Typen. »Warum wollen
Sie das wissen?«
Ich holte meine Detektivlizenz heraus und zeigte
sie ihnen so rasch, dass sie meinen Namen nicht lesen konnten. »Ich
bin gerade mit einem Fall beschäftigt, der mit diesem hier zu tun
haben könnte. Solis meinte, dass ich mir die Leiche gerne einmal
ansehen könne.«
Die zwei Männer aus dem Leichenwagen sahen sich an
und zuckten dann lässig mit den Achseln. Der Typ hinter dem Tisch
seufzte. »Am besten legen wir sie erst einmal in
den Kühler – okay? Richards ärgert sich sonst, wenn sie länger als
nötig hier draußen bleibt.«
Die Männer mit der Bahre nickten und schoben sie
durch die Schwingtüren in die Leichenhalle hinüber. Der Mann am
Empfang – ein untersetzter Bursche mit einer Hautfarbe wie die
Rinde von Erdbeerbäumen und kurzen schwarzgrauen Haaren – nahm ein
Klemmbrett, an das er bereits eine ganze Reihe von Formularen
geheftet hatte, und folgte den beiden. Mir gab er ein Zeichen,
ebenfalls zu kommen.
Wir gingen an mehreren Türen vorbei, bis wir in den
Kühlraum kamen. Die kalte Luft war wärmer als die Temperaturen, die
augenblicklich draußen herrschten. Schließlich wollte man die Toten
nicht einfrieren.
Die beiden Männer waren gerade dabei, die Leiche
von der Bahre auf einen Stahltisch zu hieven, der in der Mitte des
Raums stand. Dann zogen sie die Plastikplane beiseite und
überließen den Rest dem Mann mit dem Klemmbrett. Er unterzeichnete
ein Blatt Papier und reichte es den beiden, die ebenfalls
unterschrieben. Dann gab er ihnen eine Kopie und behielt die
restlichen Papiere für sich. »Okay, jetzt ist sie meine
Verantwortung. Ihr könnt los.«
Die zwei Männer murmelten etwas Unverständliches
und fuhren dann mit ihrer Bahre davon.
Der untersetzte Mann musterte mich neugierig.
»Kenne ich Sie?«
Das verblüffte mich ein wenig. Ich hatte ihn zwar
auf den ersten Blick erkannt und wusste, dass ich ihn bereits das
letzte Mal gesehen hatte, als ich im Leichenschauhaus gewesen war.
Aber dass er sich an mich erinnerte, überraschte mich. »Kann schon
sein. Ich bin Privatdetektivin. Einige meiner Nachforschungen enden
immer wieder hier.«
Er sah mich für einen Moment stirnrunzelnd an. Dann
schnalzte er mit den Fingern. »Ja, natürlich! Es war letzten
Oktober, stimmt’s? Wie viele Leichen müssen Sie sich denn jährlich
so ansehen, wenn ich fragen darf?«
»Sicher wesentlich weniger als Sie.«
Er lachte. »Ich glaube, ich sehe in einer Woche
mehr Leichen als die meisten Horrorfilm-Fans in einem ganzen Jahr.
Also – wollen Sie sich diese jetzt zu Gemüte führen, damit wir hier
rauskommen? Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir ist
kalt.«
»Ja, bringen wir es hinter uns.«
Er zog blaue Latexhandschuhe über und schlug mit
seinen großen weichen Händen die Plane beiseite. Es wirkte fast so,
als würde er einem genau vorgeschriebenen Zeremoniell folgen.
Irgendwie kam es mir wie der Ausdruck einer letzten traurigen
Ehrbezeugung vor.
Ich betrachtete Jennys blass bläuliches Gesicht und
zuckte innerlich erneut zusammen, als ich die Überraschung darin
sah. Was auch immer sie getötet haben mochte – es war zu schnell
gewesen, als dass sie noch einen Schrei hätte ausstoßen können. Die
weichen, grauen Fäden wandten sich, wie ich vermutet hatte, um ihr
Gesicht und ihre Brust, wurden aber am restlichen Torso weniger.
Sie bildeten diesmal kein Netz, wie ich das am Zombie gesehen
hatte, sondern erinnerten eher an einen von Motten zerfressenen
Umhang, der sich bereits in seine Einzelfäden aufzulösen begann. Es
war nur wenig Blut zu erkennen. Jenny sah fast so aus, als ob sie
einfach erfroren wäre – wenn da nicht ihre verblüffte Miene gewesen
wäre. Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass sie nicht mehr
aufstehen und mich später einmal heimsuchen würde, und das
erleichterte mich sehr.
»Und?«, fragte der Mann.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich hatte nicht
vor, ihm eine ausführlichere Antwort zu geben. Lügen waren nicht
mein Ding. Doch wenn ich sie identifiziert hätte, wäre ich
gezwungen gewesen, ein Formular zu unterschreiben, das Solis
garantiert auf meine Spur gebracht hätte.
Der stämmige Mann nickte und beugte sich über den
Leichnam, um eine einstweilige ID-Karte an ihn zu heften. Dann
legte er sanft die Plane über Jenny Nin und führte mich aus dem
Raum.
»Haben Sie in letzter Zeit noch andere Leichen wie
diese gesehen?«, wollte ich wissen.
»Was meinen Sie mit ›wie diese‹? Sie sind alle tot,
und in letzter Zeit hatten wir mehr Obdachlose als sonst. Aber das
ist nichts Ungewöhnliches, wenn das Wetter so kalt ist.«
»Vergangenen Donnerstag wurde hier eine Leiche in
einem ähnlichen Zustand eingeliefert. Es gab ebenfalls wenig Blut,
sie war sehr kalt, und einige Gliedmaßen fehlten. Ein gewisser
Robert Cristus, so viel ich weiß«, half ich ihm auf die
Sprünge.
Wir traten durch die Schwingtüren und blieben dann
vor dem Empfangstisch stehen. Der Pathologe sah mich nachdenklich
an.
»Ja … Jetzt, wo Sie es sagen. Sehr ähnlich …
zumindest auf den ersten Blick. Sind Sie denn auch an diesem Fall
interessiert?«
»Ja, an dem und an diesem hier. Ehrlich gesagt,
hätte ich gerne gewusst, ob es vielleicht noch andere Fälle wie die
beiden gegeben hat – mit einem ähnlichen Zustand des Leichnams und
ähnlichen Todesumständen.«
Der Mann starrte mich an. Ich warf einen Blick auf
sein Namensschild, wo in großen Buchstaben »Fishkiller« stand,
gefolgt von zwei kleiner geschriebenen Wörtern, die ich nicht
entziffern konnte.
Er runzelte die Stirn und trat hinter seinen Tisch,
wo er das Klemmbrett ablegte. Dann warf er einen Blick auf den
Computerbildschirm und setzte sich. »Ich glaube schon … Ich bin mir
zwar nicht ganz sicher, aber ich denke, da gab es noch ein paar
andere Fälle. Allerdings müsste ich erst nachsehen. Sie waren alle
obdachlos, hatten viel Blut verloren, das aber nirgendwo zu finden
war. Außerdem wiesen sie alle abgebissene oder fehlende
Extremitäten auf … Uns wurden auch ein oder zwei Gliedmaßen
eingeliefert. In ähnlichem Zustand, aber ohne die dazugehörigen
Körper.«
»Gehört dazu auch das Bein, das man in der Baugrube
auf der Occidental Avenue in der Nähe von Royal Brougham gefunden
hat?«, wollte ich wissen.
»Ja, das auch. Ebenfalls ein ähnlicher Fall
…«
Ich hatte nun offensichtlich sein Interesse
geweckt, denn er schien nachdenklich geworden zu sein. Also
entschloss ich mich, einen weiteren Köder auszulegen, um zu testen,
ob er wirklich so neugierig war, wie ich vermutete.
»Glauben Sie, dass es vielleicht auch noch frühere
Todesfälle geben könnte, die sich mit diesen hier vergleichen
lassen?«
Offenbar ohne es selbst zu bemerken, wanderten die
Finger des Mannes zur Tastatur. »Vielleicht …« Er begann eifrig
etwas einzutippen.
Während er abgelenkt war, sagte ich wie nebenbei:
»Interessant … Was steht auf Ihrem Schild?«
»Äh … Ja. Nennen Sie mich am besten Fish. Offiziell
hei ße ich zwar Reuben Arthur Fishkiller, aber … Na ja, selbst
für einen Indianer ist das kein besonders schöner Name. Er
bedeutet nämlich im Grunde ›miserabler Fischer‹. Man soll Fische
schließlich nicht einfach töten, sondern geschickt fangen.«
»Sie könnten Ihren Namen doch ändern lassen.«
»Das würde mir meine Mutter nie verzeihen. Sie
hasst sowieso schon, was ich so mache. Sie hasst, wo ich wohne und
wo ich arbeite. Sie hält mich für einen schlechten Indianer, weil
ich mit Toten arbeite. Verseucht nennt sie mich, wissen Sie? Die
Toten und die Lebenden sollen sich nämlich nicht in die Quere
kommen.«
»Ich kann Ihre Mutter verstehen.«
Er nickte langsam, während er weiterhin etwas
eintippte. »Ja, ich auch. Aber es fasziniert mich eben. Ich finde
die forensische Pathologie unglaublich spannend. Ich mag zwar auf
der Karriereleiter noch recht weit unten stehen, aber ich habe das
Gefühl, als ob ich den Toten helfen könnte, ihren Frieden oder
Gerechtigkeit oder so etwas zu finden. Ich weiß, das klingt ein
bisschen schnulzig, aber heutzutage tendieren wir doch dazu, den
Menschen einfach wegzuwerfen. Und dann jammern wir darüber, wie
leer unser Leben geworden ist. Eine ziemlich kaputte
Gesellschaft.«
»Sie meinen die amerikanische?«
»Ja.« Er lachte. »Wie Sie sehen, bin ich wirklich
ein schlechter Indianer. Manchmal gehen mir meine eigenen Leute
verdammt auf die Nerven. Ich finde, dass einige von ihnen viel zu
lange und viel zu stur an bestimmten Traditionen festhalten. Sie
werden zwar herumgeschubst und nicht ernst genommen, aber trotzdem
unternehmen sie nichts dagegen, weil sie sich in Wahrheit nicht
ändern wollen. Das mit den Reservaten, mit dem Sozialstaat – das
ist doch alles das reine Chaos. Aber wenn wir vorschlagen, uns um
uns selbst zu kümmern, dann dürfen wir das nicht, weil es uns die
Regierung verbietet oder weil unsere Stammesältesten behaupten,
dass wir Traditionen zerstören würden. Wir sitzen immer zwischen
allen Stühlen. Es ist schwer, mit der Natur in Einklang zu leben
und die Traditionen nicht zu vergessen, wenn man gleichzeitig in
der heutigen Welt überleben will. Aber genau das wollen wir doch
alle – irgendwie überleben. Meine Familie war sehr stolz, als ich
aufs College ging. Aber dann waren sie entsetzt, als sie erfuhren,
was ich studieren wollte … Ha! Volltreffer!« Er lehnte sich zurück
und grinste mich triumphierend an.
»Was?«, fragte ich und lächelte. Sein Grinsen
wirkte ansteckend.
»Ich habe etwas gefunden. Es gab schon einmal
einige ähnliche Fälle nach dem Erdbeben 1949. Ebenfalls in der
Gegend um Pioneer Square, die damals auch ziemlich schlimm
verwüstet wurde. Genau wie 2001. Die alten Gebäude stehen auf
aufgeschüttetem Watt und bewegen sich immer wieder, sodass manchmal
seltsame Dinge zum Vorschein kommen. Vielleicht sind das meine
Vorfahren, die sich an euch rächen wollen«, fügte er mit einem
Zwinkern hinzu. »Sie wissen bestimmt, dass Doc Maynard Häuptling
Sealth dafür bezahlt hat, die Stadt nach seinem Namen zu benennen,
obwohl so etwas für einen Indianer ein schlechtes Omen bedeutet.
Denn damit bindet er seinen Geist an das, was nach ihm benannt ist.
Als der alte Sealth starb, ist übrigens keiner der Weißen zu seiner
Beerdigung gekommen. Ein mieser Deal.«
»Hat der Häuptling nicht etwas über die Geister der
Indianer gesagt, die unsere Stadt heimsuchen würden?«,
fragte ich, da ich mich vage zu erinnern glaubte, so etwas einmal
gelesen zu haben.
Fish lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nun … Da
gibt es eine ganz hübsche Rede, die ihm zugeschrieben wird, die er
aber meiner Meinung nach nie gehalten hat. Ich glaube nicht, dass
er derart blumig gesprochen hätte. Aber das Zitat, auf das Sie
anspielen, lautet folgenderma ßen – wir mussten es alle in der
Stammesschule lernen: ›Diese Ufer werden eines Tages von den
unsichtbaren Toten meines Stammes wimmeln. Wenn eure Kindeskinder
sich allein auf dem Feld glauben, allein in einem Laden, allein auf
einem Pfad oder allein in einem stillen Wald, so werden sie doch
nicht allein sein. Nachts, wenn die Stra ßen eurer Städte und eurer
Dörfer still daliegen und niemand mehr umherzieht, so werden in
Wahrheit doch diejenigen zurückkehren, die einmal dieses schöne
Land mit Leben erfüllten und es noch immer lieben.‹ Klingt fast wie
eine Drohung, finden Sie nicht?«
Ich blinzelte. Der alte Häuptling hatte
offensichtlich mehr gewusst, als man annahm. Auch ich wusste
schließlich, dass die Geister seines Volkes noch immer durch weite
Teile von Seattle zogen. Ich begegnete ihnen fast täglich. »Für
mich klingt das traurig – vor allem wenn man bedenkt, dass er
Angehöriger eines Volkes war, das die Toten und die Lebenden nicht
vermischt sehen möchte.«
»Oh, nein. Da verstehen Sie etwas falsch. Da geht
es nur um die Leichen. Bei uns gelten die Vorfahren und andere
Geister als ständig präsent. Zumindest behaupten das meine Mutter
und meine Großmutter. Ich selbst weiß nicht so recht, was ich
glauben soll. Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob ich als Toter
die ganze Zeit hier herumhängen möchte, auch wenn ich nichts zu tun
hätte.«
»Das werden Sie erst erfahren, wenn Sie es einmal
ausprobiert haben«, erwiderte ich lächelnd.
»Ja, vermutlich. Aber das würde ich lieber noch ein
Weilchen aufschieben.«
Wir konnten hören, dass die Leute von der
Tagesschicht eintrafen. Fish war für einen Moment abgelenkt, und
ich beschloss, unbemerkt das Weite zu suchen, ehe jemand auf die
Idee kam, mich irgendwelche Formulare unterschreiben zu
lassen.
Es beunruhigte mich, dass es bereits fast sechzig
Jahre zuvor ähnliche Todesfälle gegeben hatte. Alle Hinweise
deuteten auf ein schon seit langer Zeit immer wieder auftretendes
übernatürliches Phänomen hin. Zumindest auf den ersten Blick schien
Quinton mit seiner Theorie, dass Vampire dahintersteckten, recht zu
haben.
Die Vorstellung, mit Edward Kammerling ein Gespräch
unter vier Augen führen zu müssen, sagte mir zwar überhaupt nicht
zu, aber im Moment sah es ganz so aus, als ob mir keine andere Wahl
blieb. Ich konnte es mir nicht leisten, mit den anderen Vampiren zu
sprechen, ohne zuerst Edward zu konsultieren, denn das würde seinen
Ärger erregen. Unsere augenblickliche Beziehung bestand darin, dass
ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, während er sich immer
wieder darum bemühte, mich in seinen Bannkreis zu ziehen.
Ich nahm zwar an, dass ich zumindest eine kleine
Überraschung im Ärmel hatte, die ihn bei unserer ersten
Unterhaltung dazu zwingen würde, Distanz zu wahren, aber lange
würde das bestimmt nicht andauern. Hoffentlich würde ich es nicht
eines Tages bereuen, meinen Joker bereits jetzt eingesetzt zu
haben, aber man konnte so etwas schließlich nicht für immer
aufbewahren.
Ich verließ Harborview mit gemischten Gefühlen. Die
Informationen, die mir Fish geliefert hatte, und die deutliche
Empfindung, dass Jenny Nin das Leichenschauhaus nicht wieder
verlassen würde, zeigten mir zum einen, dass es keine akute
Bedrohung gab, wiesen aber zum anderen darauf hin, dass wir es
tatsächlich mit einer Art von Serie zu tun hatten. Um mehr zu
erfahren, musste ich in die Höhle meines meist verhassten Löwen.
Dieser Löwe stellte eine echte Bedrohung dar, da er mich schon
lange als Beilage für eine seiner Mahlzeiten auserkoren
hatte.
Ich fuhr zu meinem Büro zurück und wählte dabei den
Weg am Occidental Park entlang. Dort war die Polizei inzwischen
damit beschäftigt, aufzuräumen und den Tatort wieder für alle
zugänglich zu machen. Solis war nirgendwo zu sehen. Ich konnte mir
vorstellen, dass ihn diese Todesfälle nicht gerade erfreuten. Aber
vermutlich konnte er nicht viel tun, um die Akten nicht schließen
zu müssen.
Ohne das Wissen, das ich inzwischen besaß, war es
logisch, von einem normalen Todesfall in Folge einer extremen
Kälteeinwirkung auszugehen. Selbst wenn die Fakten ein wenig
merkwürdig scheinen mochten – vor allem, wenn man an die Bisswunden
dachte -, konnte man sie durch herumstreunende Hunde erklären. Die
Leichen mochten zwar recht schrecklich aussehen, aber so etwas kam
vermutlich nicht selten vor. Ich hatte schon lange verstanden, dass
für viele eine mehr oder weniger passende Erklärung wünschenswerter
erschien als die Wahrheit.
Von meinem Büro aus rief ich Edwards Sekretärin an.
Es war Samstag, und deshalb meldete sich ein Anrufdienst. Die Dame
versicherte mir, dass sich Mr. Kammerling sobald wie möglich mit
mir in Verbindung setzen würde.
Meine Gedanken wanderten zu Will, und wie es der
Zufall wollte, klingelte in diesem Moment mein Handy. Auf dem
Display stand seine Nummer. Ich war mir zwar nicht sicher, ob ich
ihn sprechen wollte, aber ich hob trotzdem ab.
»Hallo, Will.«
Der fehlende Schlaf und das Mitgefühl, das ich für
Jenny Nin wegen ihres schrecklichen Todes empfand, schlugen mir
schwer aufs Gemüt. Ich wusste nicht, was Will von mir wollte. Aber
ich hatte auf keinen Fall vor, die Stille, die zwischen uns
eingetreten war, mit irgendwelchen sinnlosen Plaudereien zu
füllen.
»Hallo, Harper. Ich möchte mich entschuldigen«,
begann er. »Weil ich so übereilt reagiert habe und ausgeflippt bin.
Ich weiß inzwischen, dass die Dinge nicht so sein können, wie sie
im ersten Moment für mich aussahen.«
Da die Dinge in Wahrheit sehr wohl so waren, wie
sie ausgesehen hatten, erwiderte ich nichts.
»Das ist alles ziemlich schwer.«
Ich wusste, dass er von mir erwartete, ihm die Hand
zu reichen. Doch ich wollte nicht. Ich stand noch immer unter
Schock, in den sich inzwischen auch Wut darüber mischte, wie unser
letztes Treffen geendet hatte, und ich hatte nicht vor, ihn bereits
nach einigen wenigen Worten der Entschuldigung vom Haken zu
lassen.
»Ich hatte gehofft«, fuhr er fort, »dass du
vielleicht mit mir frühstückst. Ich bin momentan im Endolyne
Joe.«
»Vorhin hat es auf dem Hügel geschneit«, sagte ich.
»Und ich bin bereits im Büro. Ich habe eigentlich keine Lust,
wieder über die Brücke nach Fauntleroy hinunterzufahren, wenn ich
ehrlich bin.«
»Der Schnee ist hier nicht so wild, und außerdem
kommen
dadurch weniger Leute. Wir hätten die Möglichkeit, in Ruhe zu
reden.«
Ich runzelte die Stirn. Will bettelte, was ich von
ihm nicht gewöhnt war und auch nicht sonderlich schätzte. Aber wir
hatten noch einige Rechnungen offen, weshalb ich es für das Klügste
hielt, die Gelegenheit zu nutzen – entweder um unsere Beziehung
nochmal zu retten, oder um sie für immer zu beenden.
»Also gut. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen
und komme dann so schnell es geht.«
Einer der Gründe, warum ich meinen alten Rover so
schätzte, waren sein Allrad-Antrieb und seine ziemlich robusten
Reifen. Sie hätten mir zwar nicht viel geholfen, wenn ich wie eine
Wahnsinnige gefahren wäre, aber das hatte ich auch nicht vor. Ich
hatte schließlich bereits genügend SUVs im Graben landen sehen,
weil sie nach dem Sturm und bei den vereisten Straßen nicht
achtgaben.
Es gelang mir mühelos, die Strecke hinter mich zu
bringen, obwohl ich zwischendurch über einige Eisflächen fuhr, die
auf den ersten Blick so aussahen, als ob es sich nur um Schnee auf
der Straße handeln würde. An den Stellen, wo der Fauntleroy Way die
Küste entlang verläuft, um dann den Hügel hinaufzuführen, auf dem
ich wohnte, gab es immer wieder schattige Abschnitte, die ziemlich
gefährlich werden konnten. Zum Glück war der Parkplatz von
Endolyne Joe’s tatsächlich fast leer, und auch im Café sa
ßen nur wenige Gäste.
Offiziell heißt die Gegend Fauntleroy, aber das
Viertel, das sich südlich der Fährenanlegestelle befindet, nennt
man Endolyne, was wie »End o’ line« ausgesprochen wird. Hier endete
bis in die fünfziger Jahre die Straßenbahnlinie,
die danach in der ganzen Stadt eingestellt wurde. Das Lokal hatte
seinen Namen angeblich von einem berüchtigten Frauenhelden, der als
Schaffner der Straßenbahn Endolyne Joe genannt wurde, aber ich war
mir nicht sicher, ob ich dieser Geschichte Glauben schenken
sollte.
Wieder einmal wartete Will an einem Tisch in einer
warmen Ecke, während die wenigen anderen Gäste an der Theke saßen,
wo sie nur ein paar Schritte von der blauweiß gekachelten Küche
entfernt waren. Ich hatte zwar Hunger, aber keine Lust, in Wills
Gegenwart etwas zu essen. Also bestellte ich einen Kaffee. Will
fasste nach meinen Händen, und ich erlaubte ihm, sie zu nehmen,
auch wenn ich ihm nicht entgegenkam. Bei unserer Berührung
verspürte ich eine Kälte, die nichts mit dem Schnee vor dem Fenster
zu tun hatte.
»Harper, es tut mir so leid. Ich habe mich
unmöglich verhalten.«
»Ich weiß nicht … Auszuflippen scheint mir recht
normal zu sein, wenn man bedenkt, was wir erlebt haben. Aber mich
unter dem Viadukt einfach allein stehen zu lassen … Das war etwas
anderes.« Erst als ich die Worte ausgesprochen hatte, wurde mir
bewusst, wie wütend, traurig und enttäuscht ich war. Und wie wenig
es mir ausmachte, wenn ich ihn nun meinerseits verletzte.
Will schüttelte den Kopf und sah mich betroffen an.
»Ich weiß. Es war … Es war scheußlich von mir. Ich war so
schockiert von dem, was ich zu sehen glaubte …«
Der Kellner kehrte mit zwei großen Bechern Kaffee
und einem Stück Mokkakuchen für Will zurück. Ich entzog Will meine
Hände und hielt mich an meinem Becher fest. Ein rascher Blick ins
Grau zeigte mir, dass von den blauen Fasern, die ich an seinen
Händen gesehen hatte, nichts
mehr zu erkennen war. Mein Unbehagen wurde deshalb allerdings
nicht geringer.
»Was glaubst du denn, gesehen zu haben?«, fragte
ich.
Er sah sich verunsichert um. Der Energieschimmer,
der ihn umgab, nahm für einen Moment eine grüne Farbe an und
verblasste dann. »Nicht so wichtig. Es hat sowieso nicht
gestimmt.«
Ich hatte nicht die Geduld, diplomatisch zu sein.
»Vielleicht hat es gestimmt. Vielleicht war das Ding, das du
gesehen hast, tatsächlich ein Zombie, und vielleicht habe ich es
tatsächlich erledigt. Vielleicht hast du dir gar nichts
eingebildet.«
Will war wie vom Donner gerührt und setzte sich
gerade hin. »Was?«
Ich zwang mich dazu, nicht allzu hysterisch oder
wütend zu klingen. »Ich weiß nicht, was du meinst, gesehen zu
haben, und ich weiß auch nicht, welche Art von Rechtfertigung du
dir zurechtgelegt hast. Aber es lässt sich nicht leugnen. Zwei
Monster haben uns auf der Straße belästigt, und ich habe einem von
ihnen den Garaus gemacht. Für dich sahen die beiden wie Penner aus,
aber für mich waren es ein haariger Mann und ein lebender Toter.
Und der Zombie musste verschwinden. Und das waren sie auch. Falls
du fragen willst: Ich bin nicht verrückt. Ich sage dir nur die
Wahrheit. Ich spreche mit Geistern, und ich arbeite für Monster.
Das ist das große, hässliche Geheimnis, hinter das du immer kommen
wolltest. Jetzt weißt du es.«
Ich lehnte mich mit meinem Kaffeebecher zurück und
starrte ihn ausdruckslos an, während ich auf seine Antwort
wartete.
Will sah mich ebenfalls an. Er wirkte fassungslos
und war sehr blass geworden. Das Licht, das von den gelben Wänden
im Lokal abstrahlte, ließ sein silbergraues Haar seltsam
butterfarben schimmern. Er sah auf einmal sehr jung, verwirrt und
auf charmante Weise streberhaft aus, wie er mich so durch seine
Brille musterte. Ich hatte fast das Gefühl, einem Welpen einen
Fußtritt verpasst zu haben.
»Warum?«, brachte er schließlich hervor.
»Warum was?«, erwiderte ich etwas milder gestimmt.
»Warum ich für solche Kreaturen arbeite? Warum ich dir das alles
erst jetzt erzähle? Warum ich gelogen habe?«
»Warum bist du so?«
»Ich bin nicht so, sondern ich sage dir nur
die Wahrheit – auch wenn die vielleicht nicht angenehm ist. Genau
deshalb spreche ich auch so ungern über meine Fälle. Deshalb
verschwinde ich immer wieder, und deshalb scheinen in meiner
Umgebung immer wieder so schreckliche Dinge zu passieren. Du kannst
mir glauben – es gefällt mir auch nicht, aber so ist es nun einmal.
Es hat nichts Nettes oder Angenehmes an sich, sondern es ist brutal
und verdammt unangenehm, und ich wünschte mir, dass ich nichts
damit zu tun hätte. Aber ich kann mich nicht davon befreien. Also
muss ich das Beste daraus machen und versuchen, zu verhindern, dass
sich dieses Hässliche noch weiter ausbreitet. Genau das habe ich
auch Donnerstagnacht getan.«
»Indem du diese … Indem du diese Kreatur zerfetzt
hast?« Will fiel es nicht leicht, die Worte auszusprechen. Die
Energie um ihn herum wand sich gequält und leuchtete in grellen
Farben auf – in Rot, in Grün, in Orange und in einem schrillen
Blau. »Indem du sie also zerfetzt hast, hast du etwas … etwas
verhindert … oder besser gemacht?«
Ich hatte bereits einmal versucht, ihm mein Leben
so zu präsentieren, dass er es verstand, und hatte kläglich
versagt. Auch diesmal konnte ich deutlich sehen, dass es sinnlos
war. Er verstand mich nicht. Weshalb sollte ich noch viel Energie
darauf verschwenden, mich zu wiederholen? »Ja«, antwortete ich
also.
»Aber … Was ist pass…«
»Was glaubst du denn, was passiert ist?«,
unterbrach ich ihn ungeduldig. Ich beugte mich vor und starrte ihn
finster an. Am liebsten hätte ich ihm einen Schlag verpasst, um
zumindest diesen pulsierenden, vielfarbigen Sturm, der seinen
Körper umgab, zu bändigen. Aber das war natürlich nicht
möglich.
»Du … Ich weiß nicht.« Er sackte in sich zusammen.
»Ich weiß nicht, was du getan hast. Ich habe nur gesehen, dass du
in ihn hineingefasst hast und er … auseinandergefallen ist. Und
dann war da plötzlich Licht, und er war verschwunden.«
Ich nickte. »Ja, so war es in etwa.«
Die Farben um ihn herum verwandelten sich in ein
schmutziges Olivgrün, das wie giftiger Rauch um ihn hing. Er sah
auf einmal fast eingefallen aus. »Wie oft? Wie oft passiert so
etwas?«
Ich wollte ihm gerade antworten, dass solche
Vorfälle eigentlich nicht zu meinem Alltag gehörten, als ich zu
rechnen begann. Wenn ich es mir recht überlegte, war die Anzahl der
verstörenden und furchtbaren Vorfälle, mit denen ich immer wieder
zu tun hatte oder die ich beobachtete, erschreckend groß. Der
Zombie war im Grunde recht harmlos gewesen. Zumindest war es mir in
diesem Fall gelungen, einen Geist zu befreien. Ich schwieg zu
lange, und Will bemerkte, wie ich innerlich rechnete.
Er schüttelte den Kopf. »Ich … Ich kann mit so
etwas nicht leben. Ich kann solche … solche Abgründe nicht
ertragen. Das ist zu viel für mich.«
In mir tobte es, doch ich schaffte es, nach außen
hin ruhig zu bleiben. »Eine solche Wahl habe ich nicht. Ich muss
damit leben.«
»Verstehe … Dann … Es tut mir leid. Aber dann hat
das keinen Sinn mit uns. Es wird nicht funktionieren, Harper. Es
tut mir leid. Wirklich.«
»Ja, ich weiß. Ich wäre eine tolle Frau, wenn es da
nicht diese Geister und die verrückten Dinge gäbe.« Will rutschte
auf seinem Stuhl hin und her, und ich hob eine Hand, um ihn
aufzuhalten. »Nein. Ich glaube, diesmal ist es an mir, als Erste zu
gehen.«
Ich stand auf, wobei ich noch immer meinen
Kaffeebecher in der Hand hielt. Als der Kellner vorbeikam, drückte
ich ihn ihm in die Hand. »Das will ich nicht mehr.« Dann sah ich
Will an. Für einen Moment überlegte ich mir, ob ich ihm in
bewährter Hollywoodmanier einen theatralischen Abschiedskuss geben
sollte, entschied mich aber dagegen. »Es tut mir auch leid, Will.
Ich liebe dich, aber es ist eindeutig: Wir gehören nicht
zusammen.«
Ich fühlte mich ziemlich schäbig, als ich das Café
verließ. Denn obwohl ich wütend und tief verletzt war, empfand ich
doch auch eine große Erleichterung. Zumindest war es jetzt vorbei,
und ich musste mich um niemand anderen mehr kümmern als um mich
selbst.
Ich fragte mich, ob Will mit den Abgründen mich
gemeint hatte. Vielleicht hielt er mich für verrückt und konnte
diese Vorstellung nicht ertragen. Oder vielleicht hatte er auch
alles begriffen und kam einfach nicht damit zurecht. Selbst eine
winzige Dosis Grau war mehr, als ich den meisten Leuten zugemutet
hätte – und ganz sicher nicht Will, ganz gleich, wie zornig oder
verletzt ich auch sein mochte.
Die Fahrt zurück gestaltete sich ziemlich
schwierig. Mir stiegen immer wieder Tränen in die Augen, und auch
der Nebel des Grau schien durch den leise rieselnden Schnee dichter
zu werden. Die Straße war vereist und trügerisch. So wie ich,
dachte ich und wurde wütend auf mich selbst. Zumindest ließ der
Zorn meine Tränen versiegen. Ich hielt es für das Beste, jetzt
nicht nach Hause zu gehen und mich zu verkriechen.
Also schlug ich etwas Zeit im Fitnessstudio tot und
beschäftigte mich dann mit den Nachforschungen für Nanette Grover,
ehe ich heimfuhr. Zu Hause angekommen, versank ich in eine tiefe
Traurigkeit und hätte mich am liebsten hinter meinem Frettchen
versteckt. Ich erledigte etwas Hausarbeit und spielte eine Weile
mit Chaos. Das Wetter schien ihm zuzusetzen, denn er zitterte
mehrmals. Ob ich wohl die Heizung in meiner Wohnung höher drehen
sollte, auch wenn es für mich nicht angenehm war? Allerdings war
Chaos bereits sechs Jahre alt, sodass es eigentlich nicht
verwunderlich war, wenn er leicht fror.
Ich bot ihm eine Rosine an, was dazu führte, dass
er vor Begeisterung einen kleinen Kriegstanz aufführte und mich um
mehr anbettelte. Er versuchte meine Beine hochzuklettern und in den
Taschen meines Sweatshirts zu suchen, ehe er auf meine Schulter
sprang, sich in meinen Haaren verfing und schnurrbärtige Küsse auf
mein Gesicht und meinen Hals drückte.
»Hast du deine Niedlichkeit eigentlich schon
patentieren lassen?«, fragte ich ihn. Chaos ärgerte sich darüber,
dass es keine weiteren Rosinen gab, und verzichtete auf eine
Antwort. Stattdessen kletterte er wieder herunter und raste durchs
Wohnzimmer, wo er Nixon, der Aubergine, sein Leid klagte. Er
nötigte sie dazu, sich gemeinsam mit
ihm in sein Lieblingsversteck neben dem DVD-Spieler zu zwängen.
Ich konnte immer wieder das Quietschen des Spielzeugs hören, das
Chaos offensichtlich recht heftig bearbeitete.
Etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang wurden
meine Versuche, Nixon aus Chaos’ Höhle zu befreien, jäh durch einen
Anruf von Edward unterbrochen. Er klang geradezu entzückt, dass ich
ihn sehen wollte. Wir vereinbarten, uns um acht im After
Dark zu treffen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn Quinton als
mein Leibwächter hätte mitkommen können, aber ich wusste, dass
Edward mit einem solchen Arrangement nicht einverstanden gewesen
wäre. Ich wollte ihn auf keinen Fall verärgern, auch wenn ich die
Vorstellung hasste, ihn wiedersehen zu müssen.
Nach dem Abendessen zog ich mich so schick wie bei
diesen Temperaturen möglich an. Statt meiner üblichen Jeans wählte
ich diesmal eine hübsche Hose aus Wollstoff und einen Pullover
besserer Qualität. Meine normalen Schuhe wurden durch elegante
Stiefel ersetzt. Das Frettchen steckte ich wieder in seinen Käfig.
Es begann sogleich, sein Zuhause mit seiner Sammlung aus alten
Sweatshirtfetzen zu dekorieren.
Bevor ich Edward traf, wollte ich allerdings noch
kurz im Büro vorbei, da ich dort noch etwas holen musste.