SIEBEN

Harper, du solltest besser wieder herkommen.«
Es war fünf Uhr morgens, sodass ich einen Moment brauchte, um Quintons Stimme zu erkennen. »Was ist passiert?«, murmelte ich beinahe automatisch.
»Man hat einen weiteren Toten gefunden. In der Nähe des Parks.«
Mühsam setzte ich mich im Bett auf. »Welcher Park?«
»Der zwischen Occidental Avenue und Waterfall Avenue. Die Polizei hat bereits die Gegend abgesperrt, sodass ich nicht herausfinden konnte, wen es erwischt hat oder was wirklich los ist.«
»Du glaubst aber, dass es sich wieder um eine ähnlich verstümmelte Leiche handelt wie am Donnerstag?«
»Darauf könnte ich wetten.«
Ich stöhnte. »Toll. Ich bin gleich da.«
Ich spritzte mir nur kurz etwas Wasser ins Gesicht, ehe ich mir mehrere Pullover, Jeans, Stiefel und einen Wollmantel anzog. Über Nacht war ein wenig Schnee gefallen, und die Luft schien nicht wärmer zu sein, auch wenn im Radio behauptet wurde, dass die Temperatur um gute fünf Grad gestiegen sei. Meine Wohnung lag in einer der kältesten Gegenden der Stadt. Ich nahm an, dass der Wetterdienst von Boing Field aus berichtete, wo die schier unendliche Asphaltwüste des Flughafens die Luft immer ein wenig mehr anheizte.
Vorsichtig fuhr ich über die vereisten Straßen von West Seattle, um dann über die Brücke nach Downtown zu gelangen. Hier gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass es geschneit hatte. Die Brise, die von Puget Sound kam, war wärmer, wenn auch nicht so warm wie sonst im Januar.
Als ich bei meinem Büro eintraf, sah ich bereits einige Polizeiautos, einen Krankenwagen, städtische Einsatzwägen und ziemlich viele offiziell aussehende Leute, die sich um den Occidental Park versammelten. Ich stellte den Rover auf meinem üblichen Parkplatz ab und ging dann einen Block zurück Richtung Park.
Der Pioneer Square war beinahe leer. Noch war es zu früh und zu kalt, als dass bereits der übliche Wochenendtrubel eingesetzt hätte. Das ungewöhnliche Treiben südlich des Platzes zog deshalb all diejenigen geradezu magisch an, die doch schon auf den Beinen waren. Auf meinem kurzen Weg traf ich auf Zip und einen anderen Obdachlosen, den ich in der Nacht zuvor kennengelernt hatte. Zip winkte mir zu, und ich gesellte mich zu ihm. Vermutlich waren die beiden so früh hierhergekommen, um die Mülltonnen hinter den Bars nach Flaschen zu durchsuchen, in denen sich noch ein wenig Whisky oder Bier befand und die in der Nacht zuvor achtlos weggeworfen worden waren.
Zip roch, als ob er sich bereits ein paar Schluck genehmigt hätte.
Wir gingen zu dritt den Block entlang und bogen gleich neben den Totempfählen in den Occidental Park ein. Unter den großen Holzstatuen lag eine Gestalt, die laut unter einer Wolldecke schnarchte. Offensichtlich war für sie das Wetter nicht zu kalt. Zip und sein Freund blieben neben dem Schläfer stehen und musterten misstrauisch die Polizisten, während ich weiterging.
Gerade fuhr ein graubrauner Mini-Van vorbei, der den städtischen Pathologen gehörte. Der Wagen kam nur in Schrittgeschwindigkeit voran, sodass ich ihm problemlos durch die Menge bis zum südlichen Ende des Occidental Park folgen konnte. Er blieb an der Stelle stehen, wo der Parkplatz auf das Tor des Waterfall Garden Park am süd östlichen Ende des Blocks traf. Ich beschloss, mich fürs Erste unauffällig im Hintergrund zu halten.
Die Morgensonne war noch nicht durch die Wolken gebrochen. Trotzdem konnte ich deutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers sehen, der dort auf dem Boden lag. Detective Solis und ein Gerichtsmediziner knieten neben der Leiche. Die Zeitschichten schienen aus dem Gleichgewicht geraten zu sein und waren nur noch Zacken, die von Energielinien durchzogen wurden. Die Energielinien befanden sich in steter Bewegung und verknüpften sich immer wieder neu miteinander. Offenbar war das graue Energienetz an dieser Stelle höchst lebendig.
Vorsichtshalber versteckte ich mich hinter einem der Neugierigen, damit mich der Inspektor nicht entdeckte. Der Gerichtsmediziner stand nach einer Weile auf und begann eine Unterhaltung mit einem Mitarbeiter der Spurensicherung, während Solis noch immer die Leiche anstarrte. Selbst von meiner Position aus konnte ich erkennen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Als Solis die wasserabweisende Plane wieder auf die Leiche legte, zeigte sich, dass der Körper keine Beine mehr hatte. An der Stelle, wo sie sich normalerweise befunden hätten, legte sich die Plane nämlich flach auf den Boden.
Auf einmal erhob sich eine dünne Gestalt im Grau und stieg aus dem Körper. Für einen Moment blieb sie in der Luft hängen. Sie schien durch die Plane in ihrer Ruhe gestört worden zu sein und sah sich nun verwirrt um. Ich hatte den Eindruck, als ob das Wesen nicht sehr lange verweilen, sondern sich schon bald in Luft auflösen würde – ganz so wie die Erinnerungen, die wir von unserem Leben haben und die im selben Moment verschwinden, in dem es für sie keinen Grund mehr gibt, zu bleiben.
Ich betrachtete das Gesicht des Geistes und zuckte erschreckt zusammen. Die Frau sah mich für einen Moment an und löste sich dann langsam auf. Nun wusste ich, wer unter der Plane lag: Es war Jenny Nin. Ihre Mütze war verschwunden, und ihr rechter Arm schien verstümmelt. Die Hand, die Quinton noch am Abend zuvor die Flasche dargeboten hatte, fehlte. Nur ein blutiger, angenagter Stumpf war zurückgeblieben. Und auch ihre Oberschenkel endeten im Nichts.
Etwas klammerte sich wie ein zerfetzter Umhang an ihre Gestalt. Ihr Gesicht war blau und drückte große Überraschung aus. Ich beobachtete, wie Jenny immer mehr verschwand. Hoffentlich würde ich sie nie wiedersehen – ganz gleich, in welcher Gestalt … Trotzdem blieb mir nichts anderes übrig, als aus der Nähe einen Blick auf ihre Leiche zu werfen, um sicherzugehen, dass meine Vision auch stimmte.
Ich sah, wie sich Solis erhob und seine Aufmerksamkeit wieder auf den Tatort richtete. Er befahl seinen Leuten, die Leiche wegzubringen. Die pulsierende Linie um seinen Körper zeigte, wie aufgewühlt er in Wirklichkeit war, auch wenn er sich nach außen wie immer cool gab. Ich durfte ihm auf keinen Fall begegnen, denn ich hatte keine Lust, mich seinen Fragen zu stellen. Also drehte ich mich um und trat hinter den Schwertwal-Totempfahl. Von dort aus ging ich geradeaus weiter, um so die Holzfigur zwischen mir und Solis’ scharfen Augen zu halten, bis ich mich weit genug von ihm entfernt hatte. Als ich schließlich um eine Ecke bog, eilte ich zu meinem Auto zurück. Falls ich es schaffte, schneller als der Gerichtsmediziner in die Pathologie zu gelangen, konnte ich vielleicht beobachten, wie die Leiche eingeliefert wurde, und so noch ein paar Dinge über Jennys Tod herausfinden.
Die glatte Fahrbahn machte ein rasches Vorankommen schwer. Am liebsten wäre ich den Hügel hinauf zu Harborview gerast, aber ich wusste, dass die Reifen auf der glatten Straße nicht griffen. Doch ich hatte Glück. Ich hatte einen kleinen Vorsprung und schaffte es tatsächlich, noch vor dem Leichentransport auf dem Parkplatz einzutreffen. Da ich auch keine Bahre aus meinem Wagen hieven musste, gelang es mir, noch vor den Männern und ihrem neuesten Fall ins Gebäude und dort in den Keller zu eilen.
Das Leichenschauhaus war wie immer voller Gespenster. Doch diesmal schienen weniger da zu sein als beim letzten Mal. Keiner im Grau achtete auf mich. Die Geister hier besaßen kaum mehr genug Bewusstsein, um mich wahrzunehmen. Der Ort selbst hatte etwas Abweisendes an sich – alt, steril und in der typischen Manier möbliert, wie es für solche Institutionen üblich war. Niemand schien die kalte Luft zu bemerken, und auch von den ständig anwesenden Gestalten im Grau ahnte außer mir keiner etwas.
In dieser unangenehmen Atmosphäre kam ich also unten an, als gerade die Nachtschicht zu Ende ging. Der Bereitschaftsdienst sah erschöpft und müde aus, und keiner kümmerte sich um mich, als ich so langsam wie möglich auf den Empfangstisch zuging.
Hinter mir öffnete sich der Lift, und die Männer aus dem Leichenwagen kamen mit ihrer Rollbahre den Flur entlang. Sie blieben am Empfang stehen, und ich stellte mich unauffällig hinter sie. Während sie dem Mann hinter dem Tisch die nötigen Papiere reichten, starrte ich auf die Bahre und die Plane, unter der Jennifer Novoy lag.
Durch das Plastik war nichts zu sehen. Aber im Grau klammerten sich genügend Fasern und Fetzen an die Plane, um mir zu zeigen, dass ich recht gehabt hatte. Wie zuvor zeigten sich auch bei Jenny weiche Linien, die wie haarige Fäden an der Plane klebten. Dieselben Fäden hatte ich im Loch in der Tunnelwand und an dem Zombie gesehen. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht die gleiche Wirkung auf Jenny haben würden wie auf den Zombie. Genau das wollte ich herausfinden, auch wenn ich dafür ein gewisses Risiko eingehen musste.
»Hi«, sagte ich. »Ist das Solis’ neue Leiche aus dem Occidental Park?«
Die drei Männer, die um den Tisch standen, sahen verblüfft auf. »Äh … ja«, erwiderte einer der Typen. »Warum wollen Sie das wissen?«
Ich holte meine Detektivlizenz heraus und zeigte sie ihnen so rasch, dass sie meinen Namen nicht lesen konnten. »Ich bin gerade mit einem Fall beschäftigt, der mit diesem hier zu tun haben könnte. Solis meinte, dass ich mir die Leiche gerne einmal ansehen könne.«
Die zwei Männer aus dem Leichenwagen sahen sich an und zuckten dann lässig mit den Achseln. Der Typ hinter dem Tisch seufzte. »Am besten legen wir sie erst einmal in den Kühler – okay? Richards ärgert sich sonst, wenn sie länger als nötig hier draußen bleibt.«
Die Männer mit der Bahre nickten und schoben sie durch die Schwingtüren in die Leichenhalle hinüber. Der Mann am Empfang – ein untersetzter Bursche mit einer Hautfarbe wie die Rinde von Erdbeerbäumen und kurzen schwarzgrauen Haaren – nahm ein Klemmbrett, an das er bereits eine ganze Reihe von Formularen geheftet hatte, und folgte den beiden. Mir gab er ein Zeichen, ebenfalls zu kommen.
Wir gingen an mehreren Türen vorbei, bis wir in den Kühlraum kamen. Die kalte Luft war wärmer als die Temperaturen, die augenblicklich draußen herrschten. Schließlich wollte man die Toten nicht einfrieren.
Die beiden Männer waren gerade dabei, die Leiche von der Bahre auf einen Stahltisch zu hieven, der in der Mitte des Raums stand. Dann zogen sie die Plastikplane beiseite und überließen den Rest dem Mann mit dem Klemmbrett. Er unterzeichnete ein Blatt Papier und reichte es den beiden, die ebenfalls unterschrieben. Dann gab er ihnen eine Kopie und behielt die restlichen Papiere für sich. »Okay, jetzt ist sie meine Verantwortung. Ihr könnt los.«
Die zwei Männer murmelten etwas Unverständliches und fuhren dann mit ihrer Bahre davon.
Der untersetzte Mann musterte mich neugierig. »Kenne ich Sie?«
Das verblüffte mich ein wenig. Ich hatte ihn zwar auf den ersten Blick erkannt und wusste, dass ich ihn bereits das letzte Mal gesehen hatte, als ich im Leichenschauhaus gewesen war. Aber dass er sich an mich erinnerte, überraschte mich. »Kann schon sein. Ich bin Privatdetektivin. Einige meiner Nachforschungen enden immer wieder hier.«
Er sah mich für einen Moment stirnrunzelnd an. Dann schnalzte er mit den Fingern. »Ja, natürlich! Es war letzten Oktober, stimmt’s? Wie viele Leichen müssen Sie sich denn jährlich so ansehen, wenn ich fragen darf?«
»Sicher wesentlich weniger als Sie.«
Er lachte. »Ich glaube, ich sehe in einer Woche mehr Leichen als die meisten Horrorfilm-Fans in einem ganzen Jahr. Also – wollen Sie sich diese jetzt zu Gemüte führen, damit wir hier rauskommen? Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir ist kalt.«
»Ja, bringen wir es hinter uns.«
Er zog blaue Latexhandschuhe über und schlug mit seinen großen weichen Händen die Plane beiseite. Es wirkte fast so, als würde er einem genau vorgeschriebenen Zeremoniell folgen. Irgendwie kam es mir wie der Ausdruck einer letzten traurigen Ehrbezeugung vor.
Ich betrachtete Jennys blass bläuliches Gesicht und zuckte innerlich erneut zusammen, als ich die Überraschung darin sah. Was auch immer sie getötet haben mochte – es war zu schnell gewesen, als dass sie noch einen Schrei hätte ausstoßen können. Die weichen, grauen Fäden wandten sich, wie ich vermutet hatte, um ihr Gesicht und ihre Brust, wurden aber am restlichen Torso weniger. Sie bildeten diesmal kein Netz, wie ich das am Zombie gesehen hatte, sondern erinnerten eher an einen von Motten zerfressenen Umhang, der sich bereits in seine Einzelfäden aufzulösen begann. Es war nur wenig Blut zu erkennen. Jenny sah fast so aus, als ob sie einfach erfroren wäre – wenn da nicht ihre verblüffte Miene gewesen wäre. Ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass sie nicht mehr aufstehen und mich später einmal heimsuchen würde, und das erleichterte mich sehr.
»Und?«, fragte der Mann.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich hatte nicht vor, ihm eine ausführlichere Antwort zu geben. Lügen waren nicht mein Ding. Doch wenn ich sie identifiziert hätte, wäre ich gezwungen gewesen, ein Formular zu unterschreiben, das Solis garantiert auf meine Spur gebracht hätte.
Der stämmige Mann nickte und beugte sich über den Leichnam, um eine einstweilige ID-Karte an ihn zu heften. Dann legte er sanft die Plane über Jenny Nin und führte mich aus dem Raum.
»Haben Sie in letzter Zeit noch andere Leichen wie diese gesehen?«, wollte ich wissen.
»Was meinen Sie mit ›wie diese‹? Sie sind alle tot, und in letzter Zeit hatten wir mehr Obdachlose als sonst. Aber das ist nichts Ungewöhnliches, wenn das Wetter so kalt ist.«
»Vergangenen Donnerstag wurde hier eine Leiche in einem ähnlichen Zustand eingeliefert. Es gab ebenfalls wenig Blut, sie war sehr kalt, und einige Gliedmaßen fehlten. Ein gewisser Robert Cristus, so viel ich weiß«, half ich ihm auf die Sprünge.
Wir traten durch die Schwingtüren und blieben dann vor dem Empfangstisch stehen. Der Pathologe sah mich nachdenklich an.
»Ja … Jetzt, wo Sie es sagen. Sehr ähnlich … zumindest auf den ersten Blick. Sind Sie denn auch an diesem Fall interessiert?«
»Ja, an dem und an diesem hier. Ehrlich gesagt, hätte ich gerne gewusst, ob es vielleicht noch andere Fälle wie die beiden gegeben hat – mit einem ähnlichen Zustand des Leichnams und ähnlichen Todesumständen.«
Der Mann starrte mich an. Ich warf einen Blick auf sein Namensschild, wo in großen Buchstaben »Fishkiller« stand, gefolgt von zwei kleiner geschriebenen Wörtern, die ich nicht entziffern konnte.
Er runzelte die Stirn und trat hinter seinen Tisch, wo er das Klemmbrett ablegte. Dann warf er einen Blick auf den Computerbildschirm und setzte sich. »Ich glaube schon … Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber ich denke, da gab es noch ein paar andere Fälle. Allerdings müsste ich erst nachsehen. Sie waren alle obdachlos, hatten viel Blut verloren, das aber nirgendwo zu finden war. Außerdem wiesen sie alle abgebissene oder fehlende Extremitäten auf … Uns wurden auch ein oder zwei Gliedmaßen eingeliefert. In ähnlichem Zustand, aber ohne die dazugehörigen Körper.«
»Gehört dazu auch das Bein, das man in der Baugrube auf der Occidental Avenue in der Nähe von Royal Brougham gefunden hat?«, wollte ich wissen.
»Ja, das auch. Ebenfalls ein ähnlicher Fall …«
Ich hatte nun offensichtlich sein Interesse geweckt, denn er schien nachdenklich geworden zu sein. Also entschloss ich mich, einen weiteren Köder auszulegen, um zu testen, ob er wirklich so neugierig war, wie ich vermutete.
»Glauben Sie, dass es vielleicht auch noch frühere Todesfälle geben könnte, die sich mit diesen hier vergleichen lassen?«
Offenbar ohne es selbst zu bemerken, wanderten die Finger des Mannes zur Tastatur. »Vielleicht …« Er begann eifrig etwas einzutippen.
Während er abgelenkt war, sagte ich wie nebenbei: »Interessant … Was steht auf Ihrem Schild?«
»Äh … Ja. Nennen Sie mich am besten Fish. Offiziell hei ße ich zwar Reuben Arthur Fishkiller, aber … Na ja, selbst für einen Indianer ist das kein besonders schöner Name. Er bedeutet nämlich im Grunde ›miserabler Fischer‹. Man soll Fische schließlich nicht einfach töten, sondern geschickt fangen.«
»Sie könnten Ihren Namen doch ändern lassen.«
»Das würde mir meine Mutter nie verzeihen. Sie hasst sowieso schon, was ich so mache. Sie hasst, wo ich wohne und wo ich arbeite. Sie hält mich für einen schlechten Indianer, weil ich mit Toten arbeite. Verseucht nennt sie mich, wissen Sie? Die Toten und die Lebenden sollen sich nämlich nicht in die Quere kommen.«
»Ich kann Ihre Mutter verstehen.«
Er nickte langsam, während er weiterhin etwas eintippte. »Ja, ich auch. Aber es fasziniert mich eben. Ich finde die forensische Pathologie unglaublich spannend. Ich mag zwar auf der Karriereleiter noch recht weit unten stehen, aber ich habe das Gefühl, als ob ich den Toten helfen könnte, ihren Frieden oder Gerechtigkeit oder so etwas zu finden. Ich weiß, das klingt ein bisschen schnulzig, aber heutzutage tendieren wir doch dazu, den Menschen einfach wegzuwerfen. Und dann jammern wir darüber, wie leer unser Leben geworden ist. Eine ziemlich kaputte Gesellschaft.«
»Sie meinen die amerikanische?«
»Ja.« Er lachte. »Wie Sie sehen, bin ich wirklich ein schlechter Indianer. Manchmal gehen mir meine eigenen Leute verdammt auf die Nerven. Ich finde, dass einige von ihnen viel zu lange und viel zu stur an bestimmten Traditionen festhalten. Sie werden zwar herumgeschubst und nicht ernst genommen, aber trotzdem unternehmen sie nichts dagegen, weil sie sich in Wahrheit nicht ändern wollen. Das mit den Reservaten, mit dem Sozialstaat – das ist doch alles das reine Chaos. Aber wenn wir vorschlagen, uns um uns selbst zu kümmern, dann dürfen wir das nicht, weil es uns die Regierung verbietet oder weil unsere Stammesältesten behaupten, dass wir Traditionen zerstören würden. Wir sitzen immer zwischen allen Stühlen. Es ist schwer, mit der Natur in Einklang zu leben und die Traditionen nicht zu vergessen, wenn man gleichzeitig in der heutigen Welt überleben will. Aber genau das wollen wir doch alle – irgendwie überleben. Meine Familie war sehr stolz, als ich aufs College ging. Aber dann waren sie entsetzt, als sie erfuhren, was ich studieren wollte … Ha! Volltreffer!« Er lehnte sich zurück und grinste mich triumphierend an.
»Was?«, fragte ich und lächelte. Sein Grinsen wirkte ansteckend.
»Ich habe etwas gefunden. Es gab schon einmal einige ähnliche Fälle nach dem Erdbeben 1949. Ebenfalls in der Gegend um Pioneer Square, die damals auch ziemlich schlimm verwüstet wurde. Genau wie 2001. Die alten Gebäude stehen auf aufgeschüttetem Watt und bewegen sich immer wieder, sodass manchmal seltsame Dinge zum Vorschein kommen. Vielleicht sind das meine Vorfahren, die sich an euch rächen wollen«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. »Sie wissen bestimmt, dass Doc Maynard Häuptling Sealth dafür bezahlt hat, die Stadt nach seinem Namen zu benennen, obwohl so etwas für einen Indianer ein schlechtes Omen bedeutet. Denn damit bindet er seinen Geist an das, was nach ihm benannt ist. Als der alte Sealth starb, ist übrigens keiner der Weißen zu seiner Beerdigung gekommen. Ein mieser Deal.«
»Hat der Häuptling nicht etwas über die Geister der Indianer gesagt, die unsere Stadt heimsuchen würden?«, fragte ich, da ich mich vage zu erinnern glaubte, so etwas einmal gelesen zu haben.
Fish lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nun … Da gibt es eine ganz hübsche Rede, die ihm zugeschrieben wird, die er aber meiner Meinung nach nie gehalten hat. Ich glaube nicht, dass er derart blumig gesprochen hätte. Aber das Zitat, auf das Sie anspielen, lautet folgenderma ßen – wir mussten es alle in der Stammesschule lernen: ›Diese Ufer werden eines Tages von den unsichtbaren Toten meines Stammes wimmeln. Wenn eure Kindeskinder sich allein auf dem Feld glauben, allein in einem Laden, allein auf einem Pfad oder allein in einem stillen Wald, so werden sie doch nicht allein sein. Nachts, wenn die Stra ßen eurer Städte und eurer Dörfer still daliegen und niemand mehr umherzieht, so werden in Wahrheit doch diejenigen zurückkehren, die einmal dieses schöne Land mit Leben erfüllten und es noch immer lieben.‹ Klingt fast wie eine Drohung, finden Sie nicht?«
Ich blinzelte. Der alte Häuptling hatte offensichtlich mehr gewusst, als man annahm. Auch ich wusste schließlich, dass die Geister seines Volkes noch immer durch weite Teile von Seattle zogen. Ich begegnete ihnen fast täglich. »Für mich klingt das traurig – vor allem wenn man bedenkt, dass er Angehöriger eines Volkes war, das die Toten und die Lebenden nicht vermischt sehen möchte.«
»Oh, nein. Da verstehen Sie etwas falsch. Da geht es nur um die Leichen. Bei uns gelten die Vorfahren und andere Geister als ständig präsent. Zumindest behaupten das meine Mutter und meine Großmutter. Ich selbst weiß nicht so recht, was ich glauben soll. Vor allem bin ich mir nicht sicher, ob ich als Toter die ganze Zeit hier herumhängen möchte, auch wenn ich nichts zu tun hätte.«
»Das werden Sie erst erfahren, wenn Sie es einmal ausprobiert haben«, erwiderte ich lächelnd.
»Ja, vermutlich. Aber das würde ich lieber noch ein Weilchen aufschieben.«
Wir konnten hören, dass die Leute von der Tagesschicht eintrafen. Fish war für einen Moment abgelenkt, und ich beschloss, unbemerkt das Weite zu suchen, ehe jemand auf die Idee kam, mich irgendwelche Formulare unterschreiben zu lassen.
Es beunruhigte mich, dass es bereits fast sechzig Jahre zuvor ähnliche Todesfälle gegeben hatte. Alle Hinweise deuteten auf ein schon seit langer Zeit immer wieder auftretendes übernatürliches Phänomen hin. Zumindest auf den ersten Blick schien Quinton mit seiner Theorie, dass Vampire dahintersteckten, recht zu haben.
Die Vorstellung, mit Edward Kammerling ein Gespräch unter vier Augen führen zu müssen, sagte mir zwar überhaupt nicht zu, aber im Moment sah es ganz so aus, als ob mir keine andere Wahl blieb. Ich konnte es mir nicht leisten, mit den anderen Vampiren zu sprechen, ohne zuerst Edward zu konsultieren, denn das würde seinen Ärger erregen. Unsere augenblickliche Beziehung bestand darin, dass ich versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen, während er sich immer wieder darum bemühte, mich in seinen Bannkreis zu ziehen.
Ich nahm zwar an, dass ich zumindest eine kleine Überraschung im Ärmel hatte, die ihn bei unserer ersten Unterhaltung dazu zwingen würde, Distanz zu wahren, aber lange würde das bestimmt nicht andauern. Hoffentlich würde ich es nicht eines Tages bereuen, meinen Joker bereits jetzt eingesetzt zu haben, aber man konnte so etwas schließlich nicht für immer aufbewahren.
Ich verließ Harborview mit gemischten Gefühlen. Die Informationen, die mir Fish geliefert hatte, und die deutliche Empfindung, dass Jenny Nin das Leichenschauhaus nicht wieder verlassen würde, zeigten mir zum einen, dass es keine akute Bedrohung gab, wiesen aber zum anderen darauf hin, dass wir es tatsächlich mit einer Art von Serie zu tun hatten. Um mehr zu erfahren, musste ich in die Höhle meines meist verhassten Löwen. Dieser Löwe stellte eine echte Bedrohung dar, da er mich schon lange als Beilage für eine seiner Mahlzeiten auserkoren hatte.
Ich fuhr zu meinem Büro zurück und wählte dabei den Weg am Occidental Park entlang. Dort war die Polizei inzwischen damit beschäftigt, aufzuräumen und den Tatort wieder für alle zugänglich zu machen. Solis war nirgendwo zu sehen. Ich konnte mir vorstellen, dass ihn diese Todesfälle nicht gerade erfreuten. Aber vermutlich konnte er nicht viel tun, um die Akten nicht schließen zu müssen.
Ohne das Wissen, das ich inzwischen besaß, war es logisch, von einem normalen Todesfall in Folge einer extremen Kälteeinwirkung auszugehen. Selbst wenn die Fakten ein wenig merkwürdig scheinen mochten – vor allem, wenn man an die Bisswunden dachte -, konnte man sie durch herumstreunende Hunde erklären. Die Leichen mochten zwar recht schrecklich aussehen, aber so etwas kam vermutlich nicht selten vor. Ich hatte schon lange verstanden, dass für viele eine mehr oder weniger passende Erklärung wünschenswerter erschien als die Wahrheit.
Von meinem Büro aus rief ich Edwards Sekretärin an. Es war Samstag, und deshalb meldete sich ein Anrufdienst. Die Dame versicherte mir, dass sich Mr. Kammerling sobald wie möglich mit mir in Verbindung setzen würde.
Meine Gedanken wanderten zu Will, und wie es der Zufall wollte, klingelte in diesem Moment mein Handy. Auf dem Display stand seine Nummer. Ich war mir zwar nicht sicher, ob ich ihn sprechen wollte, aber ich hob trotzdem ab.
»Hallo, Will.«
Der fehlende Schlaf und das Mitgefühl, das ich für Jenny Nin wegen ihres schrecklichen Todes empfand, schlugen mir schwer aufs Gemüt. Ich wusste nicht, was Will von mir wollte. Aber ich hatte auf keinen Fall vor, die Stille, die zwischen uns eingetreten war, mit irgendwelchen sinnlosen Plaudereien zu füllen.
»Hallo, Harper. Ich möchte mich entschuldigen«, begann er. »Weil ich so übereilt reagiert habe und ausgeflippt bin. Ich weiß inzwischen, dass die Dinge nicht so sein können, wie sie im ersten Moment für mich aussahen.«
Da die Dinge in Wahrheit sehr wohl so waren, wie sie ausgesehen hatten, erwiderte ich nichts.
»Das ist alles ziemlich schwer.«
Ich wusste, dass er von mir erwartete, ihm die Hand zu reichen. Doch ich wollte nicht. Ich stand noch immer unter Schock, in den sich inzwischen auch Wut darüber mischte, wie unser letztes Treffen geendet hatte, und ich hatte nicht vor, ihn bereits nach einigen wenigen Worten der Entschuldigung vom Haken zu lassen.
»Ich hatte gehofft«, fuhr er fort, »dass du vielleicht mit mir frühstückst. Ich bin momentan im Endolyne Joe.«
»Vorhin hat es auf dem Hügel geschneit«, sagte ich. »Und ich bin bereits im Büro. Ich habe eigentlich keine Lust, wieder über die Brücke nach Fauntleroy hinunterzufahren, wenn ich ehrlich bin.«
»Der Schnee ist hier nicht so wild, und außerdem kommen dadurch weniger Leute. Wir hätten die Möglichkeit, in Ruhe zu reden.«
Ich runzelte die Stirn. Will bettelte, was ich von ihm nicht gewöhnt war und auch nicht sonderlich schätzte. Aber wir hatten noch einige Rechnungen offen, weshalb ich es für das Klügste hielt, die Gelegenheit zu nutzen – entweder um unsere Beziehung nochmal zu retten, oder um sie für immer zu beenden.
»Also gut. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen und komme dann so schnell es geht.«
Einer der Gründe, warum ich meinen alten Rover so schätzte, waren sein Allrad-Antrieb und seine ziemlich robusten Reifen. Sie hätten mir zwar nicht viel geholfen, wenn ich wie eine Wahnsinnige gefahren wäre, aber das hatte ich auch nicht vor. Ich hatte schließlich bereits genügend SUVs im Graben landen sehen, weil sie nach dem Sturm und bei den vereisten Straßen nicht achtgaben.
Es gelang mir mühelos, die Strecke hinter mich zu bringen, obwohl ich zwischendurch über einige Eisflächen fuhr, die auf den ersten Blick so aussahen, als ob es sich nur um Schnee auf der Straße handeln würde. An den Stellen, wo der Fauntleroy Way die Küste entlang verläuft, um dann den Hügel hinaufzuführen, auf dem ich wohnte, gab es immer wieder schattige Abschnitte, die ziemlich gefährlich werden konnten. Zum Glück war der Parkplatz von Endolyne Joe’s tatsächlich fast leer, und auch im Café sa ßen nur wenige Gäste.
Offiziell heißt die Gegend Fauntleroy, aber das Viertel, das sich südlich der Fährenanlegestelle befindet, nennt man Endolyne, was wie »End o’ line« ausgesprochen wird. Hier endete bis in die fünfziger Jahre die Straßenbahnlinie, die danach in der ganzen Stadt eingestellt wurde. Das Lokal hatte seinen Namen angeblich von einem berüchtigten Frauenhelden, der als Schaffner der Straßenbahn Endolyne Joe genannt wurde, aber ich war mir nicht sicher, ob ich dieser Geschichte Glauben schenken sollte.
Wieder einmal wartete Will an einem Tisch in einer warmen Ecke, während die wenigen anderen Gäste an der Theke saßen, wo sie nur ein paar Schritte von der blauweiß gekachelten Küche entfernt waren. Ich hatte zwar Hunger, aber keine Lust, in Wills Gegenwart etwas zu essen. Also bestellte ich einen Kaffee. Will fasste nach meinen Händen, und ich erlaubte ihm, sie zu nehmen, auch wenn ich ihm nicht entgegenkam. Bei unserer Berührung verspürte ich eine Kälte, die nichts mit dem Schnee vor dem Fenster zu tun hatte.
»Harper, es tut mir so leid. Ich habe mich unmöglich verhalten.«
»Ich weiß nicht … Auszuflippen scheint mir recht normal zu sein, wenn man bedenkt, was wir erlebt haben. Aber mich unter dem Viadukt einfach allein stehen zu lassen … Das war etwas anderes.« Erst als ich die Worte ausgesprochen hatte, wurde mir bewusst, wie wütend, traurig und enttäuscht ich war. Und wie wenig es mir ausmachte, wenn ich ihn nun meinerseits verletzte.
Will schüttelte den Kopf und sah mich betroffen an. »Ich weiß. Es war … Es war scheußlich von mir. Ich war so schockiert von dem, was ich zu sehen glaubte …«
Der Kellner kehrte mit zwei großen Bechern Kaffee und einem Stück Mokkakuchen für Will zurück. Ich entzog Will meine Hände und hielt mich an meinem Becher fest. Ein rascher Blick ins Grau zeigte mir, dass von den blauen Fasern, die ich an seinen Händen gesehen hatte, nichts mehr zu erkennen war. Mein Unbehagen wurde deshalb allerdings nicht geringer.
»Was glaubst du denn, gesehen zu haben?«, fragte ich.
Er sah sich verunsichert um. Der Energieschimmer, der ihn umgab, nahm für einen Moment eine grüne Farbe an und verblasste dann. »Nicht so wichtig. Es hat sowieso nicht gestimmt.«
Ich hatte nicht die Geduld, diplomatisch zu sein. »Vielleicht hat es gestimmt. Vielleicht war das Ding, das du gesehen hast, tatsächlich ein Zombie, und vielleicht habe ich es tatsächlich erledigt. Vielleicht hast du dir gar nichts eingebildet.«
Will war wie vom Donner gerührt und setzte sich gerade hin. »Was?«
Ich zwang mich dazu, nicht allzu hysterisch oder wütend zu klingen. »Ich weiß nicht, was du meinst, gesehen zu haben, und ich weiß auch nicht, welche Art von Rechtfertigung du dir zurechtgelegt hast. Aber es lässt sich nicht leugnen. Zwei Monster haben uns auf der Straße belästigt, und ich habe einem von ihnen den Garaus gemacht. Für dich sahen die beiden wie Penner aus, aber für mich waren es ein haariger Mann und ein lebender Toter. Und der Zombie musste verschwinden. Und das waren sie auch. Falls du fragen willst: Ich bin nicht verrückt. Ich sage dir nur die Wahrheit. Ich spreche mit Geistern, und ich arbeite für Monster. Das ist das große, hässliche Geheimnis, hinter das du immer kommen wolltest. Jetzt weißt du es.«
Ich lehnte mich mit meinem Kaffeebecher zurück und starrte ihn ausdruckslos an, während ich auf seine Antwort wartete.
Will sah mich ebenfalls an. Er wirkte fassungslos und war sehr blass geworden. Das Licht, das von den gelben Wänden im Lokal abstrahlte, ließ sein silbergraues Haar seltsam butterfarben schimmern. Er sah auf einmal sehr jung, verwirrt und auf charmante Weise streberhaft aus, wie er mich so durch seine Brille musterte. Ich hatte fast das Gefühl, einem Welpen einen Fußtritt verpasst zu haben.
»Warum?«, brachte er schließlich hervor.
»Warum was?«, erwiderte ich etwas milder gestimmt. »Warum ich für solche Kreaturen arbeite? Warum ich dir das alles erst jetzt erzähle? Warum ich gelogen habe?«
»Warum bist du so?«
»Ich bin nicht so, sondern ich sage dir nur die Wahrheit – auch wenn die vielleicht nicht angenehm ist. Genau deshalb spreche ich auch so ungern über meine Fälle. Deshalb verschwinde ich immer wieder, und deshalb scheinen in meiner Umgebung immer wieder so schreckliche Dinge zu passieren. Du kannst mir glauben – es gefällt mir auch nicht, aber so ist es nun einmal. Es hat nichts Nettes oder Angenehmes an sich, sondern es ist brutal und verdammt unangenehm, und ich wünschte mir, dass ich nichts damit zu tun hätte. Aber ich kann mich nicht davon befreien. Also muss ich das Beste daraus machen und versuchen, zu verhindern, dass sich dieses Hässliche noch weiter ausbreitet. Genau das habe ich auch Donnerstagnacht getan.«
»Indem du diese … Indem du diese Kreatur zerfetzt hast?« Will fiel es nicht leicht, die Worte auszusprechen. Die Energie um ihn herum wand sich gequält und leuchtete in grellen Farben auf – in Rot, in Grün, in Orange und in einem schrillen Blau. »Indem du sie also zerfetzt hast, hast du etwas … etwas verhindert … oder besser gemacht?«
Ich hatte bereits einmal versucht, ihm mein Leben so zu präsentieren, dass er es verstand, und hatte kläglich versagt. Auch diesmal konnte ich deutlich sehen, dass es sinnlos war. Er verstand mich nicht. Weshalb sollte ich noch viel Energie darauf verschwenden, mich zu wiederholen? »Ja«, antwortete ich also.
»Aber … Was ist pass…«
»Was glaubst du denn, was passiert ist?«, unterbrach ich ihn ungeduldig. Ich beugte mich vor und starrte ihn finster an. Am liebsten hätte ich ihm einen Schlag verpasst, um zumindest diesen pulsierenden, vielfarbigen Sturm, der seinen Körper umgab, zu bändigen. Aber das war natürlich nicht möglich.
»Du … Ich weiß nicht.« Er sackte in sich zusammen. »Ich weiß nicht, was du getan hast. Ich habe nur gesehen, dass du in ihn hineingefasst hast und er … auseinandergefallen ist. Und dann war da plötzlich Licht, und er war verschwunden.«
Ich nickte. »Ja, so war es in etwa.«
Die Farben um ihn herum verwandelten sich in ein schmutziges Olivgrün, das wie giftiger Rauch um ihn hing. Er sah auf einmal fast eingefallen aus. »Wie oft? Wie oft passiert so etwas?«
Ich wollte ihm gerade antworten, dass solche Vorfälle eigentlich nicht zu meinem Alltag gehörten, als ich zu rechnen begann. Wenn ich es mir recht überlegte, war die Anzahl der verstörenden und furchtbaren Vorfälle, mit denen ich immer wieder zu tun hatte oder die ich beobachtete, erschreckend groß. Der Zombie war im Grunde recht harmlos gewesen. Zumindest war es mir in diesem Fall gelungen, einen Geist zu befreien. Ich schwieg zu lange, und Will bemerkte, wie ich innerlich rechnete.
Er schüttelte den Kopf. »Ich … Ich kann mit so etwas nicht leben. Ich kann solche … solche Abgründe nicht ertragen. Das ist zu viel für mich.«
In mir tobte es, doch ich schaffte es, nach außen hin ruhig zu bleiben. »Eine solche Wahl habe ich nicht. Ich muss damit leben.«
»Verstehe … Dann … Es tut mir leid. Aber dann hat das keinen Sinn mit uns. Es wird nicht funktionieren, Harper. Es tut mir leid. Wirklich.«
»Ja, ich weiß. Ich wäre eine tolle Frau, wenn es da nicht diese Geister und die verrückten Dinge gäbe.« Will rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und ich hob eine Hand, um ihn aufzuhalten. »Nein. Ich glaube, diesmal ist es an mir, als Erste zu gehen.«
Ich stand auf, wobei ich noch immer meinen Kaffeebecher in der Hand hielt. Als der Kellner vorbeikam, drückte ich ihn ihm in die Hand. »Das will ich nicht mehr.« Dann sah ich Will an. Für einen Moment überlegte ich mir, ob ich ihm in bewährter Hollywoodmanier einen theatralischen Abschiedskuss geben sollte, entschied mich aber dagegen. »Es tut mir auch leid, Will. Ich liebe dich, aber es ist eindeutig: Wir gehören nicht zusammen.«
Ich fühlte mich ziemlich schäbig, als ich das Café verließ. Denn obwohl ich wütend und tief verletzt war, empfand ich doch auch eine große Erleichterung. Zumindest war es jetzt vorbei, und ich musste mich um niemand anderen mehr kümmern als um mich selbst.
Ich fragte mich, ob Will mit den Abgründen mich gemeint hatte. Vielleicht hielt er mich für verrückt und konnte diese Vorstellung nicht ertragen. Oder vielleicht hatte er auch alles begriffen und kam einfach nicht damit zurecht. Selbst eine winzige Dosis Grau war mehr, als ich den meisten Leuten zugemutet hätte – und ganz sicher nicht Will, ganz gleich, wie zornig oder verletzt ich auch sein mochte.
Die Fahrt zurück gestaltete sich ziemlich schwierig. Mir stiegen immer wieder Tränen in die Augen, und auch der Nebel des Grau schien durch den leise rieselnden Schnee dichter zu werden. Die Straße war vereist und trügerisch. So wie ich, dachte ich und wurde wütend auf mich selbst. Zumindest ließ der Zorn meine Tränen versiegen. Ich hielt es für das Beste, jetzt nicht nach Hause zu gehen und mich zu verkriechen.
Also schlug ich etwas Zeit im Fitnessstudio tot und beschäftigte mich dann mit den Nachforschungen für Nanette Grover, ehe ich heimfuhr. Zu Hause angekommen, versank ich in eine tiefe Traurigkeit und hätte mich am liebsten hinter meinem Frettchen versteckt. Ich erledigte etwas Hausarbeit und spielte eine Weile mit Chaos. Das Wetter schien ihm zuzusetzen, denn er zitterte mehrmals. Ob ich wohl die Heizung in meiner Wohnung höher drehen sollte, auch wenn es für mich nicht angenehm war? Allerdings war Chaos bereits sechs Jahre alt, sodass es eigentlich nicht verwunderlich war, wenn er leicht fror.
Ich bot ihm eine Rosine an, was dazu führte, dass er vor Begeisterung einen kleinen Kriegstanz aufführte und mich um mehr anbettelte. Er versuchte meine Beine hochzuklettern und in den Taschen meines Sweatshirts zu suchen, ehe er auf meine Schulter sprang, sich in meinen Haaren verfing und schnurrbärtige Küsse auf mein Gesicht und meinen Hals drückte.
»Hast du deine Niedlichkeit eigentlich schon patentieren lassen?«, fragte ich ihn. Chaos ärgerte sich darüber, dass es keine weiteren Rosinen gab, und verzichtete auf eine Antwort. Stattdessen kletterte er wieder herunter und raste durchs Wohnzimmer, wo er Nixon, der Aubergine, sein Leid klagte. Er nötigte sie dazu, sich gemeinsam mit ihm in sein Lieblingsversteck neben dem DVD-Spieler zu zwängen. Ich konnte immer wieder das Quietschen des Spielzeugs hören, das Chaos offensichtlich recht heftig bearbeitete.
Etwa eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang wurden meine Versuche, Nixon aus Chaos’ Höhle zu befreien, jäh durch einen Anruf von Edward unterbrochen. Er klang geradezu entzückt, dass ich ihn sehen wollte. Wir vereinbarten, uns um acht im After Dark zu treffen. Es wäre mir lieber gewesen, wenn Quinton als mein Leibwächter hätte mitkommen können, aber ich wusste, dass Edward mit einem solchen Arrangement nicht einverstanden gewesen wäre. Ich wollte ihn auf keinen Fall verärgern, auch wenn ich die Vorstellung hasste, ihn wiedersehen zu müssen.
Nach dem Abendessen zog ich mich so schick wie bei diesen Temperaturen möglich an. Statt meiner üblichen Jeans wählte ich diesmal eine hübsche Hose aus Wollstoff und einen Pullover besserer Qualität. Meine normalen Schuhe wurden durch elegante Stiefel ersetzt. Das Frettchen steckte ich wieder in seinen Käfig. Es begann sogleich, sein Zuhause mit seiner Sammlung aus alten Sweatshirtfetzen zu dekorieren.
Bevor ich Edward traf, wollte ich allerdings noch kurz im Büro vorbei, da ich dort noch etwas holen musste.