Freundschaft

„Selma, was machst du noch so spät hier?“, fragte mich Parelsus mit verwirrtem Blick, als ich einige Tage später an die Tür der Mediathek klopfte. Ich sah ihn einen Moment an und überlegte, ob wirklich alles mit ihm stimmte.

„Es ist Mittwoch. Wir waren heute Abend verabredet, sie wollten mir etwas über meine Mutter erzählen“, sagte ich langsam und hoffte, dass er sich erinnerte.

„Richtig“, murmelte er. „Komm rein! Entschuldige, das hatte ich fast vergessen. Weißt du, ich arbeite gerade an einer ganz neuen Sache, das nimmt mich völlig in Anspruch. Nicht alles, was neu ist, ist auch gut. Aber diese Sache wird gut. Das habe ich im Blut. Ich versuche gerade, alles miteinander zu vernetzen, verstehst du? Jeder Magier kann jederzeit auf alles bestehende Wissen zugreifen. Erst einmal auf das gemeinsam gesammelte Wissen und dann natürlich noch auf das Wissen jedes einzelnen. Das würde die Akasha Chronik völlig überflüssig machen. Genial, nicht wahr? Jedem steht dann das gesamte magische Wissen zur Verfügung. Ich arbeite im Moment noch an den Übertragungswegen und dem Speichermedium. Ist gar nicht so einfach, aber ich habe da ein ganz neues Element im Visier“, sprudelte Parelsus los, sobald sich die Tür hinter uns geschlossen hatte.

„Ich versteh nicht ganz“, erwiderte ich verunsichert und bemühte mich, aus seinen Worten schlau zu werden.

„Nie wieder Unwissen, Selma. Begreifst du die Dimension? Ich arbeite daran, dass universelle Wissen der Magier zu erschaffen und es allen jederzeit und immer zugänglich zu machen ohne Kabel, ohne Verbindungen, ohne Behinderungen.“ Parelsus Blick schweifte in die Ferne und sah etwas, dass mir noch verborgen blieb.

„Ich verstehe es immer noch nicht“, gab ich stirnrunzelnd zu. „Wie soll das funktionieren?“

Parelsus sah mich an, als ob ich extrem schwer von Begriff wäre.

„Stell dir einfach vor, du könntest jederzeit auf das Wissen aus allen Büchern und allen Köpfen zugreifen“, sagte er langsam und mit verschwörerischem Blick. Nun wurde mir klarer, worauf er hinaus wollte.

„Sie wollen alle Köpfe miteinander vernetzen? Und was ist mit der Privatsphäre, ich will keine fremden Leute in meinem Kopf und ich will auch nicht alles von jedem wissen“, sagte ich stirnrunzelnd.

„Das ist zugegebenermaßen noch ein Problem.“ Parelsus kratzte sich nachdenklich am Kopf.

„Und was für eine Chronik wird überflüssig?“ Irgendwo hatte ich das Wort schon einmal gehört.

„Vergiss die Chronik, das ist nicht so wichtig“, sagte er schnell und ging eilig durch die Mediathek in Richtung seines Arbeitszimmers. Ich hatte Mühe, ihm zu folgen.

„Deine Mutter“, begann er und ließ sich in seinen Ohrensessel fallen, „hatte verschiedene Wege eingeschlagen. Eine Veränderung in der Bevölkerung beginnt entweder von oben oder von unten. Am Anfang hat sie versucht, von unten zu beginnen und so viele Magier wie möglich, von ihrer Idee zu überzeugen. Sie hat Flugblätter verteilt und dem „Korona Chronikle“ Interviews gegeben, um jedem klar zu machen, dass es völlig in Ordnung ist, wenn ein Patrizier einen Plebejer heiratet.“

„Und hat es funktioniert?“, fragte ich gespannt.

„Nein, die Plebejer haben deiner Mutter nicht vertraut, weil sie ein Patrizier war. Und die Patrizier haben eine Weile höflich zugehört und dann hat es keinen mehr interessiert. Das Buschfeuer, das deine Mutter auslösen wollte, war nicht mehr geworden als ein schales Flämmchen, das im Alltagseinerlei niedergetrampelt wurde. Sie hatte fast drei Jahre Zeit investiert und immer wieder neue Aktionen geplant, um Anhänger für ihr Vorhaben zu finden. Sie hat sogar jeden Monat vor dem Senatorenhaus demonstriert.“

„Wirklich?“, fragte ich ungläubig.

„Ja, sie war hartnäckig und konnte die Magier wirklich in Grund und Boden reden. Am Anfang kamen viele zu den Demonstrationen und dann wurden es Monat für Monat immer weniger, bis sie schließlich nur mit ihren engsten Freunden auf der Straße stand.“ Parelsus sah mich mit seinen grauen Augen durchdringend an, die, trotz der dicken Brille, in ihrer Schärfe nicht getrübt waren.

„Ich zeige dir noch ein paar Bilder.“ Parelsus stand auf und kramte in einem vollgestopften Regal, bis er mit einem alten Fotoalbum wiederkam. „Deine Mutter hat ihre Aktionen alle dokumentiert. Hier ist sie kurz vor den Weihnachtsferien beim Flugblätter verteilen.“

Ich sah meine Mutter auf einem der Bilder eingehüllt in einen dicken, roten Schal. Sie hatte einen Stapel Papier in die Luft geworfen und stand nun mit ausgebreiten Armen und einem Lächeln in dem Wirbel aus Papier. Parelsus holte ein Foto nach dem anderen aus dem Album und ich tauchte ganz und gar in diese andere Zeit ein.

Zwei Stunden später zog er das letzte Foto aus dem Album. Auf diesem Bild trug meine Mutter ein Plakat, das aus brennenden Buchstaben den Schriftzug „Ich heirate, wen ich will!“ zeigte.

„Meine Mutter wollte provozieren, nicht wahr?“, fragte ich lächelnd und betrachtete das Foto.

„Richtig, sie hatte gehofft, sich damit die meiste Aufmerksamkeit zu sichern.“

„Mit den Protesten ist sie gescheitert, aber das hat ja noch niemand gegen sie aufgebracht“, meinte ich nachdenklich.

„Richtig, das kam erst später, aber das erzähle ich dir das nächste Mal. Beeile dich jetzt in dein Zimmer zu kommen, bevor dich Madame Villourie erwischt. Wir dürfen es nicht riskieren, Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Ich melde mich bei dir, wenn ich wieder Zeit habe.“

Ich nickte und erhob mich. Parelsus verabschiedete sich und ich ging nachdenklich an MUS vorbei zurück in mein Zimmer. Es gelang mir, unbemerkt in die oberste Etage des Wohnturms zu kommen. Die Festung war wie ausgestorben. Im Studierzimmer traf ich Liana und aus dem Badezimmer hörte ich Lorenz und Shirley tuscheln.

„Gibt’s heut eine Party?“, fragte ich und ließ mich in das große Sofa fallen. Das mir die Sybillen mein nahendes Ende prophezeit hatten, hatte in mir ein seltsames Gefühl ausgelöst. Es war nicht Angst, so wie ich es erwartet hatte, sondern das dringende Bedürfnis endlich zu leben, rasant und intensiv. Wer wusste schon, wann meine Zeit zu Ende war.

„Party?“, fragte Lorenz und steckte seinen Kopf aus dem Badezimmer heraus. „Keine Chance solange Madame Villourie weiter so ein strenges Regiment führt. Wir könnten höchstens nach Schönefelde runtergehen und dort noch etwas unternehmen!“, schlug Lorenz vor.

„In Schönefelde sind jetzt schon die Bürgersteige hochgeklappt, da werdet ihr nichts mehr erleben und nach dem Wirbel, den Selma ausgelöst hat, ist es besser, wenn sie erst einmal hier bleibt“, sagte Liana streng. Ich nickte wiederwillig. Nachdem mich Adam zurück nach Tennenbode gebracht hatte, musste ich Professor Espendorm und noch ein paar anderen von der Schwarzen Garde Rede und Antwort stehen. Glücklicherweise konnten Lorenz und auch Frau Trudig bestätigen, dass es sich um ein unglückliches Versehen gehandelt hatte. Trotzdem hatte ich die Auflage bekommen, zu meiner eigenen Sicherheit, Schönefelde vorerst nicht zu verlassen.

„Wie war es bei Parelsus?“, fragte Liana.

„Sehr interessant. Er hat mir von der Protestbewegung meiner Mutter erzählt. Sie war ziemlich hartnäckig, hat Demonstrationen organisiert und Flugblätter verteilt.“

„Du hast deinen Plan noch nicht aufgegeben?“ Liana setzte sich neben mich und gemeinsam sahen wir in den Flockenwirbel hinaus.

„Nein, wieso denn?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ganz im Gegenteil. Die Sybillen haben mich ja auf eine ganz neue Spur gebracht. Wenn ich das Geheimnis um das Verschwinden meiner Familie lösen will, muss ich das Buch der Bücher finden.“

„Das Buch der Bücher, was soll das denn sein? Die Bibel vielleicht?“ Lorenz zog nachdenklich die Stirn in Falten.

„Ich glaube nicht, dass es die Bibel ist, denn die Sybillen haben mir gesagt, mir wäre dieses Buch schon einmal in einem Traum begegnet, aber ich kann mich nicht erinnern, jemals von der Bibel geträumt zu haben.“ Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Letzten Sommer hatte ich zwar nicht von der Bibel geträumt, aber dafür von einem Buch. Der Geschmack von Erde, der mir damals auf der Zunge gelegen hatte, war abscheulich gewesen. „Akasha“ hatte es geschrien, während es verbrannte. Mich durchfuhr es heiß. Was hatte Parelsus heute erwähnt?

„Akasha-Chronik!“, rief ich. „Ich muss die Akasha-Chronik finden!“ Begeistert sprang ich auf. Liana und Lorenz sahen mich an, als ob ich beschlossen hätte, Eier auszubrüten.

„Das Buch der Bücher ist die Akasha-Chronik!“, erklärte ich.

„Bist du dir sicher?“, fragte Liana. „Davon habe ich noch nie etwas gehört.“

„Ja, von diesem Buch habe ich geträumt und heute hat Parelsus gesagt, dass es eine Akasha-Chronik gibt, die er durch MUS irgendwann überflüssig machen will. Das heißt, die Akasha-Chronik weiß im Moment noch mehr als MUS und das bedeutet, dass sie mir Antworten auf meine Fragen geben kann.“ Endlich hatte ich einen Anhaltspunkt, an dem ich meine Suche beginnen konnte.

„Lass es mal langsam angehen!“ Liana sah mich besorgt an.

„Warum freust du dich nicht? Endlich weiß ich, wonach ich suchen soll.“ Ich wartete darauf, dass sich Lianas besorgter Gesichtsausdruck auflösen würde und das freundliche Lächeln wieder hervorkam. Doch nichts passierte.

„Tu es nicht! Ich habe einfach Angst, dass dir etwas passiert, Selma, dass du dich mit den Falschen anlegst“, meinte sie ernst.

„Wir müssen es eben geschickt anstellen“, sagte Shirley plötzlich und trat neben uns. Ich hatte sie gar nicht bemerkt, doch ich war erleichtert, dass jemand auf meiner Seite war. „Wir dürfen niemandem davon erzählen, dann kommt auch keiner in Gefahr. Es wird Zeit, etwas Schwung in die Sache zu bringen.“

„Genau“, entgegnete ich und hoffte, Liana noch umstimmen zu können. „Parelsus hat gesagt, meine Mutter sah nur zwei Wege, die Gesellschaft zu ändern. Von oben oder unten. Als sie es von unten versucht hat, ist sie gescheitert.“

„Und als sie es von oben probiert hat, ist sie gestorben“, meinte Liana trocken. Ich ignorierte ihren Kommentar. Ich erwartete ja nicht von ihr, dass sie sich in einen Kampf auf Leben und Tod stürzte. Sie sollte einfach nicht gegen mich sein, denn das tat mir weh. Liana war noch nie gegen mich gewesen und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

„Das sie gestorben ist, ist nicht bewiesen. Wir wollen herausfinden, warum sie verschwunden ist und wie?“, sagte Lorenz nachdenklich. „Wenn wir das wissen, wird uns das dann sicher automatisch zu der Lösung eines ganz dringlichen Problems führen, das, an dem Selmas Mutter letztlich gescheitert ist: Der Abschaffung der reinen Patrizierehen. Ich habe doch gesagt, dass es sich lohnt bei den Sybillen vorbeizuschauen. Wer hätte gedacht, dass sie dir solch eine große Prophezeiung machen.“

„Das Buch weiß vielleicht auch, wer die Mädchen entführt hat und wie wir dieses Ungeheuer dingfest machen können.“ Lorenz stand auf und lief nachdenklich im Zimmer umher, während er geziert die Hand an die Stirn legte. „Wenn der Unbekannte gefasst ist, meine Lieben, dann muss Adam nicht mehr bei der Schwarzen Garde arbeiten, denn die wird dann nur noch für Paraden gebraucht. Was wiederum bedeutet, dass, ohne die Einschränkungen der Schwarzen Garde und der Vorschriften über die Patrizierehen, einem Happy End mit einem riesigen, pinken Herz nichts mehr im Wege steht. Voila!“ Er streckte beide Arme aus wie ein Model auf dem Laufsteg und ich fühlte mich beinahe genötigt, seiner Präsentation zu applaudieren. Ich unterdrückte das Zucken in meinen Armen und stand ebenfalls auf.

„Sherlock Holmes, wo gedenken sie die Suche nach der Akasha-Chronik zu beginnen?“, fragte ich und ging auf sein Spiel ein.

„Selma, du solltest das wirklich sein lassen!“ Liana verdrehte die Augen.

„Wenn ich es lasse, Liana, dann werde ich nie erfahren, wer meine Familie umgebracht hat“, sagte ich ernst. „Denn davon muss ich jetzt ausgehen und ich werde niemals mit Adam zusammen sein können. Ob du es glaubst oder nicht, mein Tod ist mir allemal lieber, als so ein Leben zu führen. Du musst dich nicht mit mir in Gefahr begeben, niemand muss das. Das ist mein Weg, aber versuche nicht mich aufzuhalten, denn das ist sinnlos.“ Ich sah Liana an und flehte still, dass meine Bitte zu ihr durchdrang. Doch sie presste nur die Lippen verärgert zusammen und stand auf. Ohne noch etwas zu sagen, ging sie in ihr Zimmer.

Koenigsblut - Die Akasha-Chronik
titlepage.xhtml
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_000.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_001.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_002.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_003.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_004.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_005.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_006.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_007.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_008.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_009.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_010.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_011.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_012.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_013.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_014.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_015.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_016.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_017.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_018.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_019.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_020.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_021.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_022.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_023.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_024.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_025.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_026.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_027.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_028.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_029.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_030.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_031.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_032.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_033.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_034.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_035.html
CR!0CJDMNNMES0HH30T6H507W326VSA_split_036.html