Würstchen

 

 

 

Mein Interesse an einer geregelten Bürotätigkeit war nach dem Frühstück äußerst gering. So ließ ich es am nächsten Morgen sehr langsam und ruhig angehen und trat erst gar nicht den Fußmarsch zur Kanzlei an. Der gestrige Besuch hatte mir deutlich gemacht, dass es ohne mich ging, auch wenn Dieter mir eine andere Ansicht verkaufen wollte; insofern hatte ich kein schlechtes Gewissen, als ich mich daran machte, in meiner Wohnung aufzuräumen. Sabine sollte nicht unbedingt in einer Räuberhöhle nächtigen müssen, sagte ich mir, als ich mit Wischlappen und Staubsauger werkelte und den Staub neu sortierte.

Allerdings kam ich nicht weit. Als ich auf meinem Schreibtisch die Papiere und Bücher kramte, ließ ich mich gerne von der wenig erbaulichen Hausmannstätigkeit ablenken.

Aus der willkommenen Ablenkung wurde schnell Arbeit, als ich mich an meine eigene schriftstellerische Vergangenheit erinnerte und ich mich auf der Suche nach den Belegen der viele Jahre zurückliegenden Autorentätigkeit machte. Meine eigene Geschichte mit allen Haken und Ösen brachte mich ins Grübeln und ließ mich zu Schreibpapier und Bleistift greifen. Gedankenversunken hockte ich am Schreibtisch und vergaß die Zeit um mich. Ich war auf irgendetwas gestoßen, das mit dem Geschehen um Fleischmann zu tun hatte und das nicht passte.

Ich würde mit Böhnke über meine Überlegungen reden müssen und ich war gespannt, was er mir zu sagen hatte.

„Wie wär’s mit einem Würstchen?“ Ich verstand die Frage nicht, die mir der Kommissar am frühen Nachmittag am Telefon stellte. Ich saß immer noch am Schreibtisch und grübelte vor mich hin.

Er war bei Schranz gewesen, berichtete der Kommissar mir, und hatte das Rindfleisch reklamiert. „Jetzt habe ich stattdessen ein Würstchen bei mir und wollte Sie einladen, mit mir im Präsidium zu speisen.“

Ohne Zögern nahm ich sein Angebot an, mich von einem Fahrer zur Soers bringen zu lassen. Wenn Böhnke mit mir essen wollte, dann wollte er auch mit mir reden. Insofern hatten wir wohl beide das Bedürfnis nach gegenseitigem Gedankenaustausch. Außerdem hatte mir der Hinweis auf das Würstchen deutlich gemacht, dass ich Hunger verspürte.

 

 

Ich war einigermaßen erstaunt, als ich erkannte, dass Böhnke nicht allein in seinem Büro auf mich wartete.

In der Besucherecke hockte ziemlich zerknirscht Schranz. Seine Selbstsicherheit war verflogen, nervös spielte er mit den Händen, Schweiß stand auf seiner Stirn. War er etwa das Würstchen, von dem Böhnke gesprochen hatte? Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass der Großmetzger freiwillig als Besucher ins Polizeipräsidium gekommen war. Jedenfalls machte er auf mich nicht den Eindruck, als sei er aus freien Stücken oder rein zufällig in Böhnkes Büro gekommen.

Mit einem zufriedenen Grinsen begrüßte mich der Kommissar. „Dank Ihrer Hilfe haben wir Herrn Schranz überführen können, Herr Grundler. Betrug, Steuerhinterziehung, Verstöße gegen das Lebensmittelgesetz und noch allerlei anderes. Herr Schranz und sein Kompagnon Willibald sind heute verhaftet worden.“

„Wie haben Sie denn die beiden überführt?“, fragte ich überrascht.

Böhnke klopfte mir auf die Schulter, während ich in meiner Kaffeetasse rührte. „Nach den Hinweisen, die Sie uns gegeben haben, haben wir die beiden beobachtet. Ausgehend vom Viehtransport ab der Weide in Ubach over Worms bis hin zu den Fleischverwertungsbetrieben haben wir das Geschehen kontrolliert. Bei einer Hausdurchsuchung haben wir auch Dokumente gefunden, die den unzulässigen Kauf der Rinder und den Import von tief gefrorenem Fleisch belegen.“ Es sei fast so gewesen, wie von Fleischmann beschrieben. „Aber letztendlich haben Sie uns die entscheidende Vorlage gegeben, Herr Grundler.“

„Inwiefern?“ Ich konnte mir meinen angeblich maßgeblichen Anteil an der Aufklärung des Verbrechens nicht erklären. „Weil Sie mit Fleischmann gesprochen haben“, sagte Böhnke laut, „und er Ihnen gesagt hat, wie sich das Geschehen abgespielt hatte.“

Bevor ich einwenden konnte, dass ich mir bezüglich der Identität von Fleischmann nicht sicher war, hatte der Kommissar schon weitergesprochen. „Erschwerend kommt hinzu, dass Schranz die Bekanntschaft mit Fleischmann leugnet. Wir wissen es besser.“ Böhnke griff nach einem Foto auf seinem Schreibtisch, das er mir mit einem Augenzwinkern brachte.

Schranz hockte regungslos auf seinem Platz und stierte auf einen Punkt in der Zimmerecke.

Das fast vergilbte Bild zeigte drei junge Leute, die sich mit Bierflaschen in der Hand zuprosteten. „Das sind Schranz, Fleischmann und Willibald bei einer Feier während des Studiums.“ Das Trio sei unzertrennlich gewesen und hätte manchen groben Unfug angestellt, klärte mich der Kommissar auf. „Wissen Sie noch, dass Sie einmal einen alten Käfer in den Brunnen am Europaplatz gefahren haben, Herr Schranz?“ Dadurch war die Polizei auf die Drei aufmerksam geworden. „Dabei haben wir auch das Foto sichergestellt.“ Aber es gäbe noch einen anderen Beweis. „Wir haben die drei Studenten damals Klavier spielen lassen. Die Fingerabdrücke von Ihnen, Herr Schranz, sind ebenso im Archiv wie die von Fleischmann.“

Sofort klingelte es in meinem linken Ohr. Diese Bemerkung musste näher erläutert werden. „Jetzt ist jedenfalls Ihr Spiel aus, Herr Schranz“, hörte ich Böhnke sagen. „Von der Untersuchungshaft geht’s sofort ins Gefängnis, würde ich schätzen.“

Ich hob die Arme, um mich zu Wort zu melden. „Was ist mit Fleischmann? Unterstellt, er ist tatsächlich ermordet worden, inwieweit ist Schranz daran beteiligt?“ Ein Mord zur Verdeckung einer Straftat kam eventuell noch auf das Konto des Metzgers und seines nicht minder raffgierigen Freundes. „Da ist nichts, mein Freund“, enttäuschte mich Böhnke lächelnd. „Zur vermeintlichen Tatzeit haben sich die beiden nachweislich auf Ibiza befunden. Sie haben ein absolut wasserdichtes Alibi.“

Ich sah Schranz an, der immer noch durch das Zimmer starrte. „Kennen Sie Erwin Langerbeins?“

Der Metzger schüttelte verneinend den Kopf. „Haben Sie je die Namen Leder, Wagner, Gerstenkorn, van Dyke gehört?“

Wieder verneinte der gebrochene Mann stumm.

Ich nahm ihm ab, dass er die Namen nicht kannte. Schranz stand unter dem Eindruck seiner plötzlichen Verhaftung und hätte nicht die Energie gehabt, überzeugend zu leugnen.

 

 

„Die Liste unserer potenziellen Fleischmann-Mörder wird immer kleiner“, meinte ich zu Böhnke, als wir endlich in der Kantine dazu kamen, eine Bratwurst zu essen. „Ich glaube, wir müssen Schranz streichen. Uns gehen langsam die Kandidaten aus. Oder?“

Kauend stimmte mir der Kommissar zu.

Oder lebte Fleischmann etwa noch? „Was machte Sie am Lahey-Park eigentlich so sicher, dass es sich bei der Fleischmasse um den Krimiautor handelt?“, fragte ich argwöhnisch. Die Bemerkung aus dem Gespräch mit Schranz ließ mich vorsichtig werden.

Böhnke schluckte und lächelte verlegen: „Der Fingerabdruck. Unsere Mediziner haben in der Fleischmasse zwei Finger gefunden, die eindeutig von Fleischmann stammen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er freiwillig auf zwei seiner Finger verzichtet und sie zur Leiche eines anderen legt, um auf sich hinzuweisen.“

„Warum,…?“ Ich kam nicht dazu, zornig meine berechtigte Frage zu stellen.

„Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Grundler. Ich habe Sie belogen, wie ich auch die Presse belogen habe.“ Ärgerlicherweise habe es einen jungen, allzu dynamischen Kollegen gegeben, der Sümmerling über die Fingerabdrücke informierte. „Es hat einiges an Überzeugungskraft gekostet, den Journalisten davon zu überzeugen, dass der Kollege ihn falsch informiert hat.“ Böhnke schaute mir mit klaren Augen fest ins Gesicht. „Ich hatte es aus ermittlungstechnischen Gründen für besser und richtig gehalten, die Fingerabdrücke nicht ins Gespräch zu bringen. Das hätte Schranz vielleicht hellhörig werden lassen. Bei den Ermittlungen gegen ihn war es uns wichtig, seine Beziehung zu Fleischmann nicht zu früh publik werden zu lassen. Schranz hätte ja auch der Mörder sein können.“ Der Kommissar betrachtete mich mit einem verlegenen Lächeln, ehe er den Rest seiner Bratwurst in den Senf tunkte. „Und außerdem wollte ich Sie unbedingt bei meinen Ermittlungen dabeihaben.“

 

 

Was sollte ich darauf antworten? Ich konnte ohnehin nichts mehr ändern und Böhnke allenfalls über eine Honorarforderung eine Retourkutsche verpassen. Aber wie ich mich kannte, würde ich darauf verzichten.

„Wer hat denn jetzt Fleischmann ermordet oder ermorden lassen?“, fragte ich den Kommissar.

„Woher soll ich das wissen?“, antwortete er mit einer Gegenfrage. „Ich weiß nur, dass Schranz ebenso wenig in Frage kommt wie Gerstenkorn.“

„Was spricht zu Gunsten von Gerstenkorn?“ Zwar hatte auch ich den Politiker nicht mehr auf der Rechnung, aber ich wollte wissen, wie Böhnke seine Ansicht begründete. „Sein politischer Instinkt“, meinte der Kommissar. „Als Gerstenkorn erfuhr, dass Fleischmann ermordet worden ist, sah er die Zeit gekommen, sich abzuseilen. Er konnte sich denken, dass er über kurz oder lang von den Ermittlungen betroffen und politischen Schaden erleiden würde. Spätestens nach dem verschlüsselten Hinweis auf sein Konto wusste er, was die Stunde für ihn geschlagen hatte. Da zog er kurzerhand die Reißlinie und verabschiedete sich schnurstracks in den unverdienten Ruhestand.“

 

 

Offenbar lagen Böhnke und ich doch auf der gleichen Wellenlänge. Ähnlich hätte ich auch argumentiert. Doch gab es noch eine Ungereimtheit. „Wieso stand der ausgebrannte Geländewagen von Gerstenkorn in der ehemaligen Baumschule in Erkelenz?“

Böhnke erhob sich und brachte das Tablett zum Tablettwagen. „Weil ihn jemand dorthin brachte, der uns auf Gerstenkorn lenken wollte“, antwortete er.

„Was ist mit Schmitz, dem Exschwager von Langerbeins?“ Es war mehr ein hoffnungsloser Versuch als eine konkrete Spur, die ich aufgriff.

„Den können Sie abhaken. Der ist mit den Nerven völlig am Ende und liegt im Krankenhaus. Der kann doch keiner Fliege etwas zu Leide tun und ist außerdem ein feiger Hund“, antwortete Böhnke.

„Wissen Sie, was ich denke?“, sagte ich, während wir zurück zu Böhnkes Büro gingen, und ich berichtete dem Kommissar von meiner Vermutung.

Er stimmte mir zu. „Es gibt also jemanden, der im Prinzip genauso viel weiß wie wir. Aber wer ist’s?“

Vielleicht könne uns Wagner weiterhelfen, schlug ich vor. „Wir sollten ihn morgen besuchen und ihn fragen. Einverstanden?“

Schaden könne es nicht, entgegnete Böhnke zustimmend. „Übrigens“, er hielt mich schmunzelnd zurück, „das mit dem zähen Rindfleisch war natürlich ein Scherz. Der Junge hat genug Dreck am Stecken, auch ohne meine Reklamation.“

 

 

Es wurde schon wieder dunkel, als ich zum Templergraben zurückkehrte. Ich wunderte mich zunächst über das Licht, das aus meiner Wohnung schien, dann hatte ich es eilig.

Sabine saß am Schreibtisch und zog gerade ein Blatt Papier aus der Druckerablage, als ich ins Zimmer trat. Ich umarmte sie und gab ihr einen satten Kuss.

„Mehr davon“, sagte sie strahlend, „ich freue mich, wieder bei dir zu sein.“

Die Freude sei beiderseitig, versicherte ich und sah mich kurz um. „Wo ist denn das Schöne, das du mir mitbringen wolltest?“

Meine Liebste löste sich aus meiner Umarmung und griff zu einer großen Einkaufstüte. Sie hatte mir eine blaue Jeans und ein graues Sweatshirt mitgebracht.

Und sie gab mir einen Packen Papier. „Ich habe die Geschichte von Fleischmann aufgeschrieben, die du mir am Telefon erzählt hast. Du magst doch gerne alles schwarz auf weiß.“ Sabine hatte während unserer Telefonate stenografiert und den Text jetzt umgesetzt. „Ich musste doch etwas tun, während ich hier auf dich gewartet habe. Oder hast du etwa geglaubt, ich würde deine unordentliche Hütte auf Vordermann bringen?“