Eine hektische, beunruhigende Betriebsamkeit empfing Böhnke und mich, als wir wieder im Luisenhospital ankamen. Schon der unbesetzte Streifenwagen der Polizei vor dem Hauptportal, auf dem sich überflüssigerweise das blaue Alarmlicht drehte, verhieß nichts Erfreuliches. Die verkniffenen Mienen der Polizisten im Eingang verstärkten den negativen Eindruck. Der knappe Bericht, den sie Böhnke bereitwillig gaben, machte mir Angst. Jemand sei unbemerkt, wahrscheinlich als Arzt oder Pfleger getarnt, in die Intensivstation eingedrungen und habe dort die Apparaturen am Krankenbett einer jungen Frau abgeschaltet, berichteten sie.
Ich hörte nicht länger zu, sondern hastete hinauf auf die Station. Meine Befürchtungen, jemand habe es auf die wehrlose Renate Leder abgesehen, trafen zu. Durch die offenen Türen, vorbei an zwei verdutzten Polizisten, die mich nicht aufhalten konnten, schob ich mich in das Krankenzimmer, in dem mehrere Schwestern und Ärzte aufgeregt an den medizinischen Apparaturen hantierten.
Wie ein kümmerliches Häufchen Elend lag die zierliche, blasse Frau bewegungslos in ihrem Bett. Renates Gesicht war von einer Atemmaske verdeckt. Ihre dünnen Arme waren durch mehrere Schläuche mit Infusionsflaschen verbunden. Erschöpft rieb sich ein junger Arzt durchs Gesicht und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ob sie jetzt noch durchkommt, wage ich zu bezweifeln“, sagte er mehr zu sich als zu den anderen in den Raum hinein. Enttäuscht ging er auf den Flur, auf dem ihm Böhnke entgegenkam.
Ich folgte den beiden in ein Arztzimmer, in dem Böhnke und ich nach der gegenseitigen Vorstellung vor einem Schreibtisch Platz nahmen.
„Was ist passiert?“, fragte Böhnke den Arzt, während er mich streng ansah. Ich kannte diesen Blick schon zur Genüge. ,Halte die Klappe, hier stelle nur ich die Fragen!’, sollte er mir sagen.
Der Mediziner sah angespannt und ausgemergelt aus. Er hatte sich auf die Ellbogen gestützt und die Hände gefaltet. „Da gibt es nicht viel zu sagen. Die Schwestern haben im Überwachungsraum bemerkt, dass die Apparaturen am Bett der Patientin Leder nicht mehr einwandfrei arbeiteten. Die Alarmsignale und der fehlende Ausschlag auf den Monitoren deuteten darauf hin, dass etwas geschehen war. Normalerweise kündigen die Merkmale einen eingetretenen oder unmittelbar bevorstehenden Exitus an.“ Der Arzt fuhr sich mit den Händen fahrig durchs Haar. „Bei der sofortigen Kontrolle sahen sie dann, dass jemand an den Geräten manipuliert hatte. Den Rest haben Sie mitbekommen. Wir haben die Patientin wieder angeschlossen und mit zusätzlichen Medikamenten versorgt und können jetzt nur noch beten. Ich hoffe, dass Frau Doktor Leder zäh ist.“
„Zwei Fragen“, bat Böhnke übertrieben höflich. „Wieso kann jemand unbemerkt in das Zimmer gelangen? Wurde jemand gesehen?“
„Ich weiß nicht, wie der Mann oder die Frau hineingekommen ist. Er oder sie hat sich hineingeschlichen und ist später unerkannt abgehauen. Wir haben das Zimmer nicht länger mit einem Wachposten versehen können, nachdem die Polizei abgezogen ist.“ Der Arzt sah Böhnke vorwurfsvoll an, als hätte die Polizei ein Mitverschulden, weil sie das Zimmer nicht mehr überwacht hatte. „Im Zimmer selbst war der Täter ungestört. Es gibt keine optische Kontrolle jedes einzelnen Raums, sondern nur die Überwachung der computergesteuerten Apparate in einem Zentralraum. Dort laufen alle Informationen aus allen Zimmern zusammen. Die moderne Technik ist effizienter als die menschliche Arbeitsleistung und spart außerdem Personal. Das nennt man Kostensenkung im Gesundheitswesen.“
„Also gibt es keine Anhaltspunkte auf einen möglichen Täter?“, wollte Böhnke wissen.
Der Arzt erhob sich schwerfällig und gab die erwartete Antwort. „Es gibt nichts. In unserem Haus laufen so viele Patienten, Besucher und medizinisches Personal herum, da kann nicht jeder jeden kennen und nicht jeder jeden kontrollieren.“ Er reichte uns resignierend die Hand zum Abschied. „Es ist schade, dass anscheinend nichts mehr ohne Vertrauen geht. Irgendwann geht die Welt am Missbrauch des Vertrauens zugrunde.“
Mit diesem Wort zum Tage eilte ich in mein Zimmer. Ich hatte keine Lust mehr, eine Sekunde länger im Krankenhaus zu bleiben. Ich hätte viel zu tun, sagte ich zu Böhnke, während ich meine wenigen Klamotten in einer Sporttasche verstaute. „Was denn?“, fragte er.
„Ich möchte gerne noch einmal in Fleischmanns Wohnung und anschließend in die meiner Mandantin“, sagte ich ihm. „Und ich gehe fest davon aus, dass Sie mir die Möglichkeit dazu verschaffen.“ Ich grinste Böhnke an, der zurückgrinste. „Kein Problem, mein Freund, aber nur unter einer Bedingung: Sie bekommen Geleitschutz durch die Schutzpolizei.“
„Gerne.“ Ein Aufpasser im Nacken konnte mir unter den gegebenen Umständen nur recht sein. Er erhöhte meine Überlebenschance nicht unerheblich. „Vielleicht stehe ich ja immer noch auf der Abschussliste irgendeines Idioten.“
Schleunigst verließ ich das Krankenzimmer und ging zu Böhnkes Wagen, ohne mich auf der Station abzumelden.
„Wohin?“, fragte mich der Kommissar, während er den Zündschlüssel drehte.
„Zur Stephanstraße“, gab ich zur Antwort, „und anschließend zur Paugasse.“ Ich freute mich, dass der Kommissar nicht widersprach. Im Gegenteil, über Funk beorderte er einen Streifenwagen zu Fleischmanns Wohnung und bat darum, die Schlüssel zu beiden Wohnungen mitzubringen.
Schon nach wenigen Minuten standen wir vor dem Mietshaus und warteten auf die Schutzpolizisten. „Was machen Sie, während ich mich amüsiere?“, fragte ich. „Ich“, Böhnke lehnte sich lässig gegen seinen Dienstwagen, „ich habe auf meinem Schreibtisch noch mehrere unerledigte Fälle liegen, die ich endlich abhaken möchte.“
Diese allgemeine Antwort hätte Böhnke sich schenken können. „Was denn?“, fragte ich weiter.
„Nichts, dass Sie zu interessieren hat“, blockte der Kommissar weiter ab, „lassen Sie sich überraschen, wenn es so weit ist.“ Er richtete sich auf und winkte einen grünen Polizeiwagen heran, der sich langsam auf der Straße näherte. „Dort kommt Ihr Kindermädchen.“
„Ich glaube nicht, dass Sie viel finden“, meinte der ältere Streifenpolizist skeptisch bei der Begrüßung, bevor er mit mir ins Dachgeschoss kletterte. „Mit Ihnen soll es aber nie langweilig sein“, meinte er weiter, als er die Wohnungstür aufschloss. „Ich werde schon dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert.“ Er zog es vor, sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen, dass ich als Zivilist unter Polizeischutz ungehindert in fremden Wohnungen herumstöbern durfte.
Dermaßen beruhigt trat ich an Fleischmanns Schreibtisch. Nichts deutete darauf hin, dass sich seit meinem letzten Besuch etwas geändert hatte. Aber anscheinend war einiges in der Zwischenzeit passiert. Nachdenklich setzte ich mich und schaltete den Computer an. Geduldig wartete ich, bis sich das Programm aufgebaut hatte und ich mit dem Gerät arbeiten konnte. Als ich die geheimen Dateien mit dem Passwort öffnen wollte, war meine Arbeit unvermittelt beendet. Der Computer akzeptierte zwar dieses Passwort, teilte mir dann jedoch nüchtern mit, dass die von mir gesuchten Dateien nicht existierten. Der Fall war für mich sonnenklar: Derjenige, der die Diskette im Schreibtisch deponiert oder der die Diskette entfernt hatte, hatte auch am Computer hantiert und mich ins Leere laufen lassen.
Notgedrungen stöberte ich einige Zeit durch die bestehenden Dateien, die mir verständlicherweise keine neuen Informationen liefern konnten. Enttäuscht wandte ich mich den Büchern und Aktenordnern in den Regalen zu. Ich wusste nicht, wonach ich suchte, aber ich hoffte, irgendetwas zu finden, das mir weiterhalf. ,Warum eigentlich?’, fragte ich mich. Warum ging ich nicht einfach nach Hause und ließ die Angelegenheit auf sich beruhen? Es gab allerdings einen Grund, der mich antrieb. Jemand hatte versucht, mich umzubringen. Wahrscheinlich war ich ihm zu nahe getreten oder war ihm sogar schon so dicht auf den Fersen, dass er befürchtete, ich würde ihn entlarven. Ich musste wohl damit rechnen, dass er nicht ruhen würde, bis ich ihm nicht mehr schaden konnte. Da war es in meinem Sinne besser, wenn ich ihn ausschaltete. Außerdem stand ich immer noch in Renates Schuld, redete ich mir jedenfalls ein.
Ich blätterte mehrere Aktenordner durch und blieb bei der Sammlung der Autorenverträge hängen, die Fleischmann mit Wagner abgeschlossen hatte. Die Verträge, die offensichtlich Kopien waren, waren inhaltlich identisch. Nur beim letzten Vertrag, bei dem über das „Metzger-Manuskript“, gab es einen kleinen Unterschied, er war nicht von Fleischmann unterschrieben, sondern nur von Wagner. Bestimmt gab es dafür eine plausible Erklärung, die mir zwar nicht einfiel, die mir aber der Verleger oder vielleicht auch die Lektorin geben könnten. Ich schob den Aktenordner zurück ins Regal und stand enttäuscht auf. „Außer Spesen nichts gewesen“, meinte ich bedauernd zu dem Polizisten, der am Küchentisch saß und interessiert in einem Krimi von Fleischmann las.
Er sah mich fragend an: „Und was nun?“
„Jetzt bringen Sie mich bitte in die Wohnung von Frau Doktor Leder.“ Mir graute schon vor dem Chaos aus Papier, durch das ich mich wühlen musste, um vielleicht einen Anhaltspunkt zu finden.
„Wenn’s weiter nichts ist“, meinte der Polizist mit Langmut und steckte ungeniert das Taschenbuch in die Jackentasche. „Ich habe heute ohnehin nichts mehr vor.“
Kurze Zeit später standen wir vor dem kleinen Haus an der Paugasse und schauten uns verblüfft an. „Hier ist wohl Tag der offenen Tür“, kommentierte mein Begleiter in Anbetracht der weit aufstehenden Haustür. Er hielt mich energisch am Arm zurück, als ich in Renates Wohnung eintreten wollte. „Ich würde vorschlagen, wir lassen unsere Freunde von der Spurensicherung anrücken. Das sieht mir sehr nach einem Einbruch aus.“
Wenig begeistert akzeptierte ich seinen Vorschlag und wartete auf die Kriminalpolizisten, die sich Zeit ließen mit ihrem Erscheinen und noch mehr mit ihrer Untersuchung. Viel zu lange dauerte es mir, bis sie mir erlaubten, die Wohnung zu betreten. „Wenn Sie glauben, mehr zu finden, als wir erkennen können, dann versuchen Sie Ihr Glück“, forderte mich ein Kripomann auf.
Bislang war ich der Auffassung gewesen, in der Wohnung Renates hätte das Chaos geherrscht. Aber nunmehr erwies sich der vorherige Zustand noch als wohlgeordnetes Durcheinander.
Jetzt konnte ich in der Tat von einem Chaos reden. Darin nach Spuren zu suchen, schien mir ebenso müßig wie die Suche nach dem Ende des Regenbogens hinten am Horizont.
Selbst im Schlafzimmer hatte der Einbrecher respektlos gewütet. Renates Bett und der Kleiderschrank waren demoliert, die Wäsche lag verstreut umher. Im Wohnzimmer hatte der Unbekannte alle Papiere, Bücher und Ordnern aus den Regalen gerissen und auf den Boden geworfen. Alle umgekippten Schränke und die ausgeschütteten Schubladen lagen leer dazwischen. „Hier hat jemand etwas gesucht“, stellte ich mehr für mich fest als für den Polizisten, der neben mir stand. „Aber was?“
„Gute Frage.“ Mein Begleiter verzog gequält den Mund. „Wenn wir das wüssten, würden wir auch wissen, ob er es gefunden hat oder nicht. Eines ist allerdings sicher, auf Geld hat es unser Gauner nicht abgesehen.“ Er zeigte mir einen geöffneten Briefumschlag, in dem ich einige Geldscheine erkennen konnte. „Das sind fast tausend Mark, die der Einbrecher nicht mitgenommen hat. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er diesen Umschlag übersehen hat.“
Ohne allzu große Erwartungen setzte ich mich auf den Schreibtischstuhl und stöberte in den herumliegenden Blättern. Endlich wusste ich, wonach ich suchen musste und wirbelte zur Verblüffung meines Schupos kniend durch die ungeordnete Papierflut. Doch ich fand nicht, was ich haben wollte, was für mich zwei Möglichkeiten zuließ: Entweder hatte ich Renates erstes, durchgestrichenes Soziogramm übersehen oder der Einbrecher hatte es mitgenommen.
Ich hatte keine Lust mehr, mich durch dieses Durcheinander zu wühlen und verabschiedete mich eilig. Schnurstracks machte ich mich auf den Weg zur Kanzlei. Es war vielleicht nicht das Schlechteste, mich dort einmal wieder blicken zu lassen. Aber ich fand niemandem, dem ich mit meinem Arbeitseifer hätte imponieren können. Die Räume waren leer, unsere Mitarbeiter und unser Brötchengeber hatten schon den Feierabend angetreten.
Müde ließ ich mich an meinem Schreibtisch nieder, blätterte wenig konzentriert durch die Post und rief Dieter an. Ob er mit mir den Abend verbringen wollte, fragte ich ihn.
Aber ihm war nicht nach meiner Gegenwart. „Ich muss den Haushalt machen und die Wohnung auf Vordermann bringen“, stöhnte er. „Morgen kommen unsere Frauen zurück, dann muss alles blinken, das Geschirr gespült und die Wäsche gewaschen sein. Weißt du, wie die Waschmaschine funktioniert?“
Ich musste passen. Mit derart komplizierten technischen Dingen hatte ich mich noch nicht befasst, sie überließ ich gerne anderen. Unwillkürlich musste ich an Sabine denken. Schnell wählte ich die Rufnummer ihres Hotelzimmers und freute mich, als sie abhob.
„Du hast Glück, wir wollten gerade los“, sagte sie drängend statt einer Begrüßung. „Was gibt’s?“
„Nichts Besonderes“, antwortete ich enttäuscht, und berichtete von meinem nicht gerade erfolgreichen Arbeitstag. „Morgen wird alles besser“, tröstete mich meine Liebste, „morgen bin ich wieder bei dir.“
Diese Aussicht machte mich etwas munterer. Schnell ging ich quer durch die Stadt zu meiner Wohnung.
Mit Renates Zeichnung in der Hand lümmelte ich mich in einen Sessel. Wenn „D“ und „S“ für van Dyke und Schmitz standen, dann,… Ich schlängelte mich durch das Labyrinth der Buchstaben und Striche und kam mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass viele Verbindungen passten. Von Schmitz zu Langerbeins war es nicht weit, ebenso wenig von Langerbeins zu van Dyke. Vieles wurde mir klar, nur das Wichtigste nicht: Welche Rolle spielte Renate, die das verwirrende Spiel offenbar durchschaut hatte, und wer war der große Unbekannte, der alle Fäden in der Hand und uns in Atem hielt? Gähnend streckte ich mich und dachte an Sabine. Zufrieden kroch ich ins Bett und bemühte mich um meine Nachtruhe. Bekanntlich vergeht die Zeit niemals schneller als im Schlaf.
Doch ich kam nicht zum Schlafen, das unerbittliche Telefon hinderte mich daran. Fluchend stand ich wieder auf. „Dieser Anschluss ist zur Zeit nicht besetzt“, knurrte ich in den Hörer. „Und ich habe Sie nicht angerufen“, erhielt ich prompt zur Antwort. Böhnke ließ sich von mir nicht aus der Ruhe bringen. „Haben Sie Magenschmerzen?“
„Wieso?“ Mir ginge es den Umständen entsprechend gut, entgegnete ich.
„Sie haben ja auch kein Rindfleisch von Schranz gegessen“, erklärte der Kommissar durchaus vergnügt. „Dem werde ich morgen einen Besuch abstatten. Er hat mir kein zartes Rindfleisch verkauft. Das Zeug war ungenießbar. Das war zähes Leder.“