Doktor Renate Leder

 

 

 

Die zierliche Frau mit den schulterlangen, glatten, braunen Haaren lächelte mich erleichtert an und atmete sichtlich auf, als mich Böhnke vorstellte.

Ich war überrascht von der kleinen Person. Nach unseren Telefonaten hatte ich mir Doktor Renate Leder als eine elanvolle, sportliche, junge Frau vorgestellt. Jetzt musste ich mich mit einem schmalen, verschüchtert wirkenden Winzling in meinem Alter mit großen braunen Augen hinter einer runden Nickelbrille begnügen. Bekleidet war die Frau sportlich leger mit einer einfachen blauen Jeans und einem dunklen Pullover. Über ihrem Arm hing eine dünne gelbe Wetterjacke. Die Stupsnase mit den Sommersprossen gab der Lektorin einen niedlichen Anblick. Das war so eine Frau, die unweigerlich in jedem Mann einen Beschützerinstinkt wachrief und daher unverzüglich bei mir alle Warnlichter aufblinken ließ.

,Die Frau war niemals eine Mörderin’, dachte ich mir unvermittelt und stellte mir vor, wie die Kleine den stämmigen Renatus Fleischmann auseinander genommen und die achtzig Kilogramm Fleischmasse zum Lahey-Park transportiert hatte. Das passte einfach nicht. Es sei denn, sie hatte einen oder, was wahrscheinlich wäre, mehrere Mittäter, die unter ihrer Anleitung oder in ihrem Auftrag die Drecksarbeit erledigt hatten. Aber sie sah nicht aus wie jemand, der einen Menschen töten und zerhäckseln oder einen Auftrag zu einem derartigen Mord erteilen konnte.

Ich beobachtete die Lektorin, die von einer Polizeibeamtin in Böhnkes Büro gebracht worden war und nun verängstigt neben mir in der Besucherecke saß.

In diesem Büro hatten Böhnke und ich schon so manche Diskussion über vertrackte Kriminalfälle geführt. Im Besucherbereich mit den beiden braunen Ledersofas und dem flachen Tisch hatte ich schon meinen Stammplatz, von dem ich den direkten Blick auf Böhnkes Schreibtisch an der gegenüberliegenden Seite des sehr nüchtern gestalteten Raums ohne Bilder und Grünzeug hatte. Meistens saß der Kommissar an seinem Arbeitsplatz und sortierte die Papiere, derweil ich auf einem Sofa lungerte. Auch jetzt hatte sich Böhnke hinter seinem Schreibtisch verschanzt und betrachtete ebenfalls die verschüchterte Frau.

Mit einem überraschenden Frontalangriff eröffnete ich das Gespräch. „Wer hat Ihnen bei der Ermordung des Autors geholfen?“, fragte ich die Frau in einem Tonfall, der sie prompt zusammenzucken ließ. „Sie haben den Mord gestanden, sind aber aufgrund Ihrer körperlichen Voraussetzungen niemals in der Lage, alleine das Verbrechen begangen zu haben. Also müssen Sie Mittäter haben. Wer sind Ihre Komplizen, Frau Doktor Leder?“

 

 

Böhnke sah mich ungläubig an.

Die Lektorin starrte nach meinem heftigen Vorstoß fassungslos auf mich.

Ich musterte sie verächtlich und gab mit keiner Miene zu verstehen, dass ich die Frage nicht ernsthaft gemeint haben könnte. „Wer sind Ihre Mittäter? Reden Sie endlich!“, herrschte ich sie barsch an. „Ich habe keine Lust, meine Zeit hier zu verschwenden.“

Die Frau blieb lange sprachlos, schüttelte nur ungläubig ihren Kopf und spielte unruhig mit der Nickelbrille. „Ich habe Renatus doch nicht umgebracht“, stotterte sie schließlich mit leiser Stimme.

„Sie haben es aber zugegeben“, unterbrach ich sie. „Wer will Ihnen denn jetzt noch glauben, wenn Sie zuvor ein Geständnis abgelegt haben?“ Eigentlich war ich nur wütend darüber, dass sie mich in diese Geschichte hineingezogen hatte. Ihretwegen trieb ich mich ergebnislos in der Region herum, was ich ihr aber nicht vorwerfen konnte. „Was ist?“ Grimmig schaute ich die Lektorin an, die die Hände vors Gesicht schlug.

Sie schluchzte. „Ich will doch nur, dass Sie mir helfen, Herr Grundler.“

Ich stöhnte. Warum ausgerechnet immer ich?

Gab es niemanden sonst, der sich ihrer erbarmen konnte? „Ich kann Ihnen nicht helfen“, erwiderte ich schroff. „Da Sie keine Mörderin sind, benötigen Sie keinen Strafverteidiger.“ Ich deutete mit meiner rechten Hand heftig auf Böhnke. „Für die Ermittlungen im Mordfall Fleischmann steht ein äußerst fähiger Kommissar der Kripo Aachen zur Verfügung, der Ihre Vernehmung durchführen und der gerne den Fall zu den Akten legen möchte.“ Ich jedenfalls sei aus dem Rennen, bevor es überhaupt gestartet würde. „Suchen Sie Ihren Mörder, aber nicht mit mir, Frau Doktor Leder!“ Ich verabschiedete mich mit einem kurzen Wink und strebte energisch zur Tür.

„Nicht so eilig, Herr Grundler“, rief mir Böhnke schnell hinterher, „nehmen Sie gefälligst Ihre Mandantin mit und bringen Sie sie nach Hause.“

Langsam drehte ich mich auf dem Absatz um. Ich musste mich verhört haben. „Ich habe keine Mandantin“, korrigierte ich ihn höflich, aber zugleich bestimmt, „das sollten auch Sie wissen.“

„Haben Sie sehr wohl“, widersprach mir der Kommissar mit einem süffisanten Lächeln. Er war noch nicht einmal von seinem Schreibtischsessel aufgestanden und spielte lässig mit einem Kugelschreiber. „Frau Doktor Leder muss sich wegen Irreführung der Polizei verantworten und beansprucht daher rechtsanwaltliche Hilfe.“

Ich winkte verächtlich ab und tastete nach der Türklinke hinter mir. Mit einem derartigen Kleinkram wollte ich mich nicht abgeben.

„Ich bezahle Ihr Honorar auf Heller und Pfennig, Herr Grundler“, verblüffte mich Böhnke. „Helfen Sie Frau Doktor Leder und Sie helfen mir.“

Unschlüssig fuhr ich mir mit beiden Händen über den Kopf und rieb mir die Augen. Ich musste mich in einem Tollhaus befinden, in dem ich der einzige Normale war. Selbst Böhnke schien zu spinnen. Aber konnte ich einen wahnsinnig gewordenen Freund tatsächlich im Stich lassen? Hierzu hatte er mir noch einige Erklärungen zu geben. „Sie haben gewonnen“, sagte ich mit einem gequälten Lächeln, als der Kommissar zum Telefon griff, um einen Polizeiwagen für uns anzufordern. Wenn er mich um Hilfe bat, musste ich ihm auch helfen.

Ich wandte mich wenig begeistert der Lektorin zu. „Packen Sie endlich Ihren Kram zusammen und hören Sie auf zu jammern“, sagte ich. „Sie haben ja gehört, ich muss Sie auf der Stelle nach Hause bringen.“

 

 

Während der Fahrt in die Stadt blieb ich abweisend und stumm. Ich gab mir den Anschein, als würde mich die Frau überhaupt nicht interessieren, die zusammengekauert in der anderen Ecke neben mir auf dem Rücksitz saß. Obwohl mir etliche Fragen auf der Zunge lagen, schaute ich schweigend aus dem Seitenfenster. Frau Doktor Leder wohnte nicht gerade in schlechtester Innenstadtlage in einem verkehrsberuhigten Winkel an der Paugasse, stellte ich erstaunt fest. Hier gab es mitten in der Stadt einen fast dörflich anmutenden Flecken mit Kopfsteinpflaster, Bäumen, einem Spielplatz, vielen Garagen und kleinen Häusern. Nur wenige Meter weiter wuselte der Verkehr hektisch umher, auf der Wohnstraße dagegen war es ungewohnt still, als die Lektorin und ich vor einem blau gestrichenen Haus ausstiegen. Ohne zu fragen, folgte ich ihr in den winzigen, schmalen Flur, nachdem sie die Eingangstür aufgeschlossen hatte.

Schüchtern deutete die Frau auf eine Zimmertür. „Da ist mein Wohn- und Arbeitszimmer.“ Ich solle schon hineingehen, forderte sie mich mit einem verlegenen Lächeln auf, sie käme nach.

Ich schüttelte ablehnend den Kopf. „Ich gehe erst, wenn Sie mitkommen.“ Ich misstraute ihr. Wer weiß, was sie anstellte, wenn ich sie nicht unter Beobachtung behielt?

 

 

Schweigend hing die Frau ihre Jacke an einen Haken in der Garderobe weg, suchte in der Puppenküche nach einer Flasche Mineralwasser und zwei Gläsern und lief vor mir in die dunkle Stube, die nur durch ein kleines Fenster Tageslicht erhielt.

Offenbar bestand dieses Zimmer nur aus Büchern, wie ich staunend erkannte. Wohin ich auch blickte, überall sah ich Massen von Büchern und Aktenordnern, eng aneinander gepresst auf den durchgebogenen Regalen, stapelweise auf dem Teppichboden und dem kleinen Couchtisch aufgetürmt oder ungeordnet auf einem Schreibtisch liegend. „Blicken Sie da noch durch?“, fragte ich spontan. Im Gegensatz zu diesem heillosen Durcheinander war meine Wohnung geradezu aufgeräumt, wenngleich Sabine immer von einem perfekten Chaos in meinen Räumen sprach.

„Warum nicht?“, entgegnete die Lektorin. „Ich lebe mit den Büchern. Sie sind meine Gesellschaft.“ Mit der Hand schob sie einige Bücher von einem alten, zerschlissenen Sessel, den sie mir als Sitzgelegenheit anbot. Sie reichte mir ein zur Hälfte gefülltes Wasserglas, setzte sich auf einen einfachen Holzstuhl vor dem Schreibtisch und sah mich mit ihren großen Rehaugen verunsichert an.

Die kleine Frau machte mich mit ihrer Hilflosigkeit ausdrückenden Art ärgerlich. Das schien mir fast schon eine Masche zu sein. Hilf mir bitte, sonst kommt der böse Wolf und frisst mich, schien ihr Blick zu sagen.

,Soll er doch’, brummte ich in mich hinein, ,dann habe ich wenigstens den Ärger mit dir vom Hals.’

„Also, was kann ich für Sie tun?“, hörte ich mich stattdessen zu meiner eigenen Verblüffung mit versöhnlicher Stimme fragen.

 

 

Die Veränderung bei Renate Leder war erstaunlich. Binnen Sekundenbruchteilen veränderte sich ihre pessimistische Miene, ihre trüben Augen wurden klar, die Frau richtete sich auf ihrem Stuhl auf und sah mich mutig an. „Sie sollen Renatus Fleischmann finden, Herr Grundler.“ Sie räusperte sich entschuldigend. „Sie sollten Renatus Fleischmann finden. Jetzt sollen Sie dafür sorgen, dass seine Ermordung aufgeklärt wird.“

„Warum ausgerechnet ich?“ Erneut wies ich die zierliche Frau auf die Möglichkeiten von Polizei und Privatdetektiv hin. „Weil ich glaube, dass nur Sie das Verbrechen aufdecken können.“ Die Polizei sei ohnehin überlastet und würde keine Zeit haben, ein Detektiv würde nur viel Geld verlangen, das sie nicht besitze, und auch nicht intensiv nachforschen. „Ich glaube, dass der Tod von Renatus Fleischmann einen schier undurchschaubaren Hintergrund hat. Wenn jemand das Verbrechen aufklären kann, dann sind Sie es, Herr Grundler“, versuchte sie mir mit einem Hinweis auf meine bisherigen Erfolge bei der Verbrecherjagd zu schmeicheln.

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte ich verwundert, ohne auf das vergängliche Lob einzugehen. „Was veranlasst Sie, an ein Verbrechen mit einem dubiosen Hintergrund zu glauben?“

Die Lektorin stand auf und fischte zielsicher aus einem Stapel ein Taschenbuch heraus. „Das ist der neueste Roman von Renatus Fleischmann. Er soll in zwei Wochen auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt werden.“ Sie reichte mir das Buch, das ich achtlos beiseite legte. „Ich glaube, er hat sich mit diesem Projekt etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt.“

„Wieso?“

Nach dem Lesen der Geschichte würde ich wissen, was sie meine, antwortete die Lektorin. Sie setzte sich auf die Kante ihres Schreibtisches. „Sie müssen wissen, dass Renatus Fleischmann immer haarscharf an der Wirklichkeit vorbeischrieb. Er hat mir gesagt, die meisten seiner Geschichten seien wahr, er habe sie lediglich verfremdet, in eine andere Region verfrachtet, mit anderen Personen versehen.“ Mit dem letzten Roman habe er aber den Bogen überspannt. „Vermutlich hat er es selbst eingesehen, denn er ist vor einem Monat, unmittelbar nach der Abschlusskorrektur des Textes, untergetaucht.“

Die Sache fing langsam an, mich zu interessieren, ohne dass ich den Roman gelesen hatte, gestand ich mir ein. „Warum haben Sie den Roman denn nicht abgelehnt, wenn Sie von der Realitätsnähe und der für Fleischmann möglichen Gefahr wussten?“

Renate Leder zuckte verlegen mit den Schulter. „Erstens sind die Romane gut und erfolgreich, damit auch wirtschaftlich für Verlag und Autor lukrativ, zweitens bestand Renatus auf einer Veröffentlichung und wäre bei meiner Ablehnung zur Konkurrenz gegangen und drittens ist es bisher immer gut gegangen.“ Sie lächelte flüchtig. „Schließlich verdiene ich als Lektorin auch daran, wenn ein Buch veröffentlicht wird.“ Sie sei freiberuflich als Journalistin und Lektorin tätig, meinte sie zur Erklärung. „Mein Honorar richtet sich größtenteils nach dem Verkaufserlös eines Buches.“

„Was heißt, es ist bisher immer gut gegangen?“, fragte ich.

Der aktuelle, noch nicht veröffentlichte Krimi war bereits der sechste Roman Fleischmanns. Auch in den vorherigen habe er immer sehr intensiv Missstände in Politik und Wirtschaft angeprangert, erklärte mir die Lektorin. Sie stand wieder auf und zog weitere Taschenbücher aus einem Regal. „Sie können die Bücher mitnehmen, wenn Sie wollen. Beim Lesen werden Sie selbst in Zweifel geraten, was schon in den Bereich der Fantasie gehört und was noch Realität ist.“

Ich achtete nicht auf die Bücher, die die Frau neben mich auf ein Beistelltischchen legte. „Sie wissen nicht, wo Fleischmann in den letzten Wochen war?“, fragte ich die Lektorin, während sie zu ihrem Platz zurückging.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Er hat nur einmal vor zwei Wochen angerufen und mir gesagt, er würde mir in einer Woche ein neues Manuskript zuschicken. Er habe sich in die Einsamkeit zurückgezogen. Spätestens in Frankfurt würden wir uns treffen.“

Das sei doch eine plausible Erklärung, meinte ich.

Aber Renate Leder widersprach. „Das scheint nur auf den ersten Blick Sinn zu machen. Renatus Fleischmann war gründlich und achtete penibel genau auf Zeitvorgaben. Ich habe das versprochene Manuskript nicht bekommen.“ Das spräche nach ihrer Auffassung eindeutig dafür, dass etwas nicht in Ordnung gewesen sei. „Er hätte mich informiert, wenn er nicht fertig geworden wäre.“

Ich hörte der zierlichen Frau nicht länger zu. Meine Auffassungsgabe war für heute erschöpft. Ich wollte mich nicht mit neuen Fakten beschäftigen, so lange ich nicht die vorhandenen Problemchen geklärt hatte, auch wenn sie noch so klein schienen. „Ist Fleischmann ein Schriftsteller aus Aachen oder aus Geilenkirchen?“, wollte ich abschließend wissen. „Er hatte seinen Zweitwohnsitz hier in Aachen. Nicht weit von mir entfernt an der Stephanstraße lebte Fleischmann in einer winzigen Dachgeschosswohnung. Seinen Hauptwohnsitz hatte er bei den Eltern in Geilenkirchen, genauer in Würm-Beeck.“ Aber er sei nie dort gewesen. Der Hauptwohnsitz habe wohl steuerliche und versicherungstechnische Gründe, etwa wegen des Autos, vermutete die Lektorin. „Außerdem hört sich Aachen wesentlich besser an als Geilenkirchen oder Würm-Beeck.“

Über diese kühne Behauptung wollte ich nicht streiten; so viel attraktiver als das Beamtendorf an der Wurm war die Kaiserstadt am Eifelrand auch nicht. „Welcher Teufel hat Sie geritten, sich bei der Polizei als Mörderin zu melden?“, fragte ich vielmehr.

Renate Leder sah mich keck an. „Das war doch der beste Weg, um Sie zu bekommen. Oder?“ Nachdem ich ihr am Vorabend eine Absage erteilt hatte, war sie auf diese Idee verfallen, als sie im Radio die schreckliche Nachricht gehört hatte. „Die Polizei hat mich jedenfalls sofort festgehalten, ohne lange zu fragen.“

Ich winkte abfällig ab. Wenn ich mich in diese Geschichte hineinknien würde, dann bestimmt nicht wegen Frau Doktor Leder, sagte ich mir. Wenn ich einen Teil meiner Freizeit dafür opferte, dann tat ich es ausschließlich wegen Böhnke, der mich aus welchen Gründen auch immer an seinem Spiel beteiligen wollte. Aber das brauchte ich der Lektorin nicht auf die Nase zu binden. Nach einem Blick auf eine preiswerte Wanduhr von Ikea, die bereits späten Nachmittag anzeigte, erhob ich mich schnell und griff nach den Büchern. Ich hätte noch in der Kanzlei zu tun, erklärte ich meinen abrupten Aufbruch.

Die Lektorin ließ mich bereitwillig gehen. Sie habe sich ohnehin noch zum Tennisspielen mit Freundinnen verabredet, sagte sie. Dann stockte sie und ging zurück in das Zimmer. Vor dem Schreibtisch blieb sie suchend stehen. Sie schien zu überlegen, während sie über die Regale blickte. „Was ist?“, fragte ich.

Renate Leder drehte sich zu mir und schüttelte entschuldigend den Kopf. „Ach, nichts.“ Sie ging wieder in den Flur. „Schön, dass Sie für mich tätig werden, Herr Grundler“, ergänzte sie und schob mir ein Kärtchen in die Tasche meiner Lederjacke. „Ich freue mich auf Ihren Anruf.“

Ich war froh, als ich auf der Straße stand. Frau Doktor Leder strengte mich an, sie zog an verschiedenen Strippen und ließ mich für sie laufen. Was steckte bloß dahinter? Ich dachte an unser Telefonat vom gestrigen Tag. Etwas war mir dabei aufgefallen. Aber es fiel mir nicht ein, was es gewesen war.

 

 

Ich schüttelte den Gedanken ab, während ich mich zu Fuß auf den Weg zur Theaterstraße machte. Ich musste noch zwei Telefonate erledigen, bevor ich Feierabend machen konnte, und war froh, in der Kanzlei niemanden mehr anzutreffen.

Sabine hatte mir auf meinem Schreibtisch die Notiz hinterlassen, dass sie in meiner Wohnung sehnsüchtig mit dem Essen auf mich wartete.

 

 

Schnell tippte ich die Nummer des Kommissars ins Telefon, musste mir aber im Polizeipräsidium sagen lassen, Böhnke habe bereits Feierabend gemacht. Automatisch wählte ich seine Privatnummer und brauchte nicht lange zu warten, bis abgehoben wurde.

„Ich habe mir gedacht, dass Sie mich anrufen werden“, sagte Böhnke statt einer Begrüßung, „und ich sage Ihnen auch den Grund, weshalb ich Sie um Mithilfe gebeten habe, bevor Sie mich danach fragen.“ Der Kommissar ließ mich nicht zu Wort kommen. „Frau Doktor Leder ist eine entfernte Verwandte meiner Lebensgefährtin“, bekannte er, „da weiß ich nicht, ob ich unvoreingenommen zu Werke gehen kann. Zum anderen möchte ich den Fall nicht an einen Kollegen abgeben, sondern selbst behandeln und Sie dabei als meine Kontrollinstanz zur Seite haben.“ Böhnke legte eine Atempause ein, fuhr aber in seinem Monolog fort, ehe ich etwas einwenden konnte. „Und zum Dritten will ich herausfinden, was bei den Geschichten von Fleischmann Wirklichkeit ist und was Fantasie.“ Bevor ich mein Erstaunen über diese heute schon einmal gehörte Bemerkung äußern konnte, fragte mich der Kommissar: „Haben Sie schon einmal einen Krimi von Fleischmann gelesen?“

„Nein.“ Ich war erleichtert, am Gespräch beteiligt zu werden. Doch blieb mein Anteil auf dieses eine Wort beschränkt. „Dann sollten Sie es schleunigst tun. Vielleicht findet sich der Schlüssel zum Ableben Fleischmanns in dessen Büchern. Es würde mich nicht wundern.“ Böhnke stockte kurz, dann redete er hastig weiter. „Ich muss Schluss machen. Meine Freundin steht vor der Tür. Wir wollen für ein paar Tage nach Huppenbroich zum Ausspannen. Tschö, wa.“ Schon hatte er aufgelegt.

 

 

Noch ein letztes Telefonat für heute, schwor ich mir und wählte den AZ-Reporter an.

„Neues von Fleischmann?“, fragte ich Sümmerling. „Nichts Neues. Nur die Erkenntnis, dass zwischen der zuständigen Staatsanwaltschaft Mönchengladbach und der ermittelnden Mordkommission der Kripo Aachen offenbar erhebliche Kommunikationsprobleme bestehen. Ich habe jedenfalls keine neuen Informationen mehr bekommen. Ihr Freund Böhnke soll die Ermittlungen leiten und soll heute Morgen in Erkelenz gewesen sein, so ist mir jedenfalls zugetragen worden. Aber Böhnke hat nichts anderes zu tun, als sich ausgerechnet jetzt für die nächsten Tage Freizeitausgleich zu gönnen.“ Der erboste Sümmerling schimpfte los. „Da läuft die Untersuchung in einem spektakulären Mordfall gerade an und unser Superkommissar vergnügt sich lieber auf dem Lande als auf Mörderjagd zu gehen. So etwas gibt es nur in der deutschen Bürokratie.“ Er werde einen bösen Kommentar schreiben, kündigte der Journalist vollmundig an.

Ich könne und würde ihn nicht daran hindern, entgegnete ich, wobei ich seine Sicht der Dinge durchaus verstand. Es war schon widersprüchlich, wenn Böhnke unter allen Umständen ermitteln wollte und sich zunächst einmal vom Acker machte. Ich kam zu meinem eigentlichen Anliegen. „Was macht eigentlich der Daumenabdruck von Fleischmann?“

„Fehlanzeige“, antwortete Sümmerling zerknirscht. „Das macht mich ja so wütend. Da flüstert mir ein Hampelmann aus dem Polizeipräsidium am Morgen die heiße Information zu, man habe Fleischmann aufgrund des Daumenabdrucks identifiziert, und muss mir am Nachmittag kleinlaut eingestehen, dass er Unfug verzapft hat.“ Der Schreiberling schnaubte. „Und der zuständige Kommissar ist den ganzen Tag über nicht zu sprechen.“

 

 

Ich konnte ein Lachen nicht vermeiden. „Das ist halt Journalistenlos, mein Freund. Aber ich kann Ihnen wahrscheinlich helfen“, sagte ich versöhnlich, „wir wollten doch zusammenarbeiten. Oder?“

„Was gibt’s?“, fragte der AZ-Reporter wissbegierig. „Was haben Sie für mich?“

„Ich kann Ihnen sagen, dass Renatus Fleischmann identifiziert wurde, weil man bei ihm den Personalausweis gefunden hat.“

„Wer sagt das?“

„Böhnke.“

„Von wem wissen Sie das, Herr Grundler?“ Die Verblüffung in Sümmerlings Stimme war unüberhörbar. „Von Böhnke. Ich bin mit ihm am Lahey-Park in Erkelenz gewesen.“

Für einen Moment blieb es still in der Leitung. Der Schreiberling schien angesäuert und brauchte einige Zeit, um meine Mitteilung zu verdauen. „Na, gut“, sagte er schließlich mit aufgesetzter Munterkeit, „warum geben Sie mir diese Information?“

Ich lachte erneut auf. „Wir wollten doch den Fall zusammen lösen. Außerdem haben auch Sie mir Informationen gegeben, die ich brauchen kann.“

 

 

Schleunigst verließ ich die Kanzlei und eilte, mit Fleischmanns Büchern in einer einfachen Plastiktüte, zu Fuß durch die Stadt zum Templergraben. Ich hatte zunächst überlegt, mich von Sabine mit dem Wagen abholen zu lassen, mich dann aber für den Fußmarsch entschieden. Dabei hatte ich Zeit, die Ereignisse des Tages zu sortieren. Worauf die Geschichte des zerhäckselten Renatus Fleischmann hinauslief, war mir noch nicht klar. Aber ich war bereit, zunächst einmal mitzuspielen. Ich konnte jederzeit aussteigen, sagte ich mir zu meiner Beruhigung, ich hatte nichts zu verlieren.

 

 

Entspannt und zufrieden öffnete ich die Tür zu meiner Wohnung und weckte mit einem Kuss Sabine, die im Wohnzimmer auf der Couch eingeschlafen war.

Sie habe schon gegessen, entschuldigte sich meine Liebste, als sie vor mir in die Küche lief und den Kühlschrank öffnete. „Ich habe dir dein Lieblingsessen zubereitet“, sagte sie frohlockend und präsentierte mir einen Teller.

Angesichts der beiden Metzgerfrikadellen, die darauf lagen, verging mir allerdings trotz meines knurrenden Magens auf der Stelle der Appetit.