Ernst Langerbeins

 

 

 

Lange schauten der Kommissar und ich uns schweigend an, ehe ich das Wort ergriff. „Denken Sie etwa das, was ich auch denke?“, fragte ich vorsichtig, nachdem ich mich gesammelt hatte.

Böhnke wandte sich von mir ab und ging zum Fenster. „Was denken Sie denn?“, fragte er zurück, während er hinaus ins Freie schaute.

„Ich denke, dass der tödlich verunglückte Kriminalbeamte eine noch nicht näher definierte Rolle beim Ableben von Renatus Fleischmann alias Piet van Dyke gespielt hat.“ Ich könne mir nicht zwei Fahrzeuge vorstellen, bei denen der gleiche Fehler im Reifenprofil vorhanden war. „Ich unterstelle einfach, dass der Mann mit seinem Wagen am Lahey-Park war, als Fleischmanns Leiche dort abgelegt wurde, und ich unterstelle weiterhin, dass der Mann mit seinem Wagen dabei war, als Gerstenkorns Fahrzeug in der ehemaligen Baumschule entsorgt wurde.“

Böhnke nickte zustimmend. Er hatte sich umgedreht und beobachtete mich aufmerksam. „Fahren Sie fort“, forderte er mich freundlich auf. Er setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs und griff nach einem Stift und einem Block. „Wenn ich unterstelle, dass der Polizist im Lahey-Park und in der ehemaligen Baumschule war, und ich außerdem weiß, dass es sich bei dem vermeintlichen Unfallopfer um einen Kriminalbeamten handelt, der aus Erkelenz stammt und nun bei der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach arbeitet, komme ich zu der Vermutung, es könne sich bei diesem Menschen um den Maulwurf handeln, den Sie suchen, Herr Böhnke.“ Ich war mir ziemlich sicher, auch wenn ich noch meine letzten, leichten Bedenken hatte. Das ging mir jetzt zu glatt. „Vielleicht war der Kerl der Drahtzieher und die Hauptperson, vielleicht spielte er nur eine Nebenrolle“, versuchte ich meine Behauptungen zu relativieren. „Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen, Herr Grundler“, unterbrach mich Böhnke unzufrieden. „Es hat auch für mich den Anschein, dass dieser Mensch maßgeblich am Geschehen beteiligt war.“

 

 

Der Kommissar machte sich einige Notizen, dann griff er zum Telefon. Wie ich mitbekam, sprach er mit einem Kollegen namens Jansen, also mit der Polizeistation in Erkelenz. Ohne näher auf den Anlass seines Telefonats einzugehen, stellte Böhnke nach einigen einleitenden Floskeln die Frage nach dem verstorbenen Kriminalbeamten.

Jansen schien ausgesprochen redselig und entgegenkommend. Jedenfalls kam seine Antwort auf der Stelle.

Noch während Böhnke den genannten Namen aufschrieb, bedankte er sich und beendete das Telefonat. Er sah mich zufrieden an. „Ernst Langerbeins“, sagte er nur. „Kenne ich nicht“, entgegnete ich spontan. „Müsste ich den kennen?“

„Warum sollten Sie den Mann kennen?“ Böhnke dachte nach. „Ich habe auch noch nie von ihm gehört. Er stand jedenfalls nicht auf meiner Liste der möglichen Maulwürfe.“ Es gab ihm schon zu denken, dass er alle möglichen Kollegen in seine Ermittlungen einbezogen hatte, aber jetzt ausgerechnet jemand zum Hauptverdächtigen wurde, der ihm namentlich nicht bekannt war. Ob seine bisherige Arbeit überhaupt einen Sinn gehabt habe, fragte Böhnke zweifelnd. Dann schüttelte er sich und pustete durch. Irgendwie musste er weitermachen.

Er würde sich die Personalakte des Mannes besorgen, schilderte der Kommissar mir bereitwillig sein weiteres Vorgehen. „Mich interessiert schon, was das für ein Mensch war.“

„Mich auch.“ Jetzt fiel ich Böhnke schnell ins Wort. „Und vor allen Dingen interessiert es mich, wie er zu Fleischmann stand.“ Ich versuchte mich in Ironie: „Langsam gehen uns die Mitspieler aus: Gerstenkorn verduftet. Langerbeins verunglückt. Da bleibt fast keiner mehr.“

„Und ich kann die Akte schließen. Wir schieben einfach alle Schuld auf Langerbeins und haben den Fall gelöst. Wie wär’s?“ Der Kommissar sah mich lächelnd an. „Oder sollen wir uns doch noch um den Metzger und seinen Freund kümmern?“

„Darum und um Langerbeins und um Gerstenkorn und um Renate Leder und um Piet van Dyke und um all die anderen, die wir noch finden, wenn wir uns in der Literaturlandschaft und der Pornoszene umgeschaut haben.“ Er habe noch eine zweite wichtige Aufgabe, erinnerte ich Böhnke. „Sie müssen dafür sorgen, dass ich an van Dykes Computer herumspielen darf.“

 

 

Böhnkes Angebot, von einem Streifenwagen nach Hause gefahren zu werden, lehnte ich dankend ab. Ich nutzte die Zeit, von der Soers zum Templergraben zu marschieren, um das Erlebte zu sortieren. Der Tag kam mir bei der Rückbesinnung ziemlich konfus vor, mit immer neuen Fragen und immer neuen Wendungen. Ich hatte das ziemlich sichere Gefühl, dass wir die Nuss noch lange nicht geknackt hatten und vor allem bereitete mir Fleischmann Kopfzerbrechen: hier in Aachen der ordentliche und biedere arme Poet, in Ubach over Worms der im Reichtum schwelgende Autor pornografischer Schriften. Eigentlich passte es nicht zusammen und wenn es doch zwei Seiten von Fleischmann waren, die da zutage traten, dann blieb die Frage: Wegen welcher Seite seines Lebens war er getötet worden?

Diese Frage stellte ich auch Sabine, als sie mich gegen Mitternacht aus Hamburg anrief. Ich hatte ihr wieder ausführlich von meinem Tagesablauf berichtet und freute mich über ihre Anteilnahme an meiner brotlosen Arbeit, auch wenn sie eine Antwort schuldig blieb.

Ich wäre froh, wenn sie wieder bei mir wäre, säuselte ich zum Abschluss des Gesprächs meiner Liebsten ins Ohr und sie säuselte zurück, ich solle angenehm schlafen und etwas Schönes träumen.

 

 

Doch vor dem Schlaf stand die niemals endende Arbeit. Mit Renates Zeichnung in der Hand legte ich mich ins Bett. Ich hatte einen neuen Namen, den ich in ihr Soziogramm einarbeiten konnte. Langerbeins, für den möglicherweise das „L“ stand, das dann allerdings nicht mehr für Renate Leder gelten konnte. Ich drehte und wendete meine Kombinationen, doch blieb ich wieder bei der entscheidenden Kombination „D“ und „S“ stecken. So viel fand ich heraus: „L“ hatte etwas mit „S“ zu tun, der zweiten Hauptfigur neben „D“, die immer noch anonym war.

Ich fand sehr spät in einen unruhigen Schlaf, in dem mich Dick und Doof ärgerten.

 

 

Das Telefon, das mich am Morgen weckte, gehörte eindeutig nicht zu meinem Traum. Böhnke riss mich aus dem Schlaf. Ich hatte tatsächlich, trotz des Radioweckers, verschlafen und war insgeheim sogar erleichtert über die Störung, auch wenn ich den Kommissar anknurrte, als er mich, wie mir ein Blick auf die Uhr verriet, gegen neun Uhr anrief. „Was wollen Sie Störenfried jetzt schon wieder von mir?“, stöhnte ich gähnend. „Sie mit zwei freudigen Überraschungen wecken“, sagte er froh gelaunt. „Mein Kollege Bloemen hat für Sie heute einen unbeaufsichtigten Aufenthalt in der Wohnung von van Dyke organisiert. Fragen Sie mich bitte nicht, wie er es geschafft hat. Ich weiß es nicht und will es, ehrlich gesagt, auch gar nicht wissen. Nehmen Sie die Möglichkeit wahr?“

„Selbstverständlich“, brummte ich. Wie konnte Böhnke nur so dämlich fragen?

„Dann fahren wir also gegen drei nach Heerlen“, fuhr der Kommissar zufrieden fort. „Bloemen unternimmt mit mir einen gemütlichen Nachmittag und Abend und Sie haben freie Bahn.“

Er ließ mir keine Zeit, diese Ankündigung zu verdauen. „Ich erwarte Sie in einer Stunde in meinem Büro, Herr Grundler“, sagte er bestimmend.

„Warum?“ Ohne eine sinnvolle Erklärung ließ ich mich nicht gerne kommandieren, aber Böhnke hatte gewiss einen triftigen Grund, zumal noch die zweite freudige Überraschung fehlte. „Weil ich dann die Personalakte von Langerbeins habe. Sie wird mir gerade per Kurier aus Mönchengladbach gebracht. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie gerne einen Blick hineinwerfen möchten.“

 

 

Böhnkes Bereitwilligkeit ehrte mich, aber sie machte mich auch stutzig. Warum in aller Welt nötigte er mir quasi alle Informationsquellen auf?

„Weil Sie so herrlich quer denken“, antwortete Böhnke auf meine Frage vergnügt. Er wurde sachlich und ernst. „Ich will alle Fälle klären, den Mord an Fleischmann, die Attentate auf Frau Doktor Leder und Wagner, Gerstenkorns Politpoker und die Rolle Langerbeins.“

Den Metzger samt Freund hatte Böhnke in seiner Auflistung unterschlagen. Aber ich nahm an, dass er diese beiden Personen sicherlich nicht außer Acht lassen wollte. „Bis gleich.“ Schnell verabschiedete ich mich, sprang unter die kalte Dusche und machte mich fit für den Tag.

Der dünne, grüne Aktenordner, der das Beamtenleben von Langerbeins enthielt, lag schon auf dem kleinen Tisch in der Besucherecke von Böhnkes Büro. Auch lachten mich eine Kaffeekanne und zwei mit Käse belegte Brötchenhälften an. „Sie können sich ungehemmt bedienen und in der Akte herumstöbern“, forderte mich Böhnke nach meinem Eintreten auf. Er war an seinem Schreibtisch sitzen geblieben. „Kümmern Sie sich nicht um mich, ich habe noch zu tun“, meinte er mit einem gequälten Blick auf seine Papiere, „Spesenabrechnungen und anderer Schreibkram, mit dem mir die Verwaltung das Leben schwer macht.“

 

 

Interessiert blätterte ich durch den Hefter, der neben der Bewerbung für den Polizeidienst vornehmlich Beurteilungen von Langerbeins enthielt. Nach den Unterlagen war der Mann vor rund 44 Jahren in Erkelenz geboren worden, hatte am dortigen Cusanus-Gymnasium das Abitur gemacht und war nach seinem Wehrdienst auf dem Luftwaffenstützpunkt Nörvenich zur Kriminalpolizei gekommen. Als Kommissar war er vor etwa acht Jahren von der Dienststelle Erkelenz zur Staatsanwaltschaft nach Mönchengladbach gewechselt, was ihm neben einer Beförderung auch ein neues Aufgabengebiet eingebracht hatte. Für die Ermittlungsbehörde entscheidend war bei dem Wechsel die angeblich überdurchschnittliche Leistung und seine einwandfreie Führung im Dienst gewesen. Langerbeins selbst hatte in seinem Versetzungsgesuch für die Stelle in Mönchengladbach auch private Gründe ins Spiel gebracht. Er wolle nach seiner Scheidung sich nicht nur privat, sondern auch beruflich neu orientieren, hatte er erklärt.

Kinder hatte Langerbeins keine, auch hatte er nicht wieder geheiratet. Jedenfalls fanden sich keine Hinweise darauf in der Akte.

Mit der lapidaren Notiz, der Beamte sei bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt, wurde die Akte geschlossen.

Ich war enttäuscht über die spärlichen Informationen, die nüchtern und sachlich die kurze, jäh beendete Dienstzeit von Langerbeins dokumentierten. Das war alles, was von diesem Menschen in den Staatsarchiven übrig bleiben würde. Vor allem enthielten die Papiere nichts, das auch nur andeutungsweise auf Langerbeins eventuelles Fehlverhalten hinweisen konnte. Der einzige Makel war vielleicht seine Scheidung, aber heutzutage ging ja fast jede zweite Ehe in die Brüche; eine Scheidung war schon fast normaler als eine Silberhochzeit.

Die beigefügten Fotos, die Langerbeins zum Zeitpunkt seiner Bewerbung und seiner Versetzung zeigten, waren ebenfalls nicht aussagekräftig. Mich starrte ein Durchschnittsgesicht an, wie es normaler nicht sein konnte. Langerbeins hätte als älterer Bruder von Fleischmann aus der Familie Jedermann gelten können. Für einen Augenblick hatte ich gedacht, ich hätte diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen. Aber das beruhte wohl auf einer Täuschung, sagte ich mir.

Ohne Interesse wegen des geringen Informationsgehaltes klappte ich den Hefter zu und legte ihn auf dem Tisch ab. „Ich habe nichts gefunden“, sagte ich zu Böhnke, der über seinen Papieren brütete.

„Dann geht es Ihnen auch nicht besser als mir“, entgegnete er ruhig, ohne aufzublicken. „Nach der Akte ist Langerbeins ein normaler, unauffälliger Beamter gewesen, der seine Pflichten dienstgemäß erfüllte. Quasi ein Normbeamter.“

„Mit anderen Worten: kurzer Strich, langer Strich, abhaken“, kommentierte ich und Böhnke bestätigte. „So ist es.“

Er schaute auf. „Bis auf eine Kleinigkeit, die ich noch klären will.“

„Bis wann?“

Der Kommissar grinste mich an. „Keine Bange, mein Freund. Bis zu unserer Fahrt nach Heerlen habe ich alle Informationen, die ich brauche.“

Ich sah auf die Uhr. Es war nicht einmal Mittag. Was sollte ich bloß mit dem angebrochenen Tag anfangen? „Sie können mich gerne begleiten, Herr Grundler“, schlug Böhnke kollegial vor. „Nein“, korrigierte er sich schnell. „Sie müssen mich sogar begleiten, weil ich von dort sofort nach Heerlen weiterfahren möchte.“

„Wohin geht’s denn?“ Ächzend erhob ich mich. „Nach Erkelenz, ins Standesamt.“

Mir genügte diese Angabe. Ich wusste, was Böhnke vorhatte, bestimmt hätte ich ihm eine Fahrt in das schöne Städtchen vorgeschlagen, wenn er nicht von allein darauf gekommen wäre.

 

 

Nach einem erstaunlich schmackhaften Imbiss in einer Stehpizzeria in der Nähe des Rathauses steuerten wir am frühen Nachmittag das Standesamt an, wo bereits ein Mitarbeiter auf uns wartete. Offenbar hatte Böhnke unseren Besuch gut vorbereitet. Die Daten von Langerbeins waren schnell auf dem Bildschirm erschienen, nachdem der zuvorkommende Beamte die Befehle in den Computer eingetippt hatte. Sie sagten uns nichts Neues: geboren in Erkelenz, gestorben auf der Autobahn, wie die Eltern war Langerbeins ein waschechter Erkelenzer gewesen, anders als seine ehemalige Ehefrau Brigitte, eine geborene Schmitz, die es aus dem Kreis Düren nach Erkelenz verschlagen hatte. Erwin und Brigitte Langerbeins hatten nach der Heirat in einem Haus in der Innenstadt gewohnt. Nach der Scheidung hatte Langerbeins den Wohnsitz innerhalb von Erkelenz gewechselt, seine Exfrau hatte es vorgezogen, in ihre ehemalige Heimat zurückzukehren.

„Das war’s dann wohl“, kommentierte ich das wenig erbauliche Ergebnis unserer Untersuchung. „Dafür hat es sich nicht gelohnt, hierhin zu fahren.“ In meinem linken Ohr entwickelte sich ein pfeifender Ton, ein aufdringliches Piepsen als Warnsignal für irgendetwas. Der Ton war lästig und ich war froh, als er endlich abklang. Er hatte mich nachdenklich gemacht. Mein Körper reagierte sofort, wenn ich etwas Ungewöhnliches bemerkt hatte, das Piepsen war ein untrügliches Zeichen dafür. Aber ich wusste nicht, was ich herausgefunden hatte und verfluchte deshalb meine Unfähigkeit, mit meinem Unterbewusstsein richtig umzugehen.

„Wenn Sie Recht haben, haben Sie Recht, mein Freund“, entgegnete Böhnke nachdenklich auf meine Bemerkung. Auch er schien enttäuscht und bat den Beamten, ein Telefonat führen zu dürfen.

 

 

Ich verabschiedete mich derweil und fragte nach dem Weg zum Steueramt. Wenn ich schon einmal im Erkelenzer Rathaus war, wollte ich zumindest eine lieb gewordene Bekannte begrüßen.

Die Hundesteuerstelle hatte ich schnell gefunden. Als ich ohne Anklopfen in das Zimmer eintrat, staunte mich ein älterer, grau melierter Mann überrascht an.

„Wo finde ich Gerlinde Brause?“, wollte ich, nicht weniger überrascht, wissen. „Ich dachte, sie arbeitet hier“, entschuldigte ich mich für mein zu forsches Eintreten.

„Sie meinen bestimmt Frau Müllejans“, verbesserte mich der freundliche Beamte lächelnd. „Gerlinde hat sich beurlauben lassen. Sie ist schwanger.“

Da hatte meine merkwürdige Geschichte mit Hieronymus Müllejans doch noch ein zufrieden stellendes Ende gefunden, schmunzelte ich in mich hinein, als ich mich auf den Weg zurück zu Böhnke machte.