Hungrig und müde schleppte ich mich ins Bett und versuchte krampfhaft, Schlaf zu finden. Alle möglichen Gedanken und Bilder schwirrten mir durch den Kopf, bei denen ich nicht wusste, ob ich sie träumte oder im schlaflosen Zustand erdachte. Ein Daumen flog über ein freies Feld durch die Luft, von der Lektorin mit einem Fangnetz verfolgt. Böhnke saß auf einem Hochsitz und betrachtete gespannt das skurrile Treiben.
Sabine schubste mich an und knurrte, ich solle endlich ruhig liegen bleiben.
Auch der Daumen winkte mir mahnend zu. Renate Leder hielt ihn in ihrer Hand und sah ihn entzückt an, derweil Böhnke zufrieden zu seinem Dienstwagen ging und am lärmenden Funkgerät hantierte.
Wieder stieß mich meine ungehaltene Bettnachbarin an. „Telefon!“, raunzte Sabine im Halbschlaf, „bestimmt für dich.“
Jetzt vernahm auch ich das Klingeln. Ich tapste im Dunkeln ins Wohnzimmer zum Schreibtisch und knipste die Beleuchtung an. Während ich laut gähnend zum Hörer griff, ließ ich mich in den Sessel fallen.
Welcher Schwachkopf wollte mich schon um vier Uhr morgens sprechen?
Mit einem Schlag war meine Müdigkeit verschwunden, als sich das Luisenhospital meldete und mich eine Krankenschwester mit freudloser Stimme mit einem Arzt verband.
Die Frage, ob ich Tobias Grundler sei, hätte sich der Mediziner ersparen können. „Was wollen Sie von mir?“, fragte ich ihn angespannt.
Ob ich Frau Doktor Renate Leder kenne, fragte er mit besänftigender Stimme zurück.
,Blöde Frage’, dachte ich mir, ich kannte die Frau nicht näher, ich wusste allenfalls, wer sie war. „Was ist mit ihr?“
Sie hätte wenige Minuten nach Mitternacht einen Verkehrsunfall gehabt und sei dabei sehr schwer verletzt worden, berichtete der Arzt. „Es besteht akute Lebensgefahr.“ Man habe in der Jackentasche bei den Papieren der Frau einen Zettel mit meinem Namen und meiner Telefonnummer gefunden. „Sie sind unser einziger Anhaltspunkt“, meinte der Arzt beinahe schon entschuldigend. Bestimmt würde sich deshalb auch noch die Polizei bei mir melden. „Weshalb sollte sie?“
„Vielleicht können Sie ihr und uns erklären, was die Frau am Abend gemacht hat oder wo sie war.“
Was eine Verabredung zum Tennisspielen mit einem Verkehrsunfall um Mitternacht zu tun haben könnte, sei mir schleierhaft, entgegnete ich.
Es erkläre aber, warum die Frau mit dem Wagen unterwegs war, hielt der Arzt ruhig dagegen.
Diese Art der Gesprächsführung behagte mir nicht. „Was ist passiert?“, fragte ich ungehalten.
Der Arzt räusperte sich. „Was passiert ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Den Unfallhergang wird die Polizei rekonstruieren. Wir haben uns nur mit den körperlichen Folgen des Unfalls für das Unfallopfer beschäftigt.“
„Und welche Folgen sind das?“ Ich stöhnte über die Langatmigkeit des Mediziners.
Die Liste der Verletzungen, die er nannte, schien nicht enden zu wollen. Die Lektorin hatte, so wie ich es verstand, einen Schädelbasisbruch und diverse Knochenbrüche davongetragen, innere Blutungen und Organquetschungen erlitten und noch einige andere Kleinigkeiten. Sie war bereits operiert worden, lag aber nun im Koma.
„Wann und ob sie daraus aufwacht und in welchem Zustand sie sich dann befindet, kann Ihnen momentan niemand sagen“, behauptete der Arzt ohne großes Zutrauen in die medizinische Kunst. „Es sieht jedenfalls nicht gut für sie aus.“
Damit war das Telefonat auch schon beendet. Ich bedankte mich sogar noch höflich für die nächtliche Störung, bevor ich, plötzlich wieder sehr müde, ins Bett zurückwankte. ,Pech gehabt’, kommentierte ich das Schicksal der Lektorin. Ich schwankte zwischen Anteilnahme und Interesselosigkeit. ,Erst kommt ihr der Fleischmann abhanden, wenig später macht sie sich selbst auf den Weg in die ewigen Jagdgründe. Dort würde sie bestimmt keine Schwierigkeiten haben, den Autor zu finden; auch ohne meine Mithilfe.
Der Anruf der Verkehrspolizei am frühen Morgen in der Kanzlei ließ nicht lange auf sich warten. Ich wiederholte mein Wissen, dass Renate Leder am Abend zum Tennisspielen verabredet war, und fragte neugierig, wie es zu ihrem Unfall gekommen war.
Das anfängliche Sträuben des Polizisten mit dem Hinweis auf den Personendatenschutz entkräftete ich mit der Anmerkung, ich sei der Anwalt der Lektorin und würde versuchen, in ihrem Namen rechtliche Schritte gegen den möglichen Unfallverursacher einzuleiten. „Oder hat sie etwa selbst den Unfall verschuldet?“
„Danach sieht es bestimmt nicht aus“, erhielt ich als erwartete Antwort. Nach der Schilderung einer Zeugin, die am Straßenrand gestanden hatte, war die Lektorin mit ihrem Kleinwagen auf dem vorfahrtsberechtigten Prager Ring unterwegs, als von rechts auf der Gut-Dämme-Straße ein großer Geländewagen mit hohem Tempo in die Kreuzung hineinfuhr. „Nach Mitternacht wird die Ampelanlage ausgeschaltet“, fügte der Polizist zur Erläuterung an. Der Geländewagen erwischte den Wagen am Heck und schleuderte ihn quer über die Fahrbahn. Mit den Reifen auf der Beifahrerseite prallte Leders Fahrzeug auf die Bordsteinkante und wurde in die Luft katapultiert. „Dann flog es in einem hohen Bogen über einen Zaun auf das Gelände eines Stahlgroßhandels, setzte auf, schoss auf einen Baucontainer zu und wurde nach dem Frontalaufprall von dort mit der Fahrerseite in einen Stapel von Eisenträgern geschoben. Die Träger haben sich in den Wagen hineingebohrt“, berichtete der Polizist. „Es ist schon ein Wunder, dass die Frau den Unfall überhaupt überlebt hat.“
Die Schilderung des Unfallhergangs schien mir wenig realistisch. „So etwas kann es doch gar nicht geben, so etwas sehen wir doch nur im Fernsehen“, bemerkte ich zweifelnd.
Der Polizist lachte verbittert. „Sie würden sich wundern, wenn Sie mitbekämen, was alles in der Realität passiert. Die Wirklichkeit ist oft unglaubwürdiger als die Fantasie. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können Sie sich einfach nicht vorstellen, Herr Grundler.“
Bevor wir uns in eine philosophische Abhandlung über das Sein verzettelten, kam ich zum wahren Leben zurück. „Was ist mit dem Unfallverursacher?“
„Unfallflucht. Der ist verschwunden“, antwortete der Polizist lakonisch. „Die Zeugin hat nur mitbekommen, dass es sich um einen dunklen Geländewagen handelt. Sie hat weder Kennzeichen noch Insassen des Fahrzeuges erkannt.“ Er seufzte kurz. „Da können wir wahrscheinlich suchen bis zum Weltuntergang und werden ihn dennoch nicht finden.“
„Hm“, ich rieb mir nachdenklich das Kinn. „Eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen Unfallflucht und dem ganzen rechtlichen Rattenschwanz haben Sie bestimmt schon geschrieben?“, fragte ich und der Polizist bestätigte mich. „Was allerdings wenig Aussicht auf Erfolg haben wird“, fuhr ich ohne Zuversicht fort. „Was glauben Sie, war es tatsächlich ein Unfall oder stand Absicht hinter dem Zusammenstoß?“
Der Polizist wollte mich nicht auf Anhieb verstehen. „War es Zufall, dass der Fahrer des Geländewagens Frau Doktor Leder erwischte oder hat er ihr aufgelauert, um sie abzuschießen?“ Dann wäre diese Tat nämlich nach meiner Auffassung als Mordversuch einzustufen.
„Da muss ich passen“, antwortete der Polizist. „Es sieht für uns zumindest so aus, als handele es sich um einen Unfall, um ein zufälliges, nicht voraussehbares, plötzliches Geschehen. Auch die Aussage der Zeugin lässt nicht darauf schließen, dass jemand die Frau bewusst abgepasst hat.“
Mit dieser Antwort musste ich mich notgedrungen zufrieden geben. Auch ich wollte zunächst einmal von einem Unfall ausgehen. Ein Mordversuch war vielleicht auch etwas zu weit hergeholt.
Andererseits: Die Lektorin hatte Fleischmann gesucht, er musste sterben und wenig später ging es ihr an den Kragen. War das nur Zufall?
„Wird wohl so sein“, vermutete Dieter, mit dem ich die Situation wenig später bei einer Tasse Kaffee besprach. Er reichte mir die AZ über den Schreibtisch. „Du stehst übrigens heute ganz groß im Blättchen“, sagte er und zeigte auf einen Artikel im Lokalteil.
Sümmerling hatte in seinem umfangreichen Bericht über die Ermordung von Renatus Fleischmann tatsächlich mich als Quelle angegeben, aus der er sein Wissen schöpfte, dass der Autor aufgrund des Personalausweises identifiziert worden war.
Diese Passage des Artikels interessierte mich weniger als das, was er weggelassen hatte. Mit keinem Wort ging der Zeitungsmann auf den angeblichen Fingerabdruck ein. Es schien sich dabei tatsächlich um eine Ente gehandelt zu haben.
Dennoch nahm ich den Artikel zum Anlass, den Journalisten in der Redaktion anzurufen. Er sei ja der letzte Hinterwäldler, lästerte ich. „Da passiert in der Nacht am Prager Ring der spektakulärste Unfall aller Zeiten mit einer gekonnten Kunstflugakrobatik und ich lese heute keine einzige Zeile darüber.“ Bevor er protestieren konnte, setzte ich nach. „Habt ihr wenigstens Bilder vom Unfall?“
„Haben wir nicht“, bedauerte Sümmerling verlegen, „das Einzige, das wir haben, ist ein Fax der Polizei von heute Morgen, in dem uns der Unfall geschildert wurde.“
Meiner Bitte, mir dieses Fax zuzufaxen, kam der Journalist gerne nach. Verständlicherweise, und damit hatte ich gerechnet, fragte Sümmerling: „Warum wollen Sie es haben?“
„Weil es sich bei dem Unfallopfer um eine Mandantin handelt. Sie kennen sie auch.“ Ich machte eine kleine Pause. „Es handelt sich um Frau Doktor Renate Leder, eine Journalistin.“
„Kenne ich nicht“, entgegnete der Schreiberling spontan. Für einige Sekunden blieb er still. „Oder doch?“ Es fiel ihm wieder ein. „Wir haben einmal über diese Frau im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Maria Guillot gesprochen. Stimmt’s?“
„So ist es“, bestätigte ich ihm. „Aber Frau Doktor Renate Leder ist nicht nur Journalistin und Freundin von Maria Guillot, sie ist außerdem noch Lektorin.“
„Momang, Momang!“ Sümmerling unterbrach mich aufgeregt. „Wenn Sie so anfangen, weiß ich schon, was folgt. Ich wette mein Weihnachtsgeld darauf, dass diese Frau auch die Lektorin von Renatus Fleischmann ist.“
Er habe mitten ins Schwarze getroffen, lobte ich den AZ-Reporter. Gelegentlich hatte Sümmerling wirklich Lichtblicke, die ihn meine Gedanken erraten ließen.
Ich lockte ihn weiter in meine Richtung. „Glauben Sie mit diesem Hintergrund des Opfers immer noch an einen Verkehrsunfall oder war der Zusammenstoß vielleicht eine geplante Attacke?“ Es sprach zwar nichts dafür, meinte ich insgeheim für mich, aber ich konnte versuchen, den Schreiberling zweifeln zu lassen.
„Das ist bei der Konstellation nicht auszuschließen“, antwortete er aufgeregt. „Das ist zumindest eine Frage, die man einmal in der Zeitung andeuten könnte.“
Ich war zufrieden, so hatte ich mir es vorgestellt. Wenn nichts dran war an meiner Vermutung, würde sich die Geschichte in Wohlgefallen auflösen, wenn ich Recht haben sollte, würden vielleicht einige Mitmenschen unruhig werden. „Ich warte auf Ihr Fax“, sagte ich zum Abschied, „ich bin gespannt, was die Grünen über den tatsächlichen oder vermeintlichen Verkehrsunfall geschrieben haben.“