Alibis

 

 

 

Nach einer unerwarteten, aber wahrlich äußerst angenehmen, mehrstündigen Störung meiner Nachtruhe trottete ich am Morgen ziemlich matt, wenn auch frohgemut zur Kanzlei. Es schien mir an der Zeit, mich dort wieder einmal blicken zu lassen, bevor jemand auf die Idee kam, mir meine Funktion streitig zu machen.

Ich hatte es mir gerade am Abend im Bett bequem gemacht und war eingeschlummert, als das Telefon auf sich aufmerksam machte. Meine Verärgerung schwand auf der Stelle, als sich meine Liebste aus Hamburg meldete.

Sie sei gerade mit Do aus dem Musical „Cats“ gekommen und verspüre Sehnsucht nach mir, säuselte Sabine in den Hörer. Unverzüglich kam danach die Kontrollfrage, die eigentlich immer kam, wenn meine Sekretärin ausnahmsweise einmal nicht den Überblick über meinen Terminkalender besaß: „Und was machst du den ganzen Tag?“

„Nichts Besonderes“, gab ich lässig zur Antwort. Ich setzte mich in meinen Schreibtischstuhl, legte die Füße auf die Tischplatte und berichtete von meinen Erlebnissen, die sich um den toten Fleischmann rankten.

Ungestört ließ Sabine mich reden. Manchmal hatte ich den Eindruck, als sei sie gar nicht mehr in der Leitung oder eingeschlummert, doch beruhigte sie mich auf meine vorsichtigen Zwischenfragen hin. Mein Hals war ausgetrocknet und meine Stimme kratzig, als ich geendet hatte.

„Bei so viel Arbeit kannst du ja gar nicht auf krumme Gedanken kommen“, folgerte meine Liebste schließlich. Sie wolle keine Bewertung meiner Recherche geben, meinte sie. „Aber diese Erzählung ist spannender als mancher Kriminalroman.“ Sabine lachte wohltuend auf. „Außerdem bist du immer unter polizeilicher Kontrolle.“ Ein besseres Alibi könne es nicht für mich geben. Schnell wechselte sie das Thema und berichtete von der Vergnügungsreise mit ihrer Schwester. Sie hätten tolle Sachen eingekauft, alles sei bestens, selbst die Männer würden sich zuvorkommend benehmen. „Ich bringe dir auch etwas mit“, versprach sie mir verheißungsvoll.

„Du brauchst nichts mitzubringen, wenn du zurück bist, reicht’s mir“, brummte ich in meinem Nachtzeug fröstelnd und blickte auf die Uhr. Die Rückkehr von Sabine war während unserer Plauderei über zwei Stunden näher gerückt.

Lange lag ich anschließend wach und ließ mir meine Schilderung noch einmal durch den Kopf gehen. Ich konnte mit mir zufrieden sein. Ich hatte Sabine alles gesagt, was es über diesen Fall zu sagen gab. Lediglich in Bezug auf Renate Leder hatte ich vielleicht einige persönliche Anmerkungen unterschlagen.

 

 

In der Kanzlei herrschte große Verblüffung, als ich erschien. „Welch seltener Gast in unseren Reihen“, lästerte mein Chef, „wir dachten, du kommst die nächste Zeit nicht mehr. Es war richtig gemütlich ohne unseren Sklaventreiber. Deine Kollegen haben deinen Kommandoton überhaupt nicht vermisst.“

Ich verkniff mir die derbe Beleidigung, die mir auf den Lippen lag, und verzog mich in mein Büro. Ich war überrascht über den ordentlich aufgeräumten Schreibtisch, auf dem keine einzige Akte lag. „Was ist hier los?“, fragte ich Dieter, der mir gefolgt war und sich frech grinsend in den Besuchersessel gefläzt hatte. „Bin ich etwa arbeitslos?“

„Nein, mein Freund“, beruhigte er mich. „Ich versuche nur eine Neuorganisation unserer Kanzlei, um dich zu entlasten. Die Kollegen sollen merken, dass es auch ohne dich gehen muss.“ Dieter hatte die Bemerkung als Kompliment gemeint und ich hatte sie auch so verstanden. „Die müssen mehr ran und mehr Verantwortung übernehmen. Die ständige Entschuldigung, du hättest alle Akten an dich gezogen, ging mir langsam auf den Geist. Diese Ausrede gilt nicht mehr.“

Ich setzte mich auf meinen Platz und sah Dieter an. „Und was bleibt für mich überhaupt noch zu tun in diesem Haus, Herr Doktor Schulz?“

„Du spielst den Libero, den Ausputzer, den Mann für alle Fälle. Suche dir aus, was dir am besten gefällt“, antwortete mein Freund. „Du bist zu schade für eine schnöde Bürotätigkeit.“ Er sah mich provozierend an. „Und außerdem bist du sowieso immer unterwegs.“ Er hob beschwichtigend die Arme, als ich protestieren wollte. „Immer im Auftrag unserer Mandanten natürlich.“ Dieter erinnerte mich überflüssigerweise an die vertrackten Geschichten, die wir, aber vornehmlich ich, in den letzten Jahren aufgeklärt hatten. „Jetzt haben wir wieder so einen Fall, unsere bedauernswerte Frau Doktor Renate Leder. Was ist eigentlich mit ihr und ihrem Krimiautor Renatus Fleischmann?“

 

 

Was sollte schon sein? Ich erzählte auch Dieter die Geschichte, die ich in der Nacht schon Sabine vorgetragen hatte, und kam erneut für mich zu der Feststellung, dass ich alles Wesentliche gesagt hatte.

„Hm.“ Dieter hatte sein Kinn auf die Hände gestützt. „Ziemlich chaotisch, oder?“

Ich sah keinen Grund, ihm zu widersprechen. Ich sah jedoch einen Grund, meinen Brötchengeber aus dem Zimmer zu verweisen, als das Telefon klingelte. Ich mochte es nicht sonderlich, wenn mir jemand bei Telefonaten zuhörte, sofern ich nicht ausdrücklich darum bat.

„Ich bin schon weg“, sagte Dieter spöttisch, „einer muss ja die Fälle bearbeiten, die uns das nötige Kleingeld bringen, damit du deinem wenig profitablen Vergnügen nachgehen kannst.“

Die Einladung zum Mittagessen, die Kommissar Küpper aussprach, lehnte ich aus Zeitmangel bedauernd ab, die Informationen, die er mir lieferte, nahm ich hingegen, ebenfalls nicht begeistert, dankend an. Auch wenn mir die neuen Tatsachen nicht in den Kram passten, so waren sie nun einmal in der Welt und mussten notgedrungen in das noch lichte Gefüge des kriminellen Geschehens eingearbeitet werden.

Im Prinzip dienten die Informationen von Küpper nur einem: dem zwielichtigen Bürgermeister Gerstenkorn. „Der hat ein absolut wasserdichtes Alibi“, berichtete mir der Kripomann aus Düren im Brustton der Überzeugung. „Gerstenkorn ist tatsächlich am frühen Abend, als sein Wagen vor der Haustür gestohlen wurde, in Köln-Wahn in ein Flugzeug gen Süden gestiegen und auf seinem Zielflughafen pünktlich angekommen. Er hat sich für die Nacht in einem Hotel eingeschrieben und hat dort auch übernachtet, während in seiner ehemaligen Heimat der Dieb mit dem Geländewagen durch die Gegend kutschierte.“ Der Kommissar legte eine kleine Pause ein, um seine Gedanken neu zu sortieren. „Wahrscheinlich ist der Dieb unverzüglich von der Rur nach Aachen gefahren und hat sich dort an der Kreuzung auf die Lauer gelegt, um Frau Doktor Leder zu erwischen.“

Ich fragte nicht nach, wie Küpper zu diesem Wissen gekommen war. Böhnke hatte ihn mit Sicherheit aufgeklärt, nahm ich an. Der Rest war reine Ermittlungsroutine gewesen. „Anschließend ist der Wagen irgendwo versteckt worden. Wir müssen jedenfalls davon ausgehen, dass er nicht sofort zum Fundort in Erkelenz gefahren wurde.“

,Mithin’, so dachte ich mir, ,wurde er noch für andere Zwecke gebraucht.’ Vielleicht waren damit die Unbekannten unterwegs gewesen, die bei Wagner und in Eschweiler zu Werke gegangen waren. War es Zufall, dass ausgerechnet Gerstenkorns Wagen gestohlen wurde, um damit einen vorgetäuschten Unfall zu verursachen? Oder war der Mensch, der Renate ausschalten wollte, über Gerstenkorns Absichten bestens im Bilde gewesen? Hier konnte ich eventuell nachhaken.

 

 

„Damit dürfte Gerstenkorn wohl aus dem Schneider sein“, bemerkte Küpper durchaus bedauernd. „Ich sehe diesbezüglich jedenfalls keine Handhabe gegen ihn.“

Die Bemerkung machte mich hellhörig. „Wenn Sie diesbezüglich sagen, haben Sie bestimmt noch einen zweiten Pfeil im Köcher. Stimmt’s?“ Die Überprüfung des Kontos würde uns möglicherweise weiterhelfen, gab ich zu bedenken.

Der Kommissar musste schmunzeln. „Sie legen auch jedes Wort auf die Goldwaage, Herr Grundler.“ Aber er müsse mich vorerst enttäuschen. „Ich arbeite noch dran“, versicherte er. „Die Überprüfung eines nicht mehr aktiven Kontos ist eine Angelegenheit, die mit sehr viel Vorsicht zu betreiben ist.“

Was er umständlich formulierte, hieß nichts anderes, als dass er mit nicht immer legalen Mitteln versuchte, die Kontobewegungen zu rekonstruieren.

„Sie haben noch nichts gefunden?“, fragte ich. „So ist es“, bestätigte mich Küpper, „aber das bedeutet nicht, dass ich meine Bemühungen einstelle. Ich arbeite daran.“

„Warum eigentlich?“, platzte ich heraus.

„Wegen des Maulwurfs natürlich.“ Küpper räusperte sich, anscheinend war er mit seiner Antwort selbst nicht einverstanden, denn er rang sich zu einer Erklärung durch. „Nennen Sie es meinetwegen meine persönliche Angelegenheit oder einen Freundschaftsdienst für Böhnke. Ich wäre froh, einem hinterhältigen, nur auf sich fixierten Politiker, wie es Gerstenkorn für mich ist, eins auswischen zu können, auch wenn es nicht zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommen sollte.“ Küpper gab sich entschlossen und ich wollte nicht nachfragen, was ihn zu diesem Eifer veranlasste. ,Das ist wahrlich seine eigene Angelegenheit, nicht meine’, dachte ich mir meinen Teil.

Küpper wollte schon zum Abschluss des Telefonats kommen, als mir noch eine Frage in den Sinn kam. „Vielleicht können Sie mir helfen, vielleicht muss ich mich an Böhnke wenden, aber eine Sache interessiert mich noch: Ist untersucht worden, ob der Geländewagen von Gerstenkorn am Lahey-Park gestanden hat?“

 

 

Der Kommissar aus Düren musste lachen. „Sie sind gut, Herr Grundler. Über diese Frage hat mein Kollege Böhnke mit mir auch schon diskutiert. Aber ich muss Sie enttäuschen, kein Reifenabdruck auf dem Parkplatz der Anlage passt zu Gerstenkorns Fahrzeug.“ Das spräche zunächst dafür, dass der Wagen nicht beim Wegbringen der Leiche Fleischmanns benutzt wurde. Es könne aber auch sein, dass die Spuren nicht mehr zu finden waren, weil sie von anderen verdeckt wurden.

 

 

,Was konnte ich mit Küppers Informationen anfangen?’, fragte ich mich. Sie deuteten alle darauf hin, dass ich Gerstenkorn aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen musste. Der Mann, den ich nicht kannte und der mir dennoch unsympathisch war, hatte seinen Kopf aus allen Schlingen gezogen. Selbst wenn er mit dem Mord an Fleischmann nichts zu tun haben sollte, so blieb er für mich ein Krimineller, wenn ich unterstellte, dass die Romane Fleischmanns den Tatsachen entsprachen. Gab es überhaupt kein Mittel, diesen korrupten Kerl zu überführen? Ich wunderte mich, dass mir Gerstenkorn zu der Zeit, in der ich in Düren gelebt hatte, nicht aufgefallen war. Vielleicht lag es daran, dass ich mich damals nicht sonderlich für die Kommunalpolitik interessiert hatte. Ich würde Renate nach Gerstenkorn fragen. Hoffentlich kam die Frau bald wieder auf die Beine.

Ich kam nicht dazu, lange meinen Gedanken über Gerstenkorn und Renate nachzuhängen. Böhnke hatte das dringende Bedürfnis, mich wiederzusehen.

„Ich hole Sie nach der Mittagspause ab, Herr Grundler“, bestimmte er. „Wir werden dann einen guten Bekannten besuchen.“

„Wen denn?“, fragte ich neugierig.

„Meinen Kollegen Bloemen.“

Mit dieser Antwort musste ich mich für den Augenblick begnügen. Bloemen war ein Kommissar der niederländischen Polizei, den ich im Zusammenhang mit den Attentaten bei der Karlspreisverleihung kennen und schätzen gelernt hatte.